Als Jakob Wecker pünktlich um Mitternacht von seiner einsamen Kneipentour zurückkommt und nur noch in sein Bett fallen will, sieht er sich selbst schon darin liegen. Aber nichts Lebendiges scheint an seinem Ebenbild zu sein, weshalb er nicht allzu sehr erschrickt, sich gleichwohl wundert, wie er oder der, welcher eine exakte Kopie seiner selbst ist, dort zu liegen gekommen ist. „Liegen“ ist wohl der falsche Ausdruck: Das, was unter der gelüfteten Daunendecke im Licht der Nachttischlampe zum Vorschein kommt, wirkt wie eine Folie, ein lebensgroßes Foto, eher schwarzweiß als farbig, mit der Kontur eines Körpers, eben seines Körpers.
Leben
Onkel Hans zeigt mir die Welt
Mein Onkel Hans war Architekt. Später im Ruhestand wurde er krank. Am Ende hatte er keine Chance und keine Kraft mehr. Onkel Hans war ein lebenslustiger, kultivierter, zugleich allem Kulinarischen zugewandter Mensch, natürlich sah man ihm das auch ein wenig an. Mit seiner feinen Art passte er nicht recht in unsere westfälische Bauernlandschaft. Seine filigrane Brille, seine sanften Gesichtszüge, der Genießermund und das sorgsam frisierte, blonde Haar – der blonde Hans, Hans im Glück, was machte so einer in dieser nach Gülle stinkenden, von Schweinemast dominierten Gegend? In meinem Leben tauchte er auf, als ich etwa vier Jahre alt war. Wir waren zu Besuch in seiner Wohnung, Tante Maria war auch da. Die Beiden waren in Hochzeitsvorbereitungen, und ich sollte ihr Blumenkind sein. Aber erst einmal wolle er mir die Welt zeigen, sagte Onkel Hans mit einem Augenzwinkern. Ich ahnte nichts Böses.
Pronto soccorso – la opera
Wenn man viele Jahre Familien-Urlaub in Italien macht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, auch dort einmal ärztliche Hilfe zu benötigen. Eine Entzündung, ein gebrochener Arm oder Zeh – auch ein „deutscher Arzt“ vor Ort überweist einen dann gerne an das nächste Krankenhaus, genauer: die Notaufnahme. Pronto soccorso heißt sie und ist für Ausländer die einfachste, nebenbei auch billigste, weil kostenfreie Möglichkeit einer medizinischen Behandlung. So war es jedenfalls noch vor zehn Jahren. Dabei muss es nicht einmal ein Notfall sein. Nicht einmal ein Fall muss es sein. Manche Einheimische habe ich in Verdacht, aus ganz anderen Gründen in den Pronto soccorso zu kommen. Oder warum sonst bringen sie Picknickkörbe und die ganze Sippe mit? Wie zu einem Vergnügen, einem Schauspiel oder einer Oper. Wie in die Arena di Verona.
Wind, meine Liebe
Nichts erfrischt, nichts tröstet und beglückt mich so unmittelbar wie der auffrischende Wind, besonders im Sommer, wenn er in belaubte Bäume fährt, ihre Kronen bewegt, sie belebt und in ihren Blättern ein vielstimmiges Rascheln und Rauschen erzeugt, mal säuselnd, mal heulend, mal zart, mal hart und mal schmeichelnd, mal reißend.
Der Wind macht eine eigene Musik – eine, die unmittelbar meine Seele anstimmt, sie schwingen lässt wie die Baumkronen in der Natur. Vielleicht hat meine Seele auch Blätter, die mit sich spielen lassen, solange es der Wind gut meint, andernfalls zittern sie wie Espenlaub und mein Körper gleich mit.
Tausende Härchen heben sich im Wind, kräuseln meine Haut, wenn er darüber fährt, mich streichelt, auch mein Kopfhaar, wie ein sinnlicher, oft wilder Liebhaber. Wind ist maskulin, auch in wohlklingenden Sprachen: le vent, il vento, el viento… Doch weil ich so bin, wie ich bin, stelle ich ihn mir lieber als Frau vor: die Wind, die wilde, die zärtliche – erotische.
Dann schließe ich die Augen und lasse alles geschehen, selbst die Möglichkeit zu sterben. An meinem letzten Tag soll Wind sein, in meinen Haaren, auf meiner Haut, in meiner Seele, die sie dann forttrüge, und in dem Baum zu meinem Gedenken, in dem sie weiter spielt und singt. Wind, meine Liebe.
Leichter
Auf dem Boden eine Flocke
Etwas vom Müsli denke ich
Als ich mich nach ihr bücke
Weicht sie aus – fliegt davon
Ein winziger Falter flirrt
Mit feinen Flügeln filigran
Hinaus aus meiner Welt
Ob er leichter lebt als ich?
Nicht so ewig
Mit jedem Fall von jähem Tod
Stirbt leise auch ein Stück in mir
In meiner selbstvergessenen Welt
Von sorglos-steter Wiederkehr
Doch mein Leben hält nicht still
Ich bin ja noch und brenne fort
Wie Sonne, Mond und Sterne
Nur bei weitem nicht so ewig
Zeitlos
Mensch du bist getaktet
Das Ticken deiner Uhr
Zerhackt dir deine Zeit
Jetzt und jetzt und jetzt
Meer du kommst in Wellen
Nach ewigem Naturgesetz
Rhythmisch aber ohne Takt
Lässt du mich zeitlos sein
Flieg
Flieg du Kleine
Flieg und träume
Flieg und träume dich
In ein neues größeres Leben
Schonung
In Reih und Glied
Wie auf dem Feld
Einem Gräberfeld
Stehen sie im Wald
Nicht Steine noch Kreuze
Gleich einem Kerzenheer
Umschirmen diese Stelen
Noch zartes neues Leben
Würdelos
Es stirbt sich nicht schön
In so unwürdigen Zeiten
In denen lebendig zu sein
Allein schon trist erscheint
Und nicht einmal Trost
Und Trauer den Lebenden
Vergönnt ist wie den Toten
Die Ehre des letzten Geleits
Andockmanöver
Gut, dass er drüben nicht wohnen muss. Dieser Verhau von einem Balkon! Als wäre er eine Müllhalde. Nur leider muss er täglich draufgucken, kommt kaum daran vorbei, weil die Häuser so dicht stehen, gerade mal eine schmale Schneise lassen für einen seitlichen Blick auf etwas Grün, den alten Baum, der schon im August braun wird. Er gehört zum nahen Park, den er das letzte Mal vor einem Jahr besucht hatte – damals schon kurzatmig und in Begleitung eines Betreuers. Weiterlesen
Timeout
Warum kann ich ihn nicht festhalten
Diesen Moment in dem ich alles weiß
In dem mein Geist die Welt umreißt
Wenn ich mitten in meinem Alltag
Aus der Zeit
Falle
Fasse
Ich dann zu
Verliere ich den magischen Moment
An einen schalen Hauch von Leere
Die mein Alltag restlos wieder füllt
Mit Trägheit und Vergessenheit
©Martin Bensen