Traumgesichte (VIII): Der Mond verschwindet

„Wenn ich es dir doch sage!“ Was sollte ich noch tun, um sie zu überzeugen? Warum muss ich das überhaupt noch nach dreißig Jahren?
„Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr.“ Sie wirkt erschöpft. Ihr Blick ist müde. Sie sieht an mir vorbei nach draußen. Wir sitzen im Esszimmer, unser Tisch steht direkt vor dem großen Panoramafenster. Da draußen steht er: ein gelber Mond an einem tiefblauen Himmel zwischen Tag und Nacht. Die blaue Stunde – unsere blaue Stunde. Wie oft haben wir uns in sie gehüllt, wie in eine flauschige Decke. Hüllenlos. Uns geliebt. Uns zum ersten Mal geküsst. Die blaue Stunde war der Anfang. Ein Zauber. Und unser Glücksbringer. Aber das Glück hat uns verlassen. Der Mond wird das auch tun. Warum glaubt sie mir nicht?

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Traumgesichte (VI)

Endlich klappt es mit dem Laden. Lange hat eine Freundin von uns gesucht, gefeilscht und sich mit den Behörden herumgeschlagen. Heute sitzen wir zum ersten Mal in ihrer „Waffles Bakery“. Nein, nicht in dem neuen Lokal, sondern draußen. Es ist eine laue Nacht hier in Manhattan, die Außenbeleuchtung ist noch nicht installiert. Nur eine nackte Glühbirne hängt da, aber New York hat immer genügend Licht für alle. Weiterlesen

(Kein) Herbstlied

Herbst du Zeit der Neige
Du fades Zwischenspiel
Lass nur alles fallen was
Uns lieb und teuer war

Herbst du Zeit der Fäulnis
Du schaler Rest vom Fest
Lass nur das verwesen was
Uns Genuss und Leben war

Herbst du Zeit des Abschieds
Du blasser Abgesang
Lass nur das verklingen was
Dir nie ein Lied sein wird

©Martin Bensen

Untergang kann jeder

Als das Sonnenlicht ins Rötliche wechselte, begaben sie sich an den Strand, weit weg von den letzten Badegästen, die nun auch ihre Sachen zusammenpackten. Die Beiden hielten sich an den Händen, gingen bedächtig, in einem wiegenden Gleichschritt, als würden sie tanzen, ihre Gesichter dem Meer zugewandt und der Sonne, die sich allmählich mit Dunst umhüllte, langsam blutrot wurde und bald nur noch knapp über dem Horizont stand. Aus der Ferne betrachtet schienen sie ein glücklich verliebtes Paar zu sein, das sich in diesem Augenblick, immer noch an den Händen haltend, in den Sand setzte.

Sie zitterte, hielt seine Hand noch fester, als sie sich in den warmen Sand niederließen. Er erwiderte ihren Händedruck und als sie eng aneinandergeschmiegt saßen, legte er seinen Arm um sie. Er hatte nichts dabei, um sie zu wärmen, doch er wusste, dass sie nicht vor Kälte fror. Es war ihr letzter Abend.

Sie hatten beschlossen, diesen Abend und die Nacht über vollkommen allein zu sein. An einem Ort, wo sie niemand stören und wo es schön sein würde. Sie liebten beide das Meer, vor allem dann, wenn sie es nur für sich hatten. „Lass uns die Nacht am Strand verbringen, uns noch einmal richtig haben, voll und ganz bei uns sein, eins sein, bis der Morgen graut…“, hatte er gesagt und mit abwesender Miene gemurmelt: „Untergang kann jeder.“

Sie hatte sofort eingewilligt, wollte jede Sekunde mit ihm genießen. Schließlich war es nicht sie, die so entschieden hatte, obwohl auch sie einsah, dass sie nicht zusammenbleiben konnten. Wie oft war sie in Gedanken alle Möglichkeiten durchgegangen, hatte von einer einsamen Insel geträumt, auf der es nur sie beide geben würde. Ja, sogar an Weitergehendes hatte sie gedacht, doch dazu wäre sie niemals wirklich in der Lage gewesen.

Er hatte ihre dunklen Gedanken wohl erahnt, aber so sehr er auch bekundete, sie zu lieben und ihr mit jeder Geste, jeder Berührung so viel Nähe und Wärme gab, so wenig vermochte er sie aufmuntern. Wie denn auch? Ihre Beziehung war zum Scheitern verurteilt, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Und so versuchte er „stärker“ zu sein, das Schicksal „wie ein Mann“ zu nehmen, überhaupt das Schicksal entscheiden zu lassen. Er glaubte daran, auch wenn er wusste, dass es nicht damit getan war, nichts zu tun. Handeln oder nicht handeln waren immer die beiden Optionen, wie das digitale Gegensatzpaar „An“ oder „Aus“ – nur dass der Programmcode des Lebens den Lebenden selbst verborgen blieb und selbst aus Erinnerungen und Erfahrungen schwer zu verstehen war. Sie glaubte auch an Schicksal, doch sie war der Meinung, dass nicht alles für alle Zeiten festgelegt war, sondern dass alle Menschen, alle Lebewesen fortwährend an diesem „Programmcode“ schrieben und, weniger wissend als träumend und von Instinkten getrieben, ihr Schicksal doch selbst in die Hand nahmen. Sie hatte es versucht, war trotz vieler Zweifel auf ihn zugegangen, hatte ihrem liebesschweren Herzen einen Stoß gegeben.

In dieser Nacht würden sie nicht mehr über diese Dinge nachdenken, die Würfel waren gefallen, er hatte sich entschieden, hatte für sie beide entschieden: Nicht „symbolträchtig“ bei Sonnenuntergang, sondern bei Tagesanbruch würden sie sich trennen, als Zeichen dafür, dass es irgendwie weitergehen würde, vielleicht sogar eines Tages mit ihnen beiden. „Wie romantisch!“, hatte sie verächtlich entgegnet. „Warum gehst du nicht gleich?“ Und obwohl sie heftig dagegen angekämpft hatte, hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt, war ihre Umarmung von heftigen Weinkrämpfen erschüttert worden. So waren sie dagestanden, beide schließlich mit Tränen auf den Wangen, hatten sich wieder und wieder geküsst und am Ende damit getröstet, eine letzte schöne Nacht noch vor sich zu haben.

Und so lagen sie hier am Strand, umhüllt von Dunkelheit und tropischer Wärme, die sich auch die Nacht über halten würde. Ihr Zittern hatte aufgehört, jetzt bebten beide vor Erregung, nackt aneinander geschmiegt, von einer Wollust in die nächste gleitend gaben sie sich ihrer Begierde hin, die immer wieder stürmisch aufbrauste, um langsam doch abzuebben und sich einer sinnlichen Entspannung zu ergeben.

Sie musste eingeschlafen sein, mit jähem Erschrecken setzte sie sich auf, blinzelte in die Morgenröte. Sie spürte ihn nicht mehr. Sie blickte neben sich, auf die leere Stelle im Sand, nur noch der Abdruck seines Körpers war darin zu sehen. Er war fort.

Sie hatte es nicht eilig, zum Gästehaus zurück zu kommen. Er würde nicht mehr da sein, das war ihr klar. Sie genoss den schmeichelnd rieselnden Sand an ihren Füßen, noch war es leer am Strand, die Sonne war gerade aufgegangen, schien noch schwach in ihr Gesicht, kitzelte in ihrer Nase, während sie gemächlichen Schrittes auf die Promenade zusteuerte. Die Natur versucht mich aufzumuntern, dachte sie und fühlte sich merkwürdig leicht, gar nicht so unglücklich, wie sie es befürchtet hatte. Während sie allmählich in den Tag hineinwuchs, wich langsam der Schleier der Nacht zurück. Ihrer Nacht. Sie war vollkommen gewesen. Mehr ging nicht. Mehr würde aber auch nicht sein. Ein Grummeln kam aus ihrem Bauch, sie verspürte Hunger, beinahe Heißhunger. Auf was, wusste sie noch nicht. Aber sie wusste, sie würde leben, das Leben weiter genießen, auch ohne ihn. Drüben an der Mole standen einige Angler, schauten zu ihr herüber, lächelten wissend. Sie lächelte zurück und sie merkte, dass sie sie jetzt gerade bestaunten, vielleicht sogar bewunderten. Da musste sie laut lachen. „Untergang kann jeder!“, rief sie ihnen zu. Die alten Männer blickten sich erst verdutzt an, brachen dann in ein vielstimmiges Gelächter aus – und schauten ihr lange nach.

©Martin Bensen

Friedvolles Herz

Sie ist fort. Von einer Reise in die Sonne nicht zurückgekehrt. Die Nachricht erreicht den Besitzer während der besinnlichen Tage. Im Herzen herrscht beinahe gespenstische Ruhe, die Gäste haben sich auf ihre Zimmer zurückgezogen oder sind aufgebrochen, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Weihnachten, das weiß der Besitzer aus langjähriger Erfahrung, Weihnachten ist eine friedliche Zeit für sein Herz, eine Zeit für die Familie, erst recht, wenn alle wieder beisammen sind. Einen Tag vor Heiligabend ist seine älteste Tochter von einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt zurückgekehrt. Schon am Tag nach Weihnachten würde sie wieder aufbrechen und nach Norden fahren, sie braucht das Herz hier immer weniger. Weiterlesen

Wenn du gehst

Wie oft wird es mich an diesen Platz ziehen, genau dahin, wo wir gerade sind? Jetzt hältst du mich noch, streichst mit deinem Daumen zärtlich, fast unmerklich über meine Hand im Sand. Obwohl ich den Blick abgewendet habe, spüre ich deinen weiter auf mir ruhen. Das letzte Mal, als ich dich angesehen habe, war die Farbe deiner Augen genau die des Sees, an dem wir gerade sitzen – sie sind eins geworden. Jetzt schaue ich auf das Wasser, versuche mich einzuschwören auf die Zeit ohne dich, mir einzureden, dass die tanzenden Lichtreflexe auf der blau-grünen Oberfläche deine zauberhaften, mal träumenden, mal lustvollen Augen sein werden. Dass die Ufergrashalme, die meine entblößten Waden umschmeicheln, deine zärtlichen Finger seien, die mich heute ein letztes Mal und dann auf diese Weise immer streicheln werden. Dein Haar, das wie ein anmutig wogendes Kornfeld die milden Sonnenstrahlen auffängt, es wird auch dann noch nach Sommer riechen, wenn du fort bist, wenn nur noch das fruchtbare Hinterland seine feinen Düfte bis hierher schickt, die ich dann wohl unersättlich tief in mich einsaugen werde, so wie jetzt ein letztes Mal den unverwechselbaren, betörenden Geruch deiner Haut. Deine Lippen, die meine noch einmal berühren, ganz behutsam, nichts mehr fordern, sich langsam lösen, den Abschied besiegeln, es werden nur noch meine sein, die den Hauch des Windes spüren, seine sanfte Brise schmecken, als wäre es dein Atem, der sich immer noch mit meinem vereint. Jetzt spüre ich das Gras an meinen Beinen, den Sand auf meiner Hand, den Duft von Heu in meiner Nase, den warmen Sommerwind auf meiner Haut, auf meinen Lippen den letzten Kuss, sehe das Blau des Sees – in meinen Augen verschwimmen. Jetzt bist du weg.

©Martin Bensen

Abschied

Ihr seid die Unbändigen
Die Hochfliegenden
Die nach Süden reisen

Ihr seid die Unverzagten
Die Ausschwärmenden
Die einfach von hier abhauen

Ihr seid die Unruhigen
Die Getriebenen
Die der Kälte entfliehen

Ihr seid die Untrüglichen
Die Himmelszeichen
Die den Sommer beenden

©Martin Bensen