Montpellier

(Ein Kapitel aus meinem neuen Romanprojekt,
das in den Achtzigern spielt)

»Warum hast du denn nicht angerufen, du Heiopei?« Rike trägt ihr Herz auf der Zunge wie viele aus dem Ruhrpott. Heiopei (ungefähr: Dummkopf oder Trottel) ist ein typischer Ausdruck von da. Rike benutzt ihn oft und gerne, und Tom hat gleich heimatliche Gefühle. Sie will ihn gar nicht loslassen, ihr Kopf liegt an seiner Brust, sein Rucksack zu seinen Füßen.
Sie stehen unter der hellen, nackten Glühbirne in der Wohnküche ihrer WG, halten sich in den Armen, als ob es nie eine »Sendepause« zwischen ihnen gegeben hätte und ein bisschen auch, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Er hat sie vermisst, ihr spitzbübisches Lächeln, ihren frechen Blick, ihre offenherzige Art, die ihm bei ihrer ersten Begegnung gleich aufgefallen sind. Das war im Oktober 1982. 

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An die Mauer

„Wasser marsch“, sagt mein Freund. Und: „Ahhh …“
Wir stehen an der alten, mondbeschienenen Friedhofsmauer, die helle Glocke der Kirchturmuhr hat dreimal geschlagen; es ist wieder spät geworden. Wir haben das Wasser nicht mehr halten können, die nächstbeste Stelle gesucht. Wie immer nach unserer Kneipentour sind wir ganz schön besoffen. Ein Spaziergang würde uns jetzt gut tun, haben wir uns gesagt. Nur ein paar hundert Meter weiter beginnt schon der Wald. Ein besserer Ort für sowas. Aber der Druck war zu groß. Ausgerechnet die Friedhofsmauer. Durch meinen Nebel steigt Scham auf. Ich beginne zu schwanken.

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Am Abgrund

Wenn er je einen Freund hatte, dann ihn. Ein Lichtblick unter den grauen Gestalten der Nachtschicht. Dabei war ein Job bei der Post nicht das schlechteste, zumal für einen Studenten wie Gabriel. Zehn Stunden die Woche reichten ihm für sein Budget. Allein sechs davon arbeitete er zwischen Mitternacht und Montagfrüh. Richtig zur Sache ging es nur in der ersten und in der letzten Stunde: erst Pakete in die Rollwägen mit den Postleitzahlen, später im Betriebshof alles in die gelben Transporter. Zwischen Hektik und Hektik lagen fast vier Stunden Leerlauf, die die Männer im kargen, neonhellen und überheizten Pausenraum verbrachten. Zeit, die sich endlos dehnte – bis Daniel auftauchte. Daniel, sein einziger Freund in diesen leeren Nächten. Damals ahnte Gabriel nicht, was mit ihm geschehen, was Daniels Geschenk auslösen würde – Jahrzehnte später, als ihm dieses seltsame Buch wieder in die Hände fiel. Weiterlesen

Ono-Macht

Ein Kapitel aus meinem neuen Buchprojekt über Jugendjahre in einer westfälischen Kleinstadt – über Freundschaft, erste Liebe, Leidenschaft für Gitarren und Beatles und über das Erwachsenwerden (oder Jungbleiben).

So macht es keinen Spaß. Botte ist nicht bei der Sache, spielt mal ein Stück mit mir und knutscht dann wieder mit Anne rum. Ich hasse diese Nachmittage im Schlossgarten. Wir kriegen das nicht unter einen Hut, auch wenn wir uns beide bemühen. Anne stört. Sie steht zwischen uns und unserer Leidenschaft: die Musik. Aber ohne Anne ist Botte gerade nur ein halber Mensch, das weiß ich, auch wenn er es nicht ausspricht. Weiterlesen