Champs de bataille

Nicht im TGV nach Paris
Doch auf der Autoroute
Erfährt jeder Reisende:
Felder und Wälder waren
Einst die Champs de bataille

Wenig zeugt noch von
Den Schlachten
Den Stellungskriegen
Der sinnlosesten Sinnlosigkeit
Menschlichen Verbrechens

Ein paar Schilder nur
Wer hier stoppt, sieht eine
Armee von weißen Kreuzen
Bald passé beim Shoppen
Auf der Champs-Élysées

©Martin Bensen

Die über allem thronen (Gastein)

Reisesplitter IV

Über allem thronen die, denen es an nichts mangelt, nicht ganz auf dem Gipfel, dem nur kargen und schroffen, zu weit droben, den man gut im Rücken wissen kann, weil sie doch so hoch thronen, dass sie über die Baumwipfel hinweg ins Tal blicken können, auf die Spielzeughäuser, die Matchboxautos in einem schrägen Spinnennetz von Straßen, mittendrin eine kleine gelbe Kirche mit spitzem Turm, der sich hoch gen Himmel reckt und doch längst nicht die überragt, die über allem thronen, denen es an nichts mangelt, die auch eine Krise überstehen, was nicht ausgemacht ist für die da unten,
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Kuckuck

Reisesplitter II

An diesem Morgen steht der Wind anders. Die Ostsee ist heute nicht zu hören. Anders als in den vergangenen Tagen, als Unwetter weiter draußen ungewöhnlich hohe Wellen an den Strand rollen ließen und auflandiger Wind das Meeresrauschen über den weitläufigen Rübenacker bis zu uns in den Park trug. Wir wohnen in einem Gutshaus. Es ist ein schöner Platz, weit weg vom touristischen Treiben in Kühlungsborn. Leider ist es zu frisch für ein Frühstück auf der Terrasse mit dem Blick eben über den grünen Acker zu einem kleinen See und der blauen Ostsee dahinter. Weiterlesen

Hals und Bauch

Reisesplitter I

Das also ist der „Wustrower Hals“. Ein schmaler Landstreifen zwischen Salzhaff und Ostsee in der Mecklenburger Bucht, der zur Halbinsel Wustrow führt, berühmt-berüchtigt als Militärstandort in der Nazi-Zeit und danach unter russischem Kommando bis Anfang der 1990er Jahre. Wir freuen uns auf die Führung durch die Ruinen der abgesperrten Halbinsel, auf der die Zeit seither stehengeblieben ist und wuchernde Natur das Regiment übernommen hat. Aber zurück zum Hals. Weiterlesen

Am Ziel

Ein letztes Aufbäumen tief in seinem Inneren, ein letzter Funke von Widerwillen, dann ist alles gut. Jetzt wird Frieden sein. Eine gnädige Schläfrigkeit übermannt ihn, lässt ihn endgültig vergessen, dass er unter Drogen steht. Sie stellen seinen Körper ruhig, seit Tagen schon. Oder sind es Wochen? Er hat kein Empfinden mehr für Zeit oder für den Ort, an dem er ist, noch erinnert er sich daran, wie er hierher gekommen ist. Wenn er überhaupt noch einmal erwachte, würde er vielleicht nicht mehr wissen, wer er ist. Weiterlesen

Stink-Bus

This has to be the disease for you
Now scientists call this disease
Bromidrosis
But us regular folks
Who might wear tennis shoes
Or an occasional python boot
Know this exquisite little inconvenience
By the name of:
STINK FOOT

(Frank Zappa)

An der unwirtlichen Seite des Vorstadtbahnhofs standen vermummte Reisende im fahlen Licht der Straßenlaternen wie Untote. Die meisten hatten sich an die Mauer des alten Gebäudes oder in eine andere halbwegs windgeschützte Ecke gedrückt. Etwa an den verlassenen und verrammelten Imbisswagen, dessen mannshoher Weihnachtsbaum noch leuchtete, aber unglücklicherweise umgekippt war und nun am Boden liegend ein trauriges Bild abgab. Niemanden kümmerte das. Vom S-Bahnhof her kam genügend Licht, um auf dem eReader lesen zu können, die Smartphones warfen ihren eigenen Schein in die müden Gesichter der Wartenden. Auch in meines.

Kurz vor Mitternacht, als endlich der Bus mit aufheulendem Motor vorfuhr, kam Bewegung in die verdrucksten Gestalten, Rollkoffer grollten lautstark über den Asphalt, halb aufgerauchte Zigaretten wurden weggeworfen, schnell stand ein ganzer Pulk vor der geöffneten Ladeluke. Ein quirrliger Busbegleiter in Dienstuniform gab Kommandos, stellte sich dann vor die Tür und scannte die Tickets ein. Ich hatte nur einen Rucksack für das Nötigste dabei, um mich frisch machen zu können für den Tag in meiner Zielstadt, an dem ich schon nachmittags wieder meine Rückreise antreten würde – dann aber mit dem Zug. Nun gut, unten waren schon alle Plätze besetzt, oben stand die Luft, wenigstens war es warm. Warum das so war, wurde mir schnell klar: die meisten Plätze waren belegt. Ich hatte Glück, ergatterte weiter vorne tatsächlich noch eine Doppelreihe, stellte meinen Rucksack demonstrativ auf den Fensterplatz, setzte mich der langen Beine wegen auf den Sitz zum Gang, um mich sogleich aber schräg über beide Plätze zu legen. Auf diese Weise hoffte ich, den geringen Komfort so lange wie möglich zu verteidigen.

Der Motor sprang an, das Licht erlosch, noch im Anrollen des Busses kuschelte ich mich mehr schlecht als recht gegen Jacke und Rucksack, um wenigstens ein bisschen zu schlafen. Morgen würde ich erst wieder im Zug zur Ruhe kommen und mein Termin war zu anstrengend, um die Nacht davor durchzumachen. Draußen war ohnehin nichts zu sehen, es hatte zu regnen begonnen, dicke Tropfen prasselten auf das Glasdach, verliefen an den Fenstern zu beinahe waagerechten Schlieren, hinter denen es immer wieder von Häusern und Straßenlaternen irrlichterte. Weiter im Norden war Schnee vorhergesagt, ein Grund mehr, warum ich auf den Nachtbus ausgewichen war. Ich durfte nicht zu spät kommen und hatte berechtigte Sorge, mit der wenig winterfesten Bahn schon am frühen Morgen zu scheitern oder mich mit zwei langen Autofahrten an einem Tag zu überfordern. Dass die Busfahrt wenig Entspannung bringen würde, sollte ich schon bald merken.

Ich musste tatsächlich eingeschlafen sein. Als das Licht anging, wusste ich einen kurzen Moment nicht, wo ich war. Dann kam schon die Stimme des Busbegleiters aus dem Lautsprecher. In gebrochenem Deutsch machte er darauf aufmerksam, dass wir unser erstes Zwischenziel erreicht hätten. Die Stimme bekam einen hektischen Drall, wurde lauter, bestimmender. Fast im Befehlston forderte sie die Fahrgäste auf, sitzen zu bleiben. Man sei spät dran und habe keine Zeit für eine Raucherpause. Mein Nebenplatz blieb weiter frei, offenbar waren meine ausgestreckten langen Beine und mein zerknittertes Gesicht abschreckend genug. Die ältere Dame hinter mir hatte ebenfalls Glück, ihre Technik bestand aus einer unschuldigen, fast embryonalen Schlafstellung über beide Sitze hinweg, wer wollte sie da stören? Rechts vor mir hatte sich ein bulliger, langbärtiger Mann einen Gangplatz erobert. Die Gegenwehr des jungen Sitznachbarn war schon im Ansatz zum Erliegen gekommen, als der Neuankömmling „Platz frei“ weniger fragte als anordnete. Der Bulle saß jetzt da wie ein Patriarch, kerzengerade und erhobenen Hauptes, den Blick starr nach vorne gerichtet. Seine zweifellos muskuläre Masse hatte sich perfekt in die Kontur des Sitzes geschmiegt. So sollte er den größten Teil der Fahrt ohne nennenswerte Regung bestreiten und mir den einen oder anderen neidvollen Blick abringen. Denn ich kämpfte um Haltung auf den für meine Größe viel zu engen Sitzen. Auch wenn ich beide für mich hatte, konnte ich keine auch nur halbwegs erträgliche Position erzielen, egal wie ich mich drehte und legte. Schon bald spürte ich Schmerzen in Nacken und Rücken, verlagerte meine Sitzposition ständig von der linken zur rechten Pobacke, sobald die eine taub zu werden drohte. So war an Schlafen nicht zu denken.

Dachte ich, denn als das Kabinenlicht erneut anging, rieb ich mir wieder meine müden Augen, kam die Information wie von Ferne an mich heran, dass wir die nächste Stadt erreicht hätten. Die Raucher wurden abermals vertröstet und so richtete sich ihr Sehnen auf die darauffolgende Station. Hier wurde es richtig voll. Der Busbegleiter erschien oben, um die letzten freien Plätze auszumachen. Jetzt war es auch um meinen Nebensitz geschehen. Mit viel Glück konnte ich abwenden, dass sich ein nach Bier und Rauch stinkender, lallender Mann mit Plastiktüte neben mich setzte. Unglücklicherweise bekam er den Sitz hinter mir, die Dame hatte ein Einsehen gehabt, aber wohl auch auf einen angenehmeren Zeitgenossen gehofft. Ich blickte zwischen die Sitze hindurch nach hinten, sah ihren genervten Blick, während sie die Zwischenlehne herunterklappte und mit ihrem zierlichen Körper schließlich ganz ans Fenster rückte. Im Gang vor mir stand eine junge Frau – meine Chance. Ich zupfte an ihrer nassen Winterjacke und bot ihr den Fensterplatz neben mir an. Sie brauchte eine Weile, um ihre Sachen zu verstauen. Doch kaum saß ich wieder, hatte sie sich schon zur Seite gedreht. Da ich vergessen hatte, die Lehne zwischen ihr und mir auszuklappen, geriet ich in eine fast schon pikante Situation. Meine neue Sitznachbarin musste sehr müde sein, denn wenig später hörte ich ihre regelmäßigen Atemzüge, während sich ihr Hintern immer stärker gegen meine Hüfte drückte. Ein Dagegenhalten, ging mir durch den Kopf, verbot sich wohl, denn wer weiß, ob sie das nicht missverstehen würde. Ich beschloss, den Körperkontakt dem engen Platz zuzuschreiben, was ja auch nicht falsch war, und versuchte einzuschlafen. Der nächste Halt würde erst wieder in zwei Stunden sein, die Busfahrer hatten gewechselt und auch die Ausgabe von Snacks und Getränken war mit wenig Vorwarnung eingestellt worden. Eine friedliche Ruhe würde sich über die Reisegruppe legen, dachte ich, und sollte mich leider täuschen.

Hinter mir wurde es laut. Die Dame protestierte kurz aber energisch. Offenbar war ihr betrunkener Sitznachbar gegen die Schlafende gesackt. Es folgte eine lallende Schimpftirade, die bald dem Öffnen einer weiteren Bierdose, harten Schluckgeräuschen und einem herzhaften Rülpser weichen sollte. Mir war immer klar, dass es himmelweite Unterschiede zwischen einzelnen Biermarken gibt. Aber dass ein Bier so schlecht sein konnte, machte mir erst der Dunst klar, der mich fortan umnebeln würde: Allem Anschein nach war das Bier noch nicht fertig gebraut, es roch wie im Stuttgarter Süden, wenn die örtliche Brauerei wieder Maische ansetzte. Leider kam es noch schlimmer. Zuerst dachte ich die bordeigene Toilette hätte ein Leck, doch dann meldete sich der Busbegleiter noch einmal mit einer Durchsage: „Sie habbe gemerkt-e: Unser Bus stinkt-e. Wer Schuhe ausgezoge, bitte wieder anziehe! Wer gute Parfüm hat, bitte – bitte! – benutze! In Bus rein sprühe!“ Nein, bitte nicht auch noch schlechtes Parfum, ich hatte kein Zutrauen zu meinen Mitfahrern, dachte an Altmänner-Rasierwasser vom Discounter, an Sprühdosen-Deo, Kölnisch Wasser und weihrauchschwere Damendüfte. Was würde schlimmer sein?

Hinter mir rumorte es wieder, in der Zwischenzeit hatte es mindestens fünfmal gezischt und geklickt. Aber die Bierwolke kam nicht mal mehr gegen den Gestank der Schweißfüße an, Parfum hatte wohl niemand greifbar gehabt. Den Betrunkenen schien das nicht zu stören, er grummelte etwas von „Scheiß-Typen hier“, von der schlechten Welt und davon, dass er nicht schlafen könne. „Was willste machen, ey, in dem Scheiß hier“, lallte er, nahm ein paar Schlucke und rülpste in das stinkende Schweigen, das nur leise vom eintönigen Brummen des Motors und dem regennassen Rauschen der Reifen untermalt wurde. Der angekündigte Schnee war offenbar ausgeblieben. Ich machte jetzt, was ich vor vielen Jahren bei der Bundeswehr gelernt habe, ich nahm die Situation vollständig an, ergab mich ihr und ließ innerlich los. So schlief ich mit allerlei Gestank in der Nase, einem grummelnden Hintermann, schnarchenden Nebensitzern zur Rechten und meiner aufdringlichen Nachbarin zur Linken schließlich doch noch ein.

An der vorletzten Station stieg der halbe Bus aus, auch meine hübsche Begleiterin, die trotz der körperlichen Nähe gleichwohl kein Lächeln und gerade mal ein dürres Tschüs für mich übrig hatte. Dafür freute ich mich auf die neu gewonnene Beinfreiheit. Auch der Trinker wechselte den Platz, ließ sich zwei Reihen weiter vorne in die Sitze fallen und schnarchte bis zu meiner Zielstadt durch. Ich blieb wach, überlegte, wie ich die Zeit zwischen der frühen Ankunft und meinem Termin überbrücken könnte, freute mich eigentlich auch schon wieder auf die Heimfahrt. Als ich endlich an die frische Luft kam, dämmerte der Wintermorgen, am Himmel stand noch der Mond. Ein schwerer Tag lag vor mir. Was war da schon eine Fahrt mit dem Stink-Bus…

©Martin Bensen

Life is a one way ticket

Zugfahren ist immer noch die lässigste Art zu reisen. Ohne etwas tun zu müssen auf einem vorgegebenen Weg durch die Gegend gleiten, mal schneller, mal langsamer, an fremden Orten halten, Menschen kommen und gehen sehen, sie begrüßen, mit ihnen ins Gespräch kommen und wieder von ihnen Abschied nehmen – während Landschaft vorüberzieht und Zeit vergeht. Eine Zugreise ist wie das Leben. Oder doch nicht? Einmal begab es sich, dass mir das Gefühl dieses einen Weges, ja sogar meines Lebens selbst, verloren ging. Ausgerechnet auf einer Zugreise.

Mein Zug hielt in einem kleinen Ort, mitten im Nirgendwo, ich hatte die letzte Etappe verschlafen, das ganze Abteil immer noch für mich. Bis die Tür aufging und eine zierliche Frau mittleren Alters mit freundlicher Stimme fragte, ob noch ein Platz frei wäre. Ich deutete mit einer einladenden Handbewegung auf die fünf unbesetzten Plätze, die Frau dankte und setzte sich ohne Zögern mir gegenüber ans Fenster. Das machte mich etwas verlegen, ich schaute nach draußen und dann wieder verstohlen zu ihr, sie hatte nur eine Handtasche dabei, die sie auf dem Nebensitz abgelegt und keines Blickes mehr gewürdigt hatte. Ich starrte weiter krampfhaft aus dem Fenster, realisierte aber etwas zu spät, dass wir in einen Tunnel einfuhren und sich plötzlich mein Gesicht direkt vor mir spiegelte. Das war mir zu dumm und ich wandte meinen Blick der Frau zu.

Sie hatte mich die ganze Zeit offen angeschaut, jetzt lächelte sie aus ihrem strengen, aber durchaus attraktiven Gesicht. Ihre dünnen, ungeschminkten Lippen formten ein schmales, sparsames Herz, darüber stach eine markante, leicht gebogene Nase hervor, ihre Augen lächelten nicht mit – eisgrau waren sie, blickten mich starr an. Ihre ganze Erscheinung, der dünne Hals, das schmale Gesicht, die streng zurückgebundenen hellblonden Haare, wirkten auf mich mit einem Mal gefährlich. Zu spät – mir wurde schwindlig, ich hatte Unterdruck in den Ohren, was mir oft passiert bei schneller Fahrt durch einen Bahntunnel, den wir in dem Moment schon wieder verließen, als die Frau mich ansprach. Ihre Stimme wirkte verändert, die Worte kamen langsam aus ihrem Mund, bleiern…

„Du denkst, du bist ein guter Mensch? Auch dein Leben schafft nie nur das Gute, sondern immer zugleich das Böse…“ Eine seltsame Lähmung erfasst mich, die Welt um mich herum beginnt, sich in Wellen aufzulösen, in meinen Ohren hallt die Stimme der Frau nach, ihre Gestalt wirkt plötzlich größer, mächtiger. Ihre Pupillen sind geweitet, haben die eisgraue Iris fast verdrängt. Während ich mich weiter versteife, flackert fahles Licht in den Augen vor mir auf. Erst kann ich nichts erkennen, dann werden die Bilder immer größer, verschmelzen zu einem Film auf einer Leinwand. Doch sie laufen rückwärts, bekannte Bilder, Bilder meines Lebens – sie saugen mich auf. Ich wirble durch einen flimmernden Strudel, im nächsten Moment falle ich – dann kommt alles zum Stillstand und ich lande abrupt auf etwas Weichem. Verwirrt starre ich auf eine gelb angeleuchtete Zimmerdecke, blicke panisch um mich.

Das gibt es doch nicht! Ich erkenne alles sofort wieder, liege auf dem Bett in meiner Studentenbude. Der Wecker neben mir, mein alter brummender, längst entsorgter Radiowecker zeigt Datum und Uhrzeit in roter Schrift: Es ist jener Samstag im Herbst 1985, der Tag, an dem – davon bin ich bis heute überzeugt – mein Leben beinahe ein Ende fand und dann doch erst richtig Fahrt aufnahm. Noch nach all den Jahren sehe ich deutlich vor mir, wie ich dalag, mich plötzlich das bange Gefühl von etwas Übermächtigem überkam und ich mit einem Mal wusste, dass ich mich entscheiden musste. So liege ich also wieder hier, sehe mich abermals vor dieser Entscheidung: Mein Leben jetzt und hier „zurückzugeben“ (dieses Wort drang damals in mein Bewusstsein) oder aufzustehen und es endlich in beide Hände zu nehmen. Ich hatte mich in jenem Semester gehen lassen, keinen klaren Gedanken mehr fassen können, sämtliche Seminare geschmissen und meine ganze Zeit auf Partys, mit belanglosen Flirts, Alkohol und Zigaretten, mit dem Auskurieren zahlloser Rauschzustände verbracht. Ohne Haltepunkt, ohne Ziel, eher harmlos war ich und wurde von manch enttäuschtem Abenteuer doch schon mal als „liebenswürdiges Arschloch“ verflucht. Mein Leben kam mir damals nutzlos vor. Stehe ich wieder vor dieser Entscheidung? Bin ich jetzt bereit, mein Leben „zurückzugeben“ (an wen oder was eigentlich?) und damit alles, was dann kam, null und nichtig zu machen? Aber was wird dann? Wird es all die Menschen nicht geben, die ich heute kenne und liebe, meine Kinder, die ich ja selbst mit ins Leben gesetzt habe? Angst packt mich. Keine Angst vor dem Sterben, nein, Angst vor dem Leben, das wieder vor mir liegt. Das ich schon kenne und nicht noch einmal leben will, jedenfalls nicht mit meiner ganzen Erinnerung daran.

So hart das Schicksal zuschlagen kann, so gnädig ist es, uns erst im Moment seines Wirkens die Konsequenz spüren zu lassen – oder eben gar nicht mehr, im krassesten, vielleicht gnädigsten Fall… Hier und jetzt ist es anders. Das Schicksal spielt mit mir, stößt mich erneut auf eine Entscheidung, die ich längst getroffen hatte und die ich bis heute auch nicht bereue. Wut steigt in mir hoch, macht mich trotzig: Was ist denn, du Arschloch von einem Schicksal, was ist, wenn ich mich jetzt tatsächlich anders entscheide? Wahrscheinlich verhöhnt es mich gerade, denn auch jetzt hält mich etwas zurück. Na klar, zuletzt ist es immer der unbedingte Lebenswille, die instinktive Kraft in jedem Lebewesen – nicht einfach gehen, sondern leben, nicht einfach geschehen lassen, sondern machen, weiter und immer weiter! Von Ferne dringt wieder diese Stimme in meinen Kopf… „immer zugleich das Böse“… Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, mich an möglichst viele Einzelheiten zu erinnern, sehe, wie alles begann, als ich vor Schreck, tatsächlich mein Leben lassen zu können, ganz bewusst und mit einem beseelten Gefühl auf dieses Fest ging, die Frau kennenlernte, die meinem Leben eine neue Richtung gab. Ich sehe alles vor mir: Liebe, Leidenschaft, Streit, hochgeistige und abscheulich erniedrigende Diskussionen, schließlich den sang- und klanglosen Abschied in einer Stadt, in die ich ihr gefolgt war, in der ich mich jäh entwurzelt und sehr einsam gefühlt hatte. Um auch aus dieser Krise heraus in mein jetziges Leben zu gleiten…

„Nein, du kannst sie nicht mehr fragen.“ Die Stimme löste meine Lähmung, ich war nicht mehr in dem Zimmer meiner Vergangenheit, die Geräusche des fahrenden Zuges kamen wieder in Wellen zurück. „Ja“, hörte ich mich murmeln, „und das bedauere ich sehr.“ Weniger über ihren viel zu frühen Tod habe ich getrauert, als darüber, nicht noch einmal mit ihr geredet zu haben. Vielleicht hätte ich mein schlechtes Gewissen, sie dieses eine unwiderrufliche Mal so sehr verletzt zu haben, etwas erleichtern können. Vielleicht hätte sie mir verziehen. Womöglich hatte sie, ohne dass ich es weiß. Aber die Zeit war so schnell vergangen und irgendwann war alles schon so lange her, ich wurde schließlich gebraucht, in meinem neuen Leben, einem Leben, das sie als spießig empfunden und rundweg abgelehnt hatte. Bis zu der schrecklichen Nachricht, überbracht von einem unserer alten Freunde, die sich nach unserer Trennung von mir abgewandt hatten, habe ich nichts mehr von ihr gehört – mich aber auch nie darum bemüht, denn zu tief saß wohl jenes diffuse Unbehagen über all die Jahre des scheinbaren Vergessens…

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Die Frau gegenüber lächelte. Die Sonne schien auf ihr blondes, jetzt offenes Haar, ihre gar nicht mehr eisgrauen Augen lächelten nun auch, so wie ihr Mund, das freundliche Herz ihrer Lippen. Wahrhaftig eine schöne Frau. „Mögen Sie?“ Sie hielt mir einen Apfel hin. Verdattert wie ich war, griff ich zu, biss aber, anders als sie, nicht hinein. Sie kaute gedankenverloren, schluckte ihren Bissen schließlich hinunter und wandte sich mir freundlich zu: „Finden Sie nicht auch, unser Leben ist eine spannende Reise? Wenn wir uns, wie jetzt mit diesem Zug, entscheiden, zum Ziel unserer Wahl zu fahren, kann uns vielleicht ein Unglück treffen. Doch eher wird uns eine Verspätung aufhalten, eine Panne das Ziel nicht erreichen lassen. Höhere Gewalt? Vielleicht. Aber wir müssen uns ja dazu verhalten. Wenn wir kurzentschlossen doch noch aussteigen, werden wir einen anderen Weg einschlagen, uns dann mal mehr, mal weniger anstrengen. In jedem Fall wird unser Leben in dem Moment buchstäblich eine andere Richtung nehmen. Solange wir leben, entscheiden wir, ob und wie wir handeln oder reagieren – oder ob wir einfach nichts tun. Alles aber hat eine Wirkung. Und die können wir nur noch bedingt beeinflussen.“ Sie biss noch einmal herzhaft in ihren Apfel und schaute aus dem Fenster. „Aber wenn ich nie weiß“, entfuhr es mir, „was aus meinem Handeln folgt, auch wenn ich bester Absicht bin, wie kann ich je verhindern, dass andere nicht doch darunter leiden, selbst wenn ich fest davon überzeugt bin, alles richtig gemacht zu haben?“ Sie lächelte mich wieder an, diese zauberhafte Frau. „Überzeugt mögen Sie davon sein, aber wissen Sie denn wirklich, ob Sie alles richtig gemacht haben? Was heißt denn ‚richtig‘, für wen oder was ist es das? Was sie tun, können sie nicht mehr ändern, es ist geschehen. Sie können einen Fehler korrigieren, dennoch haben Sie den Fehler gemacht und er wirkt womöglich stärker als alles Wiedergutmachen. Wie heißt dieser alte Blues-Song: ‚Life is a one way ticket’…“ Ihre Augen blickten mich zugleich verträumt und offen an. Ich hatte den Impuls, sie zu berühren, diese liebenswerte, kluge, starke Frau. Sie schien meine Gedanken zu erraten, schenkte mir ein strahlendes Lächeln. „Ich bedauere es fast ein bisschen, aber leider muss ich hier aussteigen.“ Und schon griff sie nach ihrer Handtasche. „Bleiben Sie mutig! Es kommt wie es kommt, folgen Sie Ihrem Herzen, bleiben Sie fair, auch zu sich selbst. Und noch eins: Das Leben ist zu kurz, um nur zu schauen, ob Sie ein anderes, besseres verpassen könnten.“ Sie zwinkerte mir zum Abschied zu.

Fast unmerklich war der Zug zum Stehen gekommen. Ein weiterer kleiner Bahnhof, an dem erstaunlich viele Menschen aus- und einstiegen. Wunschziel für manche – wie für diese besondere Frau. Draußen auf dem Bahnsteig sah ich sie noch einmal, wie sie mit einem fröhlichen Hüpfer in die Arme eines Mannes sprang, sich lachend von ihm hochheben und küssen ließ. Ohne einen weiteren Blick Richtung Zug spazierte das Paar eng umschlungen in Richtung Ausgang, in der Hand des Mannes schlenkerte lässig eine Flasche Sekt. Dann waren beide vollends in ihrem Leben verschwunden.

Der Zug fuhr wieder an. Jetzt freute ich mich auf Zuhause. Herzhaft biss ich in den Apfel, er war süß und saftig. Alles andere hätte mich auch gewundert. Hoffentlich hatte der Blumenladen noch offen…

©Martin Bensen