Sentir le sable (Saint-Malo)

Das Meer ist weit draußen, der Strand unendlich. Zwei Freundinnen kommen Arm in Arm aus den bretonischen Mauern. Die eine schlank in weißer Hose, weiß-blauem Ringelpulli, an den Füßen taubenblaue Slipper. Die andere übergewichtig in rot-grün-weißem, luftigem Rock, rotem T-Shirt und Pumps. Sie trägt einen Strohhut. Sie humpelt. Die schlanke Freundin stützt sie, geht trotzdem aufrecht, leichtfüßig, vielleicht war sie früher einmal Model. Jetzt betritt sie den gelben Sand, löst sich von ihrer Freundin, die auf die seitliche Mauer zusteuert, sich mit einer Hand abstützt. Dort, wo der Strand beginnt, tänzelt die Schlanke auf der Stelle, murmelt etwas von »feinem Sand«, bückt sich, nimmt mit drei Fingern eine Probe, zerreibt sie und nickt – und schaut doch etwas angeekelt. Feiner Sand. Krauses Näschen.
Sie geht auf ihre Freundin zu, die gebückt an der Mauer steht und an ihren Schuhen nestelt, die Riemchen endlich gelöst und sie von ihrer Freundin gereicht bekommt. Mit ihren Pumps in der Hand steuert sie auf den Sand zu, die Schlanke folgt ihr, lässt ihre Schuhe aber an. Sie muss ihre Freundin nicht mehr stützen. Die lacht jetzt, krallt sich mit ihren Zehen in den feinen Sand, reißt sich den Hut vom Kopf, langes blondes Haar wird gleich vom Wind erfasst. Jetzt tänzelt sie voran, immer schneller, sie wendet ihr Gesicht zur Sonne, lässt ihr Haar im Wind flattern, breitet die Arme aus, in der linken Hand die Schuhe, in der rechten den Hut. Sie will nicht fliegen, sie will nur den Sand spüren, die Sonne, den Wind.
Ihre Freundin folgt ihr. Steif. Beherrscht.

©Martin Bensen

Leuchtturm

Eine Art Idylle (III)

Mein Leuchtturm ist nicht hoch. Er steht auf einer Klippe über dem Strand, dem einzigen auf meiner einsamen Insel ganz im Norden. Danach ist nur noch Meer. An den meisten Tagen ist nicht auszumachen, wo das Wasser endet und die Luft beginnt, dort am Horizont, der unendlich scheint und doch irgendwo in der Ferne zu Eis erstarrt. Weiterlesen

Die Frau am Meer

Eigentlich hatte ich genug von Sand, Strand und Sonne. Die Ostsee war Anfang Juni noch zu kalt zum Baden. Morgen würde ich in aller Frühe abreisen. Mein Kurzurlaub, vier Nächte in einem Waldschlösschen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, er war mir nun doch ausreichend lang erschienen. Drei Tage war ich stramm auf Deichen und durch Wälder geradelt, hatte mich hier und da an den Strand begeben, das Meeresrauschen und den warmen Westwind genossen, war jeden Abend treuer Gast im freundlichen Schlösschen und nach einem Zwei-Gänge-Menü und drei großen Störtebekern vom Fass alsbald auf meinem Zimmer und wenig später im Reich der Träume.

Was trieb mich also an diesem späten, aber noch hellen Abend ein letztes Mal an den Strandabschnitt mit den Wellenbrechern, kurz vor dem gesperrten Teil der Küste? Genau hierher hatte mich meine Neugier gleich am Ankunftstag spätnachmittags geführt, so froh am Meer zu sein. Voller Übermut hatte ich meine Stoffschuhe von den Füßen geschleudert und war auf das Wasser zugerannt. Die kalten Wellen waren eine Wohltat nach der langen Autofahrt. Bis zu den Knien stand ich im Wasser, schaute glücklich mal in die Dünen, mal aufs Meer, als ich sie zum ersten Mal sah. Die Frau trug ein langes weißes Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Zielstrebig steuerte sie auf eine ausgelaugte Baumwurzel zu, die wie ein Skelett etwa fünfzig Meter von mir im Sand lag. Knapp davor ging sie in die Knie. Erst jetzt bemerkte ich die Kamera in ihrer Hand. Sie schien ganz in ihrem Tun versunken zu sein, eine Weile probierte sie vor der Wurzel verschiedene Winkel und Perspektiven, dann schien alles zu passen. Der Abend war wie gemacht für ein tolles Motiv, auch ich nahm mein Smartphone aus der seitlichen Tasche meiner Shorts. Dunkle Wolken hatten sich vor der tiefstehenden Sonne aufgetürmt, doch aus dem mächtigen Gebilde drang unterhalb ein Strahlenkranz, der weit hinten die roten, grünen und gelben Gräser der weißsandigen Dünen in einem breiten Streifen aufleuchten ließ. Die ganze Szenerie hatte etwas Sakrales. Darin nur die Frau und ich, das Meeresrauschen und der Wind. Wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Wenige Minuten später war der Zauber vorüber. Die Frau in Weiß bewegte sich Richtung Strandzugang, auch ich hatte genug und folgte ihr. Als ich mein Rad erreichte, war sie bereits auf ihres gestiegen, ein in die Jahre gekommenes Minirad. Während ich meine Füße noch vom Sand befreite und die Schuhe wieder anzog, bog sie schon nach rechts auf den Deich ab. Mein Weg führte in die andere Richtung.

Drei Abende später stand ich also wieder an diesem Strand. Ein einsames Minirad lehnte unverschlossen am seitlichen Geländer des Zugangs. So war ich wenig überrascht, als ich die Frau von neulich wieder sah. Diesmal kniete sie nicht im Sand, hatte auch keine Kamera dabei, sie stand etwa hundert Meter weiter ganz nah am Wasser, ließ die zahmen Ostseewellen an ihren Füßen lecken. Die Frau bewegte sich nicht, trug jetzt ein schwarzes Kleid, das sich in den Windböen seitlich bauschte. Ihr langes Haar hatte sie beim letzten Mal wohl hochgesteckt, jetzt wehte es wie eine dunkle Fahne von ihr weg. Von meiner Stelle am Zugang aus wirkte die Frau wie eine Skulptur mit Segel, dahinter zwei grobschlächtige Holzfiguren auf den Wellenbrechern, knorrige Gnome auf schwarzen Pfählen.

Ich war unschlüssig, ob ich weiter an den Strand gehen sollte, eigentlich reichte mir ein Abschiedsblick. Auch wollte ich die Frau nicht stören, denn sie schien ihr Alleinsein nur mit dem Meer und dem Wind zu genießen. Noch während ich mich umdrehte, bemerkte ich, wie die Frau sich bewegte. Sie ging einen Schritt auf das Wasser zu, dann noch einen und noch einen, schon stand sie bis zur Hüfte im Wasser. Ich stutzte, das Meer war kalt, ich selbst hatte es nicht geschafft, ein Vollbad zu nehmen, geschweige denn zu schwimmen. Und warum im Kleid? Jetzt stand die Frau bis zur Brust im Wasser und sie bewegte sich weiter auf das offene Meer zu. Hier stimmte was nicht! Ohne weiter nachzudenken rannte ich durch den tiefen Sand auf die Frau zu, die in merkwürdig starrer Haltung weiter ins Meer trieb und im nächsten Moment von einer Welle überspült wurde. Sie tauchte nicht mehr auf. Ich hatte das Wasser erreicht, sprang mit ein paar Sätzen hinein, hastete halb watend, halb schwimmend, auf die Stelle zu, wo ich die Frau gerade noch gesehen hatte und konnte bald auch nicht mehr stehen. Das Wasser war eiskalt, doch ich zwang mich unterzutauchen und die Augen zu öffnen. Ein schwarzer Schatten weiter links, offenbar hatte die Strömung die Frau erfasst. Mit aller Kraft schwamm ich auf den Schatten zu, bekam schließlich etwas zu fassen, zerrte daran. Ich hatte kaum noch Luft, doch ich hielt fest und zog. Endlich erwischte ich einen Arm, drehte ihn zu mir herüber, umfasste ihren leblosen Körper und tauchte auf. Wie ich es gelernt hatte, schwamm ich mit der leblosen Frau im Rettungsgriff Richtung Strand. Noch im seichten Wasser kam Bewegung in den Körper, schlugen die Arme nach mir, dann ertönte ein Gurgeln, gefolgt von einem Schrei.

„Nein! Nein! Lass!“ Wild schlug die Frau um sich. „Lass mich los!“ Das würde ich mit Sicherheit nicht tun. Ich umfasste ihren Oberkörper und hievte mich mit ihr aus den Wellen an Land. Keuchend lagen wir nun beide da, das Schlagen hatte aufgehört, jetzt ertönte ein Wimmern, die Frau krümmte sich, begann zu zittern. In meinem Rucksack war ein halbwegs trockenes Strandtuch, doch er lag noch drüben am Zugang. Also zog ich die zitternde Frau ein Stück zu mir, hielt sie im Arm und rieb sie so gut es ging mit der anderen Hand warm. „Kannst du aufstehen?“, fragte ich, als sie langsam etwas ruhiger wurde, stemmte mich hoch und griff ihr unter die Arme. „Dort drüben in den Dünen ist der Wind nicht so stark und der Sand noch warm, lass uns bitte da hingehen.“ Sie machte tatsächlich mit, wir schafften den Weg und lagen wenig später wie in einem warmen Nest in einer Dünenmulde. Noch immer wendete sie ihr Gesicht von mir ab, war wie ich voller Sand, ihre langen Haare klebten wie schwarze Ölschlieren an Gesicht und Körper. Was mochte in ihr vorgehen? Wie verzweifelt muss jemand sein, der sich auf diese Weise das Leben nehmen will? Noch vor drei Tagen hatte sie einen lebhaften, wenn auch etwas verträumten Eindruck auf mich gemacht. Ich überlegte, ob ich meinen Rucksack holen sollte, doch im Moment wollte ich die Frau nicht alleine lassen.

„Wie heißt du – ich darf doch ‚du‘ sagen?“ Keine Reaktion, doch das Zittern hatte nachgelassen. „Ich heiße Michael. Kann es sein, dass ich dich schon vor drei Tagen hier gesehen habe? Du hast Fotos gemacht, mit einer Kamera. Sind bestimmt schöne Aufnahmen geworden.“ Stille. Dann drehte sie sich unvermittelt um und sah mir durch einen nassen Vorhang aus Haarsträhnen geradewegs in die Augen. „Einen Scheiß sind die geworden!“ Sie wendete sich wieder ab, doch ihr Körper hatte an Spannung gewonnen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, stützte sich auf ihre Ellbogen und schaute über den Rand der Düne Richtung Meer. „Hast du eine Mission, Erzengel? Rettest du Frauen an einsamen Küsten? Wenn du ein Engel wärst, wüsstest du, dass das bei mir keinen Sinn hat. Aber du bist auch nur ein Mann. Ihr seid alle gleich…“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, spürte aber auch, dass es gerade besser war zu schweigen. Doch sie sprach nicht weiter. Ihr Blick ruhte unverwandt auf dem Meer. Grüne Augen, sie hat die Augen eines Raubtiers, dachte ich. Solche Augen jagen, begehren, wollen etwas – solche Augen resignieren nicht. Sie war schlank, aber kräftig, sah aus wie eine Frau, die mitten im Leben steht. Ich schätzte sie auf etwa vierzig. Vielleicht eine Schauspielerin, auf jeden Fall Künstlerin, dachte ich bei mir.

Jetzt wagte ich doch, sie wieder anzusprechen. „In meinem Rucksack dort drüben ist ein halbwegs trockenes Handtuch, soll ich es holen?“ Unvermittelt fing sie an zu lachen. Erst verhalten, dann immer ausgelassener, schließlich beinahe hysterisch. Instinktiv hatte ich etwas Abstand genommen. Gerade rechtzeitig, denn ihr Lachen erstickte jäh in einem Gurgeln, sie übergab sich in kurzen heftigen Schüben in den Sand. Es war nur Wasser, aber nur wenig mehr davon dort draußen und sie wäre ertrunken. Mit einem tiefen Seufzen sank sie zurück in den Sand und schloss die Augen. Einige Augenblicke später war sie eingeschlafen, atmete in tiefen, ruhigen Zügen. So konnte ich sie wohl eine Weile liegen lassen. Vorsichtig stand ich auf und schlich mich aus der Düne zu meinem Rucksack. Um diese Zeit war wirklich niemand mehr am Strand, er gehörte wieder ganz der Natur. Auch ich hätte mich jetzt langsam auf mein Zimmer zurückgezogen, um viel vom nächsten Tag zu haben. Leider musste ich meinen Urlaub abbrechen und sehr früh abreisen. Die Nachricht hatte mich gestern erreicht: Ein guter Freund von mir war nach langer, schwerer Krankheit gestorben, die Beerdigung war schon am morgigen Nachmittag und ich hatte von hier aus noch fünf Stunden Fahrt vor mir. Ich wollte nicht ungerecht sein, aber ich bemerkte, wie Wut in mir aufkeimte. Dort musste ein geliebter Mensch sterben, hier suchte ein mir völlig unbekannter willentlich den Tod. Dem vertrauten konnte ich nicht helfen, dem fremden sehr wohl. Warum, zur Hölle, wollte sie nicht mehr leben? Mit diesen Gedanken kehrte ich zu der unbekannten Frau zurück, zog das Handtuch aus dem Rucksack und breitete es über der Schlafenden aus. So wie sie da lag, wirkte sie ruhig und zufrieden – und sie war schön.

Ich setzte mich wieder zu ihr und blickte aufs Meer hinaus. Was hat das Leben dieser schönen Frau angetan? Ich schüttelte den Kopf, was nützte meine Wut, die sinnlose Selbstbefragung, ich kannte sie nicht, wusste nichts über diesen Menschen, um auch nur ansatzweise über ihn urteilen zu können. So einen Schritt macht niemand ohne Grund. Vielleicht war auch sie schwerkrank, wollte aber eben nicht kämpfen wie mein alter Freund. War er das eigentlich noch, ein Freund? Hatte ich mich wirklich mit ihm und seinem Schicksal beschäftigt? Die letzten Jahre standen wir nur noch sporadisch in Kontakt, hatten uns hin und wieder geschrieben. Bis vor kurzem wusste ich nicht einmal von seiner schweren Krankheit, seine Mails steckten immer voller Lebensfreude, meistens schickte er Bilder von seiner Familie mit, darunter nicht wenige Urlaubsfotos, bis zuletzt waren sie gereist, hatten sich das was kosten lassen, denn beide Ehepartner hatten herausfordernde Jobs, die natürlich nicht zu Lasten ihrer Kinder, einer Tochter, 9, und einem Sohn, 16, gehen sollten. Angesichts solcher Mails war ich fast neidisch. Ich war ohne Familie geblieben, inzwischen war es wohl auch zu spät dafür. Ein Mittfünfziger entwickelt als Single seine Eigenheiten und die vergiften, anfangs subtil, am Ende umso derber, jede noch so vielversprechende Liebesbeziehung – erst recht sind sie kein Fundament für eine Familie. Daran änderten auch gute Freunde nichts, sie neigten leider dazu, noch Salz in meine Wunden zu streuen, nicht böswillig, sondern eher gedankenlos, und machten es dann noch schlimmer, wenn sie mit mitleidigen Blicken eilfertig Entschuldigungen stammelten. Auch mein hochkommunikativer Job im Marketing war eher kontraproduktiv, denn in der Freizeit wollte ich am liebsten meine Ruhe haben. An Affären mangelte es mir gleichwohl nicht, aber sie verkümmerten in dem Maße, in dem mein Freiheitsdrang an Kraft gewann. Und das war bisher noch jedes Mal passiert. Reisen konnte ich nach Belieben, doch mir lag nichts an der Ferne, ich liebte die Einsamkeit in der Natur und von der gab es zum Glück reichlich in der Heimat. Am liebsten war mir das Meer – meine letzte Liebschaft kommentierte das bittersüß: Für sie war ich am Ende „der alte Mann und das Meer“. Das Buch hatte sie mit Sicherheit nicht gelesen, ich dagegen liebte es…

Neben mir regte sich etwas. Ein schwarzweiß gefiederter Vogel mit rotem Schnabel, augenscheinlich ein Austernfischer, hatte sich auf den Rand der Mulde gestellt, ganz nah an der schlafenden Frau. Er beäugte sie neugierig – und ich ihn. Ob Tiere merken, wenn es Menschen schlecht geht? Von Hunden war das bekannt, manche können offenbar selbst bei fremden Menschen schwere Erkrankungen wittern, aber von Wildtieren, gar von Vögeln? Umgekehrt vielleicht. Ich musste an meine Oma denken, die mit dem Ruf eines Käuzchens vor ihrem Fenster immer ihr letztes Stündlein gekommen sah. Sie wurde weit über neunzig und starb nach einem erfüllten, gottesfürchtigen Leben friedlich, ohne Angst – und ohne Käuzchen… Eine Hand schob sich in mein Sichtfeld, auf den Vogel zu, langsam, behutsam. Die Frau war aufgewacht, lag immer noch still, mit halbgeschlossenen Augen und einem Lächeln in ihrem schönen Gesicht. Nur ihre Hand schob sich Zentimeter um Zentimeter durch den Sand auf den Vogel zu. Der bewegte sein Köpfchen hin und her, beäugte die Hand aufmerksam, blieb aber weiter ruhig stehen. Die Hand der Frau drehte sich langsam, öffnete sich zu einer flachen Mulde, kam direkt unterhalb des Vogels zur Ruhe. Der pickte mehrmals sanft in die Handfläche, die Frau musste kichern, hob ihre Hand etwas an und streichelte das Tier an der Unterseite. Sprachlos vor Staunen verfolgte ich das unglaubliche Schauspiel. „Da unten ist das Gefieder weich und flauschig, das Streicheln mag der Kleine. Willst du auch mal?“ Die Frau sah mich jetzt aus wachen Augen herausfordernd an. Ich war unschlüssig, versuchte mich zu recken, dem Vogel entgegen. Doch der sah mich nur böse an, streckte die Flügel aus und flog davon. Stumm verfolgten wir beide seine Flugbahn über die Dünen, den Strand, hinaus aufs Meer, hinein in die Dämmerung, die ihn schließlich verschluckte.

„Es wird dunkel. Und kühl ist es auch geworden. Wo wohnst du denn? Kann ich dich irgendwohin begleiten?“, fragte ich vorsichtig.
Die Frau sah mich forschend an, dann grinste sie. „Hast wohl Angst, dass ich gleich wieder ins Meer steige, was?“ Sie wurde nachdenklich, sah zum Wasser hinüber, das jetzt dunkel und unheimlich schimmerte, und dann wieder zu mir. „Du bist kein schlechter Kerl, das spüre ich. Das was du getan hast, musstest du tun. Wer weiß, ob das jeder gemacht hätte. Dazu gehört Mut.“
Ich versuchte abzuwiegeln, doch sie sprach gleich weiter: „Und ich bin dir dankbar. Nicht, dass du mich da rausgezogen hast, nein, ich danke dir, dass du nicht fragst, wenigstens nicht laut.“ Sie musste schmunzeln.
Was sie doch für eine rätselhafte, interessante, außergewöhnliche Frau ist, dachte ich.
Jetzt lächelte sie mich an. „In deinen Augen sehe ich viel Liebe. Wer mit dir zusammen ist, darf sich glücklich schätzen.“
„Echt jetzt? Na, ich weiß nicht… Bisher habe ich noch jede erfolgreich in die Flucht geschlagen.“, gab ich scherzhaft zurück und versuchte so meine Unsicherheit zu überspielen.
Sie blickte wieder zum Meer, ihre Miene hatte sich verdüstert. „Das, was ich getan habe… tun wollte… muss dich nicht belasten. Es ist keine Sache zwischen Menschen, es ist ganz allein meine Sache. Mein verdammtes Recht! Und ich muss niemandem, absolut niemandem Rechenschaft ablegen, schon gar nicht Gott. An den glaube ich sowieso nicht. Ich habe oft darüber nachgedacht, wer oder was mir das Leben ‚geschenkt‘ haben soll. Es ist kein Geschenk! Im Gegenteil: Sobald wir leben, sind wir doch alle des Todes. Aus allem wird am Ende nichts. Wir strampeln uns ab – Dumme und Schlaue, Arme und Reiche, Glückliche und Verzweifelte, wir bringen es zu was oder auch nicht. Doch am Ende gehen wir alle den einen Weg, den Weg ins Nichts. Ich hatte mich für eine Abkürzung entschieden. Ganz bewusst und völlig im Reinen mit mir. Dann läufst du mir über den Weg…“
„Moment mal“, versuchte ich zu widersprechen, doch mit einem Ruck stand sie auf, klopfte sich den Sand aus ihrem noch feuchten Kleid, schlug das Handtuch aus, faltete es ordentlich zusammen und gab es mir zurück.
„Und jetzt?“, fragte ich kleinlaut.
„Jetzt fahren wir beide nach Hause. Du zu dir und ich zu mir. Keine Angst, du darfst mich noch zu meinem Fahrrad begleiten. Aber dann trennen sich unsere Wege.“ Sie stieg aus der Mulde und rutschte leichtfüßig die Dünenkante zum Strand hinab. Ich folgte ihr. Am Zugang bückte sie sich und zog neben dem Holzgeländer ein paar Schuhe und einen Rucksack hervor.
„Hier drin ist alles, was ich noch habe.“, sagte sie leichthin und fädelte ihre Arme in die Schlaufen. „Der Finder hätte das ganze Zeug behalten können. Eine gute Kamera, nicht allzu viel Bargeld – und ein Schwarzweißfoto, das ich noch in einer Drogerie ausgedruckt habe, bevor ich alle Dateien auf der Chipkarte gelöscht habe. Wenn schon, denn schon.“ Sie ließ den Rucksack wieder herunter, öffnete ihn und zog ein Papierbild hervor. „Hier, das schenke ich jetzt dir. Dass du mich beobachtet hast neulich, ist mir natürlich nicht entgangen. Insofern sind wir ja fast alte Bekannte…“ Sie grinste schief und sah mich von der Seite an.
Ich nahm das Foto, konnte in der Dämmerung aber kaum noch etwas darauf erkennen.
„Betrachte es im Sonnenlicht, es kommt auf den Kontrast an.“
„Willst du mir nicht wenigstens deinen Namen verraten?“
„Beim nächsten Mal. Wenn das Schicksal es will…“ Sie hatte sich ihren Rucksack wieder aufgesetzt, wandte sich von mir ab und ging schnurstracks auf ihr Minirad zu. Wenige Augenblicke später war sie in der Dunkelheit verschwunden. Ich seufzte laut, verstaute das Foto vorsichtig in meinem Rucksack und fuhr wie benebelt die kurze Strecke durch den Wald und am Deich entlang zu meiner Unterkunft. Bar und Restaurant waren bereits dunkel und so stieg ich die alte Holztreppe hoch zu meinem Zimmer. Als erstes entsandete ich mich gründlich unter der Dusche, steckte die schmutzigen, klammen Sachen in eine Plastiktüte und packte alles andere für den frühen Aufbruch am nächsten Morgen zusammen. Dann fiel ich todmüde ins Bett.

In dieser kurzen Nacht träumte ich alles mögliche, doch als mein Handywecker klingelte, zerplatzte jede Erinnerung daran wie eine Seifenblase. Draußen graute ein schöner Sommermorgen, die Vögel zwitscherten bereits bunt durcheinander, von weitem drang der Ruf eines Kuckucks herüber, weckte Kindheitserinnerungen. Mit schweren Beinen wankte ich ins Bad, nahm eine kalte Dusche, die mich halbwegs belebte. Nach einer Tasse Kapselkaffee raffte ich mein Zeug zusammen, ließ den Schlüssel verabredungsgemäß stecken und begab mich zu meinem Auto. So ein Mist, ich hatte den Rucksack mit den nassen Badesachen nicht mehr ausgepackt.

Augenblicklich überfielen mich die Bilder des vergangenen Abends. Die fatale Begegnung am Strand – das Foto… Hastig öffnete ich den Reißverschluss und zog ein welliges Stück Papier hervor. Mit einem leisen Fluch strich ich das Foto auf dem Kofferraumboden glatt, doch es war bereits zu spät. Was auch immer darauf zu sehen gewesen war, es war weg, zu erkennen war nur noch eine graue Fläche, durchzogen von faserigen weißen Äderchen. Ich betrachtete das, was einmal ein Foto gewesen war, versuchte mit aller Anstrengung ein Muster, eine Form auszumachen. War da nicht das Baumskelett? Nein, wohl nicht, denn im Grunde erinnerte ich mich ja nur, dass sie es fotografiert hatte, mehr nicht. Die weiße Frau am Strand und ihr schwarzer Schatten des Todes – zwei Begegnungen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Was war in den drei Tagen dazwischen mit ihr geschehen? Was passierte seit gestern Abend mit mir? Ich hatte sie im Wasser gepackt, doch später – im übertragenen Sinne – sie mich. Aber wohin sollte das führen? Sie hatte mich, ihren Retter, abgewiesen und mir mehr als deutlich gemacht, dass, wenn sie schon für sich selbst keinen Platz im Leben sah, da erst recht keiner für einen anderen Menschen sein würde. Ich musste sie mir aus dem Kopf schlagen und endlich losfahren.

Wenn das Schicksal es will – ihre Abschiedsworte kamen mir plötzlich in den Sinn. Schicksal? Sie glaubte nicht an Gott, sagte sie, warum also an Schicksal? Wenn ich ehrlich war, musste ich mir eingestehen, in diesem Begriff nie mehr als eine Floskel gesehen zu haben. Im Gegenteil machte ich mir wenig Gedanken um den Sinn des Lebens, die Hintergründe des Seins. Philosophie war meine Sache nie gewesen, vor jedem komplizierten Gedanken bog ich nach Möglichkeit ab. Eine meiner Partnerinnen sagte mir einmal, mir fehlte es an Tiefenschärfe, dafür wäre meine Benutzeroberfläche recht angenehm zu handhaben. Ich schoss sie in den Wind, ein Dummerchen war ich auch nicht.

Es kommt auf den Kontrast an – auch das hatte die Frau am Strand zum Abschied gesagt. Und jetzt begriff ich. Hastig zog ich mein Fahrrad von der Ladefläche, stellte Rucksack und Tasche darauf ab und verschloss den Wagen. Es war den Versuch wert. Im höchsten Gang fuhr ich zum Deich, durchquerte das Waldstück und sah von weitem schon das blaue Meer. Die Morgensonne ließ alles wie neu erstrahlen. Voller Zuversicht erreichte ich den Strandzugang. Und doch: Ich wurde enttäuscht. Kein Minirad – sie  war nicht da. Wie konnte ich mir auch solche Illusionen machen? Traurig lehnte ich mein Fahrrad an das Holzgeländer, stapfte langsam durch den Sand, um wenigstens ein letztes Mal das Meer zu sehen. Ich ließ die Schuhe an, denn ich würde nicht mehr bis ans Wasser gehen. Der Strand hatte jetzt nichts mehr von der Morbidität des vergangenen Abends, keine Wolken, keine Schatten, kein Wind. Nur die Sonne strahlte bereits recht heiß vom wolkenlosen Himmel. Das Meer warf lässig kleine Wellen auf den Sand, Schwalben tanzten im Tiefflug durch die Luft, zwei weiße Schmetterlinge turtelten miteinander, von den Dünen her schrie eine einzelne Möwe. Von der Frau keine Spur. Auf gewisse Art war ich erleichtert, jetzt würde ich beruhigt abreisen können. Eine lange Fahrt stand an, der Abschied von einem Freund und mein Leben würde einfach so weitergehen. Einfach so? Gerade als ich mich umdrehen wollte, schob sich eine Hand in meine. Eine Frau in weißem Hemd zog mich nach vorne, weiter an den Strand, durch den tiefen Sand, immer weiter, bis ans Wasser. Da standen wir, Seite an Seite, schweigend, lächelnd, und blickten hinaus auf das blaue Meer.

©Martin Bensen

Untergang kann jeder

Als das Sonnenlicht ins Rötliche wechselte, begaben sie sich an den Strand, weit weg von den letzten Badegästen, die nun auch ihre Sachen zusammenpackten. Die Beiden hielten sich an den Händen, gingen bedächtig, in einem wiegenden Gleichschritt, als würden sie tanzen, ihre Gesichter dem Meer zugewandt und der Sonne, die sich allmählich mit Dunst umhüllte, langsam blutrot wurde und bald nur noch knapp über dem Horizont stand. Aus der Ferne betrachtet schienen sie ein glücklich verliebtes Paar zu sein, das sich in diesem Augenblick, immer noch an den Händen haltend, in den Sand setzte.

Sie zitterte, hielt seine Hand noch fester, als sie sich in den warmen Sand niederließen. Er erwiderte ihren Händedruck und als sie eng aneinandergeschmiegt saßen, legte er seinen Arm um sie. Er hatte nichts dabei, um sie zu wärmen, doch er wusste, dass sie nicht vor Kälte fror. Es war ihr letzter Abend.

Sie hatten beschlossen, diesen Abend und die Nacht über vollkommen allein zu sein. An einem Ort, wo sie niemand stören und wo es schön sein würde. Sie liebten beide das Meer, vor allem dann, wenn sie es nur für sich hatten. „Lass uns die Nacht am Strand verbringen, uns noch einmal richtig haben, voll und ganz bei uns sein, eins sein, bis der Morgen graut…“, hatte er gesagt und mit abwesender Miene gemurmelt: „Untergang kann jeder.“

Sie hatte sofort eingewilligt, wollte jede Sekunde mit ihm genießen. Schließlich war es nicht sie, die so entschieden hatte, obwohl auch sie einsah, dass sie nicht zusammenbleiben konnten. Wie oft war sie in Gedanken alle Möglichkeiten durchgegangen, hatte von einer einsamen Insel geträumt, auf der es nur sie beide geben würde. Ja, sogar an Weitergehendes hatte sie gedacht, doch dazu wäre sie niemals wirklich in der Lage gewesen.

Er hatte ihre dunklen Gedanken wohl erahnt, aber so sehr er auch bekundete, sie zu lieben und ihr mit jeder Geste, jeder Berührung so viel Nähe und Wärme gab, so wenig vermochte er sie aufmuntern. Wie denn auch? Ihre Beziehung war zum Scheitern verurteilt, noch bevor sie richtig begonnen hatte. Und so versuchte er „stärker“ zu sein, das Schicksal „wie ein Mann“ zu nehmen, überhaupt das Schicksal entscheiden zu lassen. Er glaubte daran, auch wenn er wusste, dass es nicht damit getan war, nichts zu tun. Handeln oder nicht handeln waren immer die beiden Optionen, wie das digitale Gegensatzpaar „An“ oder „Aus“ – nur dass der Programmcode des Lebens den Lebenden selbst verborgen blieb und selbst aus Erinnerungen und Erfahrungen schwer zu verstehen war. Sie glaubte auch an Schicksal, doch sie war der Meinung, dass nicht alles für alle Zeiten festgelegt war, sondern dass alle Menschen, alle Lebewesen fortwährend an diesem „Programmcode“ schrieben und, weniger wissend als träumend und von Instinkten getrieben, ihr Schicksal doch selbst in die Hand nahmen. Sie hatte es versucht, war trotz vieler Zweifel auf ihn zugegangen, hatte ihrem liebesschweren Herzen einen Stoß gegeben.

In dieser Nacht würden sie nicht mehr über diese Dinge nachdenken, die Würfel waren gefallen, er hatte sich entschieden, hatte für sie beide entschieden: Nicht „symbolträchtig“ bei Sonnenuntergang, sondern bei Tagesanbruch würden sie sich trennen, als Zeichen dafür, dass es irgendwie weitergehen würde, vielleicht sogar eines Tages mit ihnen beiden. „Wie romantisch!“, hatte sie verächtlich entgegnet. „Warum gehst du nicht gleich?“ Und obwohl sie heftig dagegen angekämpft hatte, hatten sich ihre Augen mit Tränen gefüllt, war ihre Umarmung von heftigen Weinkrämpfen erschüttert worden. So waren sie dagestanden, beide schließlich mit Tränen auf den Wangen, hatten sich wieder und wieder geküsst und am Ende damit getröstet, eine letzte schöne Nacht noch vor sich zu haben.

Und so lagen sie hier am Strand, umhüllt von Dunkelheit und tropischer Wärme, die sich auch die Nacht über halten würde. Ihr Zittern hatte aufgehört, jetzt bebten beide vor Erregung, nackt aneinander geschmiegt, von einer Wollust in die nächste gleitend gaben sie sich ihrer Begierde hin, die immer wieder stürmisch aufbrauste, um langsam doch abzuebben und sich einer sinnlichen Entspannung zu ergeben.

Sie musste eingeschlafen sein, mit jähem Erschrecken setzte sie sich auf, blinzelte in die Morgenröte. Sie spürte ihn nicht mehr. Sie blickte neben sich, auf die leere Stelle im Sand, nur noch der Abdruck seines Körpers war darin zu sehen. Er war fort.

Sie hatte es nicht eilig, zum Gästehaus zurück zu kommen. Er würde nicht mehr da sein, das war ihr klar. Sie genoss den schmeichelnd rieselnden Sand an ihren Füßen, noch war es leer am Strand, die Sonne war gerade aufgegangen, schien noch schwach in ihr Gesicht, kitzelte in ihrer Nase, während sie gemächlichen Schrittes auf die Promenade zusteuerte. Die Natur versucht mich aufzumuntern, dachte sie und fühlte sich merkwürdig leicht, gar nicht so unglücklich, wie sie es befürchtet hatte. Während sie allmählich in den Tag hineinwuchs, wich langsam der Schleier der Nacht zurück. Ihrer Nacht. Sie war vollkommen gewesen. Mehr ging nicht. Mehr würde aber auch nicht sein. Ein Grummeln kam aus ihrem Bauch, sie verspürte Hunger, beinahe Heißhunger. Auf was, wusste sie noch nicht. Aber sie wusste, sie würde leben, das Leben weiter genießen, auch ohne ihn. Drüben an der Mole standen einige Angler, schauten zu ihr herüber, lächelten wissend. Sie lächelte zurück und sie merkte, dass sie sie jetzt gerade bestaunten, vielleicht sogar bewunderten. Da musste sie laut lachen. „Untergang kann jeder!“, rief sie ihnen zu. Die alten Männer blickten sich erst verdutzt an, brachen dann in ein vielstimmiges Gelächter aus – und schauten ihr lange nach.

©Martin Bensen

Alba am Strand

Sie liebte den Herbst hier am Meer, etwas abseits vom Treiben rund um den Port Vell. An diesen Teil des Strandes verirrten sich bereits weniger Touristen, die angesagten Bars und die anderen Attraktionen des maritimen Teils Barcelonas lagen alle noch ein Stück weiter weg. Sicher, auf der Mole standen sie mit ihren Handys, fotografierten die Wolken, die sich jetzt am Abend von gelb über orange tiefrot färbten, um dann ziemlich schnell ins Silbergraue zu wechseln wie vorher schon das Meer, aber das sahen die meisten der Smartphone-Menschen schon nicht mehr. Auf ihrem Weg ins Hotel, Restaurant oder in eine der unzähligen Tapas-Bars nahmen sie vielleicht noch den Schattenriss der Frau wahr, die allein am Strand ganz nah an der Wasserlinie auf einer karierten Wolldecke saß. Sie hatte sie im Korb ihres Fahrrads mitgebracht, das neben ihr im Sand lag. Ohne jede Regung kauerte die ganz in Schwarz gekleidete Frau da, unverwandt aufs Meer hinausblickend, die angewinkelten Knie mit beiden Armen umfangend, als wollte sie sich schützen, sich klein machen, ganz bei sich sein.

Für Alba kam jetzt die schönste Stunde, die flüchtige Phase, in der die Wolken dunkler wurden, der Himmel dazwischen dunkelblau. Das war „ihre“ Stunde gewesen, an jenem Abend im Mai, an dem sie sich hier zum ersten Mal geküsst haben. Sie hatten noch die Glut des sonnigen Tages auf der Haut und das Salz des Meeres auf den Lippen. Den ganzen Nachmittag waren sie an diesem Stück Strand geblieben, unbehelligt von den zahlreichen Spaziergängern, Joggern und Radfahrern, die ein ganzes Stück weiter oben zwischen Hafen und Bar-Meile pendelten. Selbst jetzt im November, ließ das Treiben auf der Strandpromenade kaum nach. Kein Wunder, zogen die Urlaubsflieger doch immer noch wie an einer unsichtbaren Schnur am Horizont vorbei, um einige Kilometer weiter südlich ständig neue Gäste der katalanischen Hauptstadt auszuspucken. Obwohl auch sie vom Tourismus lebte, mochte Alba diese Seite Barcelonas am wenigsten, jetzt erst recht, denn alles war so unwichtig geworden seit dem Tag, an dem er ohne ein Wort spurlos verschwand.

„AJ & JA“ – die Anfangsbuchstaben von Alba Jimenez und Jordi Alvarez schrieb sie in den Sand, so wie an den vielen Abenden zuvor und wie an dem unbeschwertesten aller Tage, dem Tag, an dem sie sich unsterblich in Jordi verliebte. Nur ihre Initialen malte sie dorthin, sie waren in ihrer Spiegelbildlichkeit beinahe magisch, zwei Seiten einer Medaille, zwei Menschen untrennbar miteinander verbunden. Kein Herz drumherum, das war nicht nötig und allenfalls kitschig. Wie über so vieles waren sie sich beide auch darüber sofort einig gewesen. Und sie beide hatten mit Wonne zugesehen, wie das Meer näher kam, erst an ihren Namen züngelte, um sie dann mit einer der länger ausholenden Wellen ganz in sich aufzunehmen. In diesem Moment hatten sie sich leidenschaftlich geküsst, mit weit geöffneten Mündern, gerade so, als würden auch sie sich gegenseitig verschlingen wollen. Später, nach der blauen Stunde hatten sie sich im Schutz der Dunkelheit, hinter den großen Steinen der verwaisten Mole geliebt. Ein Frösteln erfasste Alba. Jetzt war alles anders, jetzt schrieb nur noch sie ihre magischen Buchstaben in den Sand. Und das Meer im ewigen Drang der Gezeiten holte sich ihre Namen nur noch unter ihren Augen, nahm sie wie alles, was ihm zu nahe kommt. Wie Jordi.

Er war wohl aus freien Stücken gegangen, das hatte sie nach Tagen ruheloser Suche und hartnäckiger Fragerei schließlich schmerzvoll herausbekommen. Zuvor hatte sie in jeder freien Minute im Internet recherchiert, hatte immer wieder auf seiner Handynummer angerufen, die aber offenbar nicht mehr gültig war. Alle ihre Versuche waren erfolglos geblieben, sie musste etwas unternehmen. Unglücklicherweise hatte sie nur ein etwas unscharfes Foto von ihm, Teil eines albernen Porträts von ihnen beiden, das sie aus einer Laune heraus an einem Passbild-Automaten gemacht hatten. Sie zeigte es im Hafen herum, in den Büros und unter einigen bekannten, zumeist aber unbekannten Hafenmitarbeitern. Ein alter Fischer, das Hafen-Faktotum, wie ihn die Leute etwas abschätzig nannten, hatte ihn schließlich erkannt, ein am Pier tätiger Hafenbediensteter wollte ihn ebenfalls gesehen haben, wie er auf einem Kreuzfahrtschiff anheuerte. Der Luxuskreuzer fuhr unter maltesischer Flagge, sein Betreiber saß allerdings in Deutschland, genauer gesagt in Hamburg. Doch als nach zeitraubender und auch kostspieliger Recherche weder Reederei noch Reiseveranstalter von einem Jordi Alvarez wussten und die Personenbeschreibung auf keinen der Schiffsbeschäftigten voll und ganz zutraf, gab es nur noch eine Möglichkeit. Alba fuhr nach Calella, ein Stück weiter nördlich die Küste rauf, bekannt durch seinen historischen Stadteil Palafrugell mit dem Port Bo und seinen weißen Häusern. Von hier, hatte Jordi gesagt, stamme er. Doch alles Fragen und Recherchieren verlief im Sande, offenbar hat es hier nie einen Jordi Alvarez gegeben. Und so reiste Alba nach drei Tagen zwischen Hoffen und Frustration wieder ab, äußerlich gefasst, doch nach innen leer und trostlos. Sie musste erkennen, was offensichtlich war: Er hatte sie die ganze Zeit getäuscht und belogen. Trotz ihrer Wut und Verzweiflung und auch wenn sie einfach nicht verstand, warum er über Nacht verschwunden war, wuchs mit jedem Tag ohne Jordi eine unbändige, schmerzvolle Sehnsucht nach ihm, wurde die Liebe für den Mann ihres Lebens, für den sie ihn doch immer noch hielt, nicht etwa schwächer, sondern grub sich umso tiefer in ihr Herz. Natürlich meldete sich ihr Verstand; ihr war bewusst, dass alles gegen Jordi sprach. Nicht zuletzt ihr Vater redete ihr ins Gewissen, sah mit Bekümmerung, wie seine Tochter litt und wusste doch keinen Weg, sie zu trösten. Der Mann, der plötzlich in seiner Bar stand, hatte auch ihn, den an Lebenserfahrung scheinbar überlegenen Pedro Jimenez, getäuscht, hatte sein Vertrauen, das im Angesicht seiner glücklichen Alba schließlich über sein Misstrauen siegte, schmählich missbraucht. Pedro war mehr als wütend auf diesen Lump und doch durfte er den bohrenden Zorn keinesfalls seiner trauernden Tochter zeigen, die sich wieder ganz in schwarz kleidete, was ihn zusätzlich verstörte. Auf so schändliche Weise kam nun auch die Trauer um ihre Mutter, seine Frau, wieder zurück. Die Wunden, die ihr tödlicher Unfall damals gerissen hatte, würden wohl nie heilen. Ohne Zweifel machte ihn jetzt auch das Leiden Albas krank und mehr als einmal flehte Pedro das Bild seiner verstorbenen Frau um ein Zeichen an, einen Rat, den sie ihm zu Lebzeiten aus gutem Herzen gegeben hätte. Alba, die nach dem Tod ihrer Mutter ihrem Vater zwar nicht die Frau, aber doch die helfende Hand in Küche und Bar ersetzen konnte, musste sich selber helfen, sich wieder in ihrem seelischen Alleinsein einrichten. Der Alltag half ein wenig, es gab weißgott genug zu tun. Aber wenn sich die Stille der Nacht über das alte Fischerhaus mit der Bar senkte und sie oben in der Wohnung in ihrem Bett lag, weinte sie, wünschte sie sich ihren Jordi trotz allem so sehnlich zurück. Sie würde ihm verzeihen, das versprach sie ihm mit Nachdruck in solchen trost- und schlaflosen Stunden, sein blasses Foto in ihren gefalteten Händen. Kann denn die Liebe nicht alles schaffen? Noch immer schöpfte sie Hoffnung aus den tief empfundenen Momenten des Glücks, Momenten, von denen es so viele gegeben hatte – bis zum 4. Juli, dem Tag, an dem Jordi Alvarez, oder wie immer dieser Traummann hieß, über Nacht spurlos verschwand.

***

Alba schaute weiter aufs Meer hinaus, dessen silbergrauer Glanz sich langsam verlor, um bald der Schwärze der Nacht zu weichen. Wie immer in den letzten Wochen glimmten jetzt Erinnerungen in ihr auf, wärmten sie gegen den kühlen Wind, der nach Sonnenuntergang von der hohen See her Richtung Land wehte. An einem Tag Anfang Mai, es dämmerte schon, hatte er plötzlich dagestanden, weißes Hemd, schwarze Hose, mit einem strahlenden Lächeln, umrahmt von langen braunen Locken. Alba war gerade dabei gewesen, einen Tisch abzuräumen, als sie mit Gläsern in der Hand abrupt stoppte und erstarrte. Für einen Moment wurde es still in der Bar, am Stammtisch mit den fünf alten Männern verstummte die bis dahin lauthals geführte Debatte und hinter der Bar stellte sogar Pedro die Wermutflasche leiser ab als sonst. Alle Blicke waren auf den Fremden gerichtet, in dessen Lächeln sich nun etwas Unsicherheit mischte. Alba stand immer noch wie angewurzelt da, als sich der Wortführer am Stammtisch regte und mit heiserer Stimme rief: „He, Pedro, hast du dir einen Kellner bestellt?“ Die anderen, dankbar für den Scherz, fielen in sein Gelächter ein, Pedro verzog das Gesicht zu einem müden Grinsen und Alba löste sich endlich aus ihrer Erstarrung. Weil sie wie ihre Mutter ein gutes Herz hatte, bot sie dem Mann einen Tisch an. Der Fremde zögerte, wünschte dann aber lieber am Tresen zu sitzen, wobei sein Blick über die wenigen, aber von Alba mit Liebe gemachten Tapas glitt. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen, denn noch immer schaute er auf die mundgerechten Köstlichkeiten hinter Glas, zeigte auf die Pescaditos fritos, die kleinen frittierten Sardinen, und bekam endlich mit schüchterner, aber durchaus angenehmer Stimme heraus, dass er dazu gerne einen Wermut trinken würde. „Kommt sofort!“, brummte Pedro wenig freundlich, er hatte natürlich bemerkt, dass der Mann seine Wirkung auf Alba nicht verfehlte. Sie wiederum fragte freundlich, ob sie lieber ein paar Fische frisch frittieren solle, doch der Fremde schüttelte den Kopf und sah sie dabei herzerwärmend an. Am Stammtisch war das übliche Murmeln zu hören, aber den alten Männern, allesamt ausgediente Fischer mit tiefen Falten, schiefen Zähnen und einer schlechten Kinderstube, entging nichts. So oft verirrte sich um diese Zeit noch kein Fremder in ihre Bar, die über den Winter ihr zweites, eigentlich sogar erstes und einziges Wohnzimmer war. Sehr zum Ärger Pedros, der nach Wochen des Anschreibens immer mit Nachdruck und unter großem Murren seiner „Compañeros“ das ausstehende Geld eintreiben musste. Er mochte sie ja und wusste, dass auch sie nicht viel hatten, aber wovon sollten Alba und er sonst leben, geschweige denn die Bar betreiben? Alba war schon bescheiden genug, ging nie aus, schmiss ohne Murren Küche und Gastraum, also eigentlich den ganzen Laden. Damit nicht genug: sie verdiente nebenher noch eine respektable Summe hinzu, indem sie vormittags als Zimmermädchen in den großen Touristen-Hotels am Hafen arbeitete. Ohne dieses Geld würden sie nicht über die Runden kommen, das wussten beide, zumal jetzt, denn selbst in der Hauptsaison verirrten sich nicht die allermeisten Touristen ins Innere des alten Fischerviertels, an diesen Abschnitt des Carrer del Baluard, der zu weit vom Meer entfernt war, um mehr als ein paar Zufallsbrosamen vom Massentourismus abzubekommen. Die meisten Gäste blieben in den Strandbuden oder den zahlreichen Restaurants im Port Vell hängen. Ein Besuch von einem Fremden, noch dazu von so einem attraktiven, erfreute Alba, mit stillem Vergnügen wischte sie schon zum zweiten Mal das andere Ende der Theke und wünschte sich insgeheim, dass der Mann noch eine Weile bliebe.

„Alba! Der Gast hier hat dich was gefragt.“ Ihr Vater schaute mürrisch, der Fremde schenkte ihr dagegen ein reizendes Lächeln, schob sich aber fast zeitgleich einen frittierten Fisch in den Mund. „Sind Sie die Tochter des Hauses?“ wiederholte er seine Frage kauend. „Will wer wissen?“, fragte Alba nun patzig zurück, sie hatte ihren Stolz und konnte trotz seines attraktiven Aussehens nicht darüber hinwegsehen, wie unhöflich er sich verhielt. „Oh, entschuldigen Sie, Senyoreta“, er stand mit einem Ruck auf, schluckte hastig den Bissen runter und streckte ihr seine Hand entgegen, „wie unhöflich von mir. Ich heiße Jordi. Ich bin heute mit meinem Kreuzfahrtschiff angekommen, habe dort…“ – er blickte kurz Richtung Stammtisch, an dem die Männer das Geschehen neugierig verfolgten, „… tatsächlich als Kellner gearbeitet, bin jetzt aber auf der Suche nach einem Job in Barcelona, denn ich möchte hier gerne den Sommer verbringen.“ Ein Raunen ertönte am Nebentisch, dem vorlauten Alten klopften seine Kumpanen auf die Schulter, „wussten wir‘s doch.“ „Bei uns gibt’s nix zu holen“, mischte sich Pedro ein, „wir schaffen das gut alleine.“ Der Fremde hielt noch immer Albas Hand. „Mein Vater hat recht, kein guter Startpunkt für eine Jobsuche in Barcelona. Und besseres Benehmen sollten Sie auf Ihrem Luxusdampfer eigentlich auch gelernt haben.“ Weil der Mann jetzt betreten zu Boden guckte, wurde ihr Blick etwas milder. „Bo, ich heiße Alba.“, sagte sie schließlich. Der Mann, der sich Jordi nannte, sah sie erleichtert an. „Freut mich! Entschuldigen Sie bitte noch mal. Ich bin ziemlich müde. Kam hier zufällig vorbei, nachdem ich vor den Touri-Lokalen geflüchtet bin. Davon hatte ich genug an Bord, brauch das nicht auch noch an Land. Eure Bar hier hat mir gleich gefallen. Und jetzt,“ er schaute Alba schüchtern, aber zugleich etwas kokett an, „gefällt sie mir noch besser…“ Alba zog ihre Hand zurück und wandte sich ab, nicht ohne in sich hineinzulächeln. Es kam in letzter Zeit nicht oft vor, dass ihr jemand Komplimente machte. Abgesehen vielleicht von den schmachtenden Blicken manches Hotelgastes, über dessen schmutzige Phantasien sie erst gar nicht nachdenken wollte, bekam sie keinerlei Bestätigung. Dabei war sie, das wusste sie sehr wohl, alles andere als hässlich. Damals, als ihre Mutter noch lebte, war sie ein fröhliches Mädchen gewesen, hatte sie sich lebenslustig ins Nachtleben Barcelonas gestürzt und konnte sich vor Verehrern kaum retten. Oft kam sie mit einem gehörigen Schwips nach Hause, ohne auch nur einen einzigen Cent selber ausgegeben zu haben. Doch keines dieser nächtlichen Abenteuer hatte vor ihren Augen das Zeug für eine richtige Beziehung gehabt. Mit Jordi würde sich das ändern, würde zugleich die Phase dumpfer Traurigkeit zu Ende gehen. Alba ahnte es bereits an diesem Abend in ihrer Bar.

An den folgenden Tagen kam Jordi immer schon mittags, noch vor Öffnung, in die Bar. Er hatte eine günstige Bleibe ganz in der Nähe gefunden. Bald schon war auch der einstmals Fremde ein Stammgast geworden. Im Unterschied zu den alten Männern an ihrem runden Tisch nahe der Theke zahlte er aber stets sofort. Andererseits machte er keine Anstalten, sich einen Job zu suchen, wie er es angekündigt hatte. Viel lieber saß er am Tresen, unterhielt sich bestens mit Alba, während Pedro meistens stumm blieb. Waren die Gespräche zwischen ihm und Alba immer wieder durch ihre Tätigkeiten in Küche und Gastraum unterbrochen, bot sich Jordi bald an, ihr zur Hand zu gehen. Sie zögerte anfangs, ließ ihn dann aber doch und sah mit wachsender Begeisterung, wie leicht ihm die verschiedenen Tätigkeiten von der Hand gingen. Den Stammtisch und die wenigen Zufallsgäste erfreute er mit immer neuen flotten Sprüchen, kleinen Komplimenten und einigen Jongliereinlagen, auch wenn dabei schon mal das eine oder andere Glas zu Bruch ging und Pedro missmutig hinter dem Tresen grummelte. Wie Alba lebte aber auch er zusehens auf, ließ sich mitreißen von dem liebenswürdigen, humorvollen Wesen Jordis, dessen Wirken durch Hörensagen sogar einige Gäste mehr in die Bar lockte. Von den wenigen Mehreinnahmen wollte er jedoch nichts abhaben, trotzdem steckte ihm Pedro hier und da einen Schein zu. Nachts nach dem Zuschließen trank Jordi gerne einen letzten Wermut mit Alba und Pedro und war dabei durchaus zu tiefergehenden Gesprächen fähig und willens. Langsam bekamen sie einen Eindruck von seiner Persönlichkeit, lauschten seinen Erzählungen aus einem auch nicht einfachen Leben, das ihn früh von Zuhause, vorgeblich jener kleinen Stadt an der nördlichen Küste Kataloniens, weg und in die weite Welt geführt hatte. Er war wohl einige Jahre älter als Alba, die erst Anfang Mai ihren 24. Geburtstag hatte. Jordi machte nicht den Eindruck, als hätte er ein Ziel, er lasse sich gerne treiben, bummle durchs Leben, verdinge sich hier und da, was besseres gebe es doch gar nicht. Wenn er so redete, beneidete ihn Alba fast ein wenig, Pedro hielt davon erkennbar nichts, schwieg aber. Manchmal, beim letzten Wermut um Mitternacht wurde Jordi schwermütig, schwor dann, sein Leben zu ändern, sesshaft zu werden. Barcelona sei immer sein Traum gewesen, hier würde er gerne für immer bleiben. Dazu passte, dass er Alba von Abend zu Abend zärtlicher ansah. Das gefiel ihr und auch wenn sie meistens rechtschaffen müde war, hörte sie ihm aufmerksam, mehr und mehr auch mit schwärmerischen Blicken zu. Ihr Vater ließ die beiden gewähren, verabschiedete sich jetzt immer früher nach oben, machte sich gleichwohl seine durchaus sorgenvollen Gedanken.

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Alba zog die Knie noch enger an ihren Oberkörper, fror jetzt ein wenig. Sie nahm die Enden der Decke und hüllte sich darin so gut es ging ein. Wann war der Funke übergesprungen? Was war der magische Augenblick? Am letzten Sonntag im Monat Mai stand Jordi spätnachmittags mit einem Picknick-Korb unten vor der Tür. Die Bar hatte sonntags geschlossen, der Tag war wie gemacht für einen Ausflug an den Strand, ein Stück raus aus La Barceloneta. Die Sonne schien von einem makellos blauen Himmel, es war der erste heiße Tag des Jahres und die Aussicht auf kühle Getränke und kleine Snacks am Strand war zu verlockend, als dass Alba hätte Nein sagen können. Sie wusste, wo sie ungestört vom beginnenden Touristenrummel sein würden und er ließ sich von ihr bereitwillig an ihren Lieblingsplatz am Strand führen. Jordi hatte an alles gedacht, breitete eine Decke aus und wollte gerade Albas Hand nehmen, als sie in eine versteckte Mulde trat und strauchelte. Vom Ungleichgewicht überrumpelt fielen beide übereinander her. Ob gänzlich unfreiwillig, darüber stritten sie sich nachher immer wieder im Spaß und mussten auch dann noch genauso herzhaft lachen wie in diesem Augenblick des gemeinsamen Fallens, als sie sich unversehens liegend auf der Decke wiederfanden, einander erst verdutzt, dann immer tiefer in die Augen sahen, ihre Lippen zueinander fanden und sich mit wachsender Leidenschaft, aneinander schmiegten. Jordi hatte danach immer scherzhaft von „ihrem Sündenfall“ gesprochen. Wenn Alba an diesen ersten Kuss zurückdachte, spürte sie immer noch das Kribbeln, das sich wohlig über ihren ganzen Körper ausbreitete. Als sie sich endlich voneinander lösen konnten, war der Cava warm geworden. Sie tranken ihn dennoch mit Lust, ließen ihn sich von Mund zu Mund perlen, konnten sich nicht sattspüren an diesen prickelnden, immer wieder vollmundig aufbrausenden Küssen. Später lagen sie erschöpft und glückselig nebeneinander auf der Decke, hielten sich an ihren Händen und schauten in den Himmel. Ob sie wohl beobachtet worden waren? Es war ihnen egal. Als die Sonne bereits tief im Westen stand, sich weiter hinter ihnen die Promenade langsam leerte, setzten sie sich auf und schauten hinaus auf das abendliche Farbenspiel am Horizont. Jordi nahm den Korken in die linke Hand, legte Albas rechte auf seine und fing an, mit ihren beiden Händen vor ihren Füßen in den Sand zu malen. Ein A, ein J – ihre Initialen, ein & – gar nicht so einfach, aber er wusste, wie es ging – ein J und ein A. Dann legte er den Korken weg, zog sie auf die Decke zurück und ihre Hand an seine glatte, braungebrannte Brust. So küsste er sie sanft und mit weichen Lippen. Nein, das Herz mussten sie nicht malen, es klopfte wie wild in Alba. Als das Wasser begann, ihre Füße zu benetzen, sahen sie zu, wie ihre Initialen im Sand verschwammen, aufgesogen von einem bereits golden glitzernden Meer. Und während ihre Namen im ewigen Spiel der Gezeiten verschwanden, hatten sich ihre Herzen gefunden.

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Alba fror nun richtig – trotz ihres dicken Strickpullis und der warmen Wolldecke, in der sie noch immer eingehüllt nahe am Wasser saß. Zuletzt hatten sich Jordi und ihr Vater blendend verstanden. Pedro hatte mit wachsendem Wohlwollen verfolgt, wie gut der junge Mann alle Handgriffe in der Bar beherrschte. Langsam gewöhnte sich der Patró an den Gedanken, nur noch als guter alter Geist in der Bar zu stehen, sich schon mal zu seinen Leuten an den Stammtisch zu setzen oder mit einem Stuhl draußen in die Sonne. Als Jordi ihn dort das erste Mal sitzen sah, kam ihm eine Idee: Warum nicht draußen servieren? Drei Tische mit je vier Stühlen, dafür reichte der Platz vor der Bar gerade aus. Er organisierte die Möbel irgendwo für wenig Geld, Alba war ganz stolz auf Jordi. Der machte sich gleich ans Werk, war sich nicht zu schade, ein paar Flyer, die er auf Albas altem Laptop mit seinen Smartphone-Fotos gestaltete, zu kopieren und drüben am Strand zu verteilen. Und tatsächlich kamen neue Gäste, an manchen Tagen lief das Geschäft so gut, dass sie nachts nicht einmal mehr zu ihrem Wermut kamen, so müde waren sie alle drei. Schon bald ließ der Zustrom wieder nach. Jordi machte sich daran, neue Flyer zu produzieren, doch – und das bemerkte Alba leider viel zu spät – war er nicht mehr mit dem ursprünglichen Feuereifer bei der Sache. Einige Male verschwand er, dann sah ihn Alba bei einer ihrer Besorgungen zufällig in Strandnähe mit seinem Smartphone am Ohr unruhig auf und ab gehen. Obwohl es sie bedrückte, wagte sie nicht, ihn später danach zu fragen, welches Recht hatte sie dazu? Auch war Jordi am Abend, dem letzten vor seinem Verschwinden, wieder ganz der alte, drehte richtig auf und selbst der Stammtisch hatte immer noch seine Freude daran. So vergaß Alba die trüben Gedanken. Später in der Nacht war ihm der Wermut noch nicht genug, da zog er in ihrem Bett – längst war er zu Alba ins Zimmer gezogen – seine Geliebte sanft zu sich heran, schob ihr dünnes Nachthemd hoch und bedeckte ihren zarten Körper über und über mit seinen Küssen. Alba wusste nicht, wie ihr geschah, aber auch sie war jetzt wieder hellwach. Sie liebten sich diesmal auf eine ganz ruhige, fast meditative Art, lange und mit beinahe unerträglichen Genuss. Noch in den Nachbeben des letzten Orgasmus‘ und in den Armen ihres Jordi glitt Alba in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem sie erst spät am nächsten Morgen erwachte. Allein… Auch wenn sie gewusst hätte, dass es das letzte Mal sein würde, Alba hätte die Liebe nicht inniger auskosten können, im Gegenteil, düstere Gedanken oder auch nur eine Andeutung von ihm hätten ihr diese letzte Nacht wohl verleidet. Somit war sie Jordi auf eine Weise sogar dankbar dafür, dass er sie ahnungslos ließ – bei aller Trauer und Sehnsucht, die bis heute kaum nachgelassen haben.

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Jordi oder wie immer du heißt, wo bist du nur? Warum hast du mich verlassen? Ein Zittern ging durch die Frau am Strand. Was hat Alba nicht alles zusammenfantasiert. Am Ende hielt sie für die plausibelste Version, dass sie womöglich nicht seine einzige Liebe gewesen ist, dass er irgendwo doch eine Familie hatte, eine Frau und Kinder… Bei solchen Gedanken krampfte sich ihr Herz zusammen, wollte sie am liebsten ins Meer hinausschwimmen und am Ende für immer darin versinken. Einige Male stand sie in ihrer Verzweiflung schon hüfttief im Wasser, um dann doch den Verstand siegen zu lassen – und natürlich die Liebe zu ihrem Vater, dem es in letzter Zeit gar nicht mehr gut ging. Beide spielten mit dem Gedanken, die Bar zu schließen und zusammen mit ihrer Wohnung zu verkaufen. Doch die Fassungslosigkeit in den Gesichtern der alten Fischer hielt sie erst einmal davon ab. Viele traurige Tage lagen hinter Alba und auch Pedro, der mit seiner Tochter litt und dadurch noch hinfälliger wurde. Dabei war er längst nicht der älteste unter seinen Leuten, was sie ihm auch gerne immer wieder vorhielten und es dabei sogar gut meinten. Als der November begann und noch einmal wunderschöne Tage mit blauem Himmel und Temperaturen um die 20 Grad spendierte, lebten Alba und Pedro etwas auf. Weil jetzt wirklich keine Gäste mehr kamen, schob Pedro seine Tochter fast gewaltsam vor die Tür, sie müsse mal rauskommen, solle doch ruhig etwas unternehmen. Alba zögerte anfangs, doch dann begann sie ihre morgendlichen Radtouren zum Strand auf den frühen Abend zu verlegen, Sonnenuntergänge, wenn auch nicht direkt über dem Meer, waren am schönsten dort zu genießen. Erst recht, wenn die Touristen nicht, wie morgens, erst kamen, sondern schon wieder gingen. So war sie auch an diesem Tag mit ihrem alten Rad an ihren Platz gefahren, vorbei an den Strandbuden, der riesigen Fischskulptur, die im Licht der untergehenden Sonne zu einem wahren Goldfisch wurde. Dort waren das Kasino und die Bars, die nach dem Strandbetrieb am Tag erst in der Nacht zur Hochform aufliefen. Um nicht ständig Touristen oder einheimischen Joggern und Skatern ausweichen zu müssen, hatte sie den gut ausgebauten Radweg gemieden, der irgendwie doch von allen genutzt wurde, und war auf der Straße gefahren, auf der zu dieser Jahreszeit nicht mehr ganz so viel Verkehr herrschte wie in den Sommermonaten mit den langen hellen Abenden.

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Nun wurde es Alba doch zu kalt, zitternd stand sie auf, faltete ihre Decke zusammen, hob ihr Rad auf und legte sie in den Korb. Ein ganzes Stück musste sie das alte Fahrrad durch den nachgebenden Sand schieben, bis sie die Strandpromenade erreichte. Nur noch wenige Fußgänger waren in der Dunkelheit unterwegs, die meisten Xinringuitos hatten inzwischen geschlossen. Dort hinten im Hafen prangte das gläserne Segel des „W Hotels“, das auch bei Nacht hell erstrahlte und zu einem modernen Wahrzeichen geworden war. Alba mochte den Protzbau nicht, er stand für alles, was nicht ihre Welt war, für die verlorene Kindheit, eine glücklichere Zeit, als das Fischerviertel noch lebendig war – als Mare noch lebte. Tränen stiegen ihr in die Augen, in solchen Momenten trostloser Einsamkeit hatte sie immer Zuflucht in ihrer Kirche gefunden, der Basílica Santa Maria del Mar. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es noch rechtzeitig zur Abendmesse schaffen und sogar vorher noch eine Kerze anzünden. Wie oft hatte sie in diesem äußerlich imposanten, innen jedoch erstaunlich bescheidenen Gotteshaus Trost gefunden, unter dem von Opferkerzen beschienenen Kreuz Jesu mit der Jungfrau Maria gebetet, für die Seele ihre Mutter und zuletzt umso inständiger für eine Rückkehr ihres über alles geliebten Jordi. Sie wählte den schnelleren Weg über die Hauptverkehrsstraße und fuhr zur Kathedrale des Meeres.

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Der Fahrer des SUV hatte sie nicht gesehen. Als er seine Kippe im Aschenbecher ausdrückte und gerade wieder aufschaute, vernahm er nur ein Scheppern, spürte wie der schwere Wagen rechts zwei kleine Hüpfer machte. Mit Verzögerung bremste der Mann, hielt endlich an und blickte verdutzt in den Rückspiegel. Einige Meter hinter ihm lag ein dunkles Bündel auf der Straße. Bis der Fahrer nach einer gefühlten Ewigkeit aus seinem Auto stieg, waren schon einige Menschen herbeigeeilt, hatten sich über die Unfallstelle gebeugt. Schockiert wurden sie gewahr, dass da eine dunkel gekleidete Frau auf der Straße lag, ihr Körper wirkte genauso verbogen wie das Fahrrad, das auf bizarre Weise mit ihr verbunden schien. Bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass der Lenker mit der einen Seite in ihrem Bauch verschwand, daraus tropfte eine schwarze Flüssigkeit auf die Straße. Der Notarzt kam schnell, aber auch er konnte nur noch feststellen, was alle bei ihrem Anblick sofort erkannt hatten. Die junge Frau war auf der Stelle tot gewesen.

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Die Tatsache, dass die Senyorita auf einem unbeleuchteten Fahrrad und zudem noch in komplett dunkler Kleidung die abendliche Hauptverkehrsstraße befahren hatte, ließen die ermittelnden Polizisten keinesfalls milder auf den Fahrer des SUV blicken. Wie die Befragung ergab, hatte der Unfallverursacher das nahe Spielkasino besucht und mit jeder verlorenen Partie ein Glas Brandy mehr intus. Die Blutuntersuchung ergab einen Wert von 1,6 Promille. Er würde erst einmal in Gewahrsam bleiben. Dagegen gestaltete sich die Suche nach der Identität des Unfallopfers schwierig. Die junge Frau hatte keine Papiere dabei, der einzige Hinweis war ein verblichenes Foto in einer Plastikhülle, das neben ihrem Körper lag und einen etwa dreißigjährigen attraktiven Mann zeigte. Ein Teil des Bildes, wahrscheinlich der mit der Frau, war abgetrennt worden, doch immerhin war auf dem verbliebenen Stück die Hand der anderen Person zu erkennen, mehr noch: die Hand hielt ein Stück Papier in die Kamera. Am Computer konnte das Bild so weit rekonstruiert werden, dass ein Flyer sichtbar wurde und sogar der Name einer Bar. Zeitgleich mit diesem Ergebnis war ein Anruf bei der Polizei eingegangen. Eine ältere Frau hatte sich nach einer seit Stunden vermissten Senyoreta erkundigt, im Auftrag des Vaters. Alles weitere war Routine – zumindest für die Behörden. Als zwei Polizisten zur Bar fuhren und die traurige Nachricht persönlich überbrachten, brach der arme Mann unversehens zusammen. Trotz sofortiger Hilfe und anschließender Behandlung im Krankenhaus wachte Pedro nicht mehr auf.

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An einem kalten und grauen Dezembermorgen ging im Hafen von Barcelona ein Mann von Bord, der ohne Umschweife den Weg zur Barceloneta einschlug. Er hatte einen kleinen Seesack geschultert und trug eine dicke Jacke, mit seiner blauen Wollmütze sah er aus wie ein Seemann längst vergangener Zeiten. Im Fischerviertel, im Carrer del Baluard, klingelte er vergeblich an einigen Wohnungstüren, schließlich erkannte ihn einer der alten Stammgäste aus der Bar als den Mann, der Trauer und Verderben über die Familie Jimenez gebracht hatte. „Da! Schauen Sie, was Sie getan haben!“ bekam er zu hören, Türen wurden zugeschlagen und öffneten sich nicht mehr für ihn. Langsamen Schrittes ging der Mann hinüber zur geschlossenen Bar, las die Traueranzeige an der heruntergelassenen Jalousie, lehnte seine Stirn gegen das mit Graffiti verzierte Rolltor und verharrte so eine ganze Weile. Schließlich wandte er sich zum Gehen, verließ mit gesenktem Kopf das Blickfeld der Nachbarn, die allesamt hinter ihren Gardinen lauerten. Noch einige Male wurde der Mann gesehen, immer an derselben Stelle am Meer, ein ganzes Stück außerhalb der Barceloneta, immer von nachmittags bis weit nach Sonnenuntergang. Die Menschen auf der Promenade wunderten sich, dass dieser Mann an derart unwirtlichen Tagen über Stunden reglos am Strand saß, einfach so im nasskalten Sand, und unverwandt aufs Meer hinaus starrte. Kurz vor Weihnachten blieb die Stelle leer. So lautlos, wie er gekommen war, war er wieder verschwunden. Und diesmal fragte niemand mehr, warum.

©Martin Bensen