Alles Gute lieber Geburtstag
Du kannst dich gehackt legen
In fünfzehn mal vier Portionen
Halb so viele kriegst du noch
Höchstens
Alter
Das Leben endet beim Discounter
Bleiche Gestalten im Novembergrau
Freudlose Gesichter im Neonlicht
Der fahle Morgen gehört ihnen
Den Nutzlosen und Aussortierten
Manche wollen nur etwas Wärme
Andere kaufen gerade das Nötigste
Was sie zum Leben noch brauchen
Das so trostlos wie die Ladenregale
So unüberlebenswichtig
So sterbenslangweilig ist
Alt werden
Ob ich eine Krankenfahrt gebucht habe, will der Taxifahrer wissen, sieht dann, wie ich zu meinem Auto gehe, dreht sich wieder zum Eingang des Dialysezentrums, das gleich neben dem Supermarkt liegt.
Ich verneine noch blöd, stutze, sehe mich plötzlich mit den Augen des Fahrers, wie ich weißhaariger Mittfünfziger nach vorne gebeugt, weil auf mein ihm verborgenes Handy blickend, mehr schlurfe als gehe.
So hielt er, der deutlich Ältere, mich wohl für älter als ich bin, vielleicht für verwirrt, nicht mehr auf Ballhöhe, für einen seiner üblichen Fahrgäste, meist hochbetagt, hinfällig, auf Hilfe angewiesen.
Alt bist du – du bist alt, mit diesem Mantra fahre ich heim, sehe unterwegs einen kurzatmigen Alten an der Hauswand lehnen, einen spindeldürren Grauschopf humpelnd joggen.
An der roten Ampel sitzt im Auto neben mir ein Fahrer mit lichtem Haar, der mit leerem Blick nach vorne starrt, vielleicht wie ich sinniert, was war, und schließlich lustlos weiterfährt.
©Martin Bensen
Altes Leben
Wenn das Tischgespräch verstummt
Wie nach Jahren immer öfter
Sitzen sie krumm und starren
Mehr ins Leere als aufs Leben
Pulen dann in Backenzähnen
Mit der Zunge ihren Speisen nach
Spucken unwillkürlich Bröckchen
Wenn das Tischgespräch erneut beginnt
Alte Liebe (II)
Im Schatten ist es noch recht kühl. Das Meer ist über Nacht zur Ruhe gekommen, nur im letzten Auslauf wirft es noch kleine Wellen an Land. Obwohl ich Urlaub habe, bin ich früh wach, habe ich mich mit einer Liege und einem Buch an den Strand begeben. So früh am Morgen sind nur Bedienstete der benachbarten Ferienanlage und – ich muss es leider gestehen – ältere Menschen unterwegs, barfüßig am Meer entlang watschelnd, hier und da sich nach irgendeinem Treibgut bückend. Genau besehen sind es ausschließlich Männer, die meisten braun gebrannt und mit imposanten Wölbungen über ihrer Männlichkeit, die an diesem Strandabschnitt zum Glück in mehr oder weniger knapp bemessenen Badehosen verbleibt.
Dann traue ich meinen Augen nicht: War dieser alte Mann nicht schon vor langer Zeit hier, als meine inzwischen erwachsenen Kinder noch klein waren? Als wären all die Jahre nicht gewesen, steht er dort hinten im seichten Wasser, fischt mit seiner Reuse im Schlick nach Muscheln. Er scheint gar nicht gealtert zu sein – oder er wirkte damals einfach schon so alt, wie er als einziger weit und breit über den Stil seines Drahtkorbs gebeugt, bis zur Hüfte im Wasser stehend geduldig das Meer durchpflügte. Einmal hatte er unseren neugierigen Kindern seinen Fang gezeigt, lauter kleine bunte Muscheln. Damals hatte er sein Bäuchlein gerieben und einen Wohllaut von sich gegeben. Dass er damit ein Spaghetti-Mahl vom Feinsten zaubern werde, hatte er mit einer Kusshand angedeutet, hatten die Kinder aber nicht verstanden. Sie verwendeten diese bunten Muschelschalen als Schmuck für ihre Sandburgen. Ob er die Meeresfrüchte nur für sich einsammelt? Oder bringt er sie nach Hause und seine Frau macht diese feinen Spaghetti alle vongole, die sie in trauter Zweisamkeit bei Meeresrauschen und Kerzenschein genießen? Ich wüsste nicht, wie ich ihn danach fragen würde, selbst wenn ich mich traute, also belasse ich es bei dieser schönen Phantasie.
Von der Anlage kommt ein älteres Ehepaar, schlägt sein Lager mit Liegen und Sonnenschirm nahe, viel zu nahe, bei mir auf. Das Problem: Sie quatschen ohne Unterlass. Normalerweise liebe ich die italienische Sprache, dieses lebendige, leidenschaftliche und melodiöse, oft mit theatralischen Gesten verzierte Sprechen. Doch bei den beiden ist es, was es einst wohl war, dies alles nicht mehr. Sie sitzen wie Statuen in ihren Stühlen, bronzefarben in der Sonne leuchtend, aber mit starren, fast verhärmten Mienen. Nur ihre Lippen bewegen sich, formen Rede und Gegenrede, in stetem Wechsel, teils schrill, teils heiser. Alt und eingefahren.
Ich begebe mich näher ans Wasser, dahin, wo selbst das leise Meeresrauschen die anderen Geräusche übertönt, mich und meine Gedanken in Schwingung bringt. In dem Roman, den ich gerade lese, geht es um zwei Menschen, die sich über ihre Leidenschaft für La Mettrie ineinander verlieben, nach nur einer realen Begegnung auf der Terrasse am Bodensee sich über die Ferne entwickelnd, über Monate hinweg „fernmündlich“ und schreibend – er ein verheirateter „Privatgelehrter“ am schwäbischen Meer und sie eine 40 Jahre jüngere Doktorandin am anderen Ende des großen Teichs, in den USA. Gerade will ich das nächste Kapitel mit dem vielsagenden Titel „Auseinanderkommen“ beginnen, in dem sich die Beiden endlich und jetzt in erwartungsvoller Liebe körperlich begegnen werden, da nähert sich ein zweites Paar von der rechten Strandseite her.
Schon gestern habe ich sie genauso, nur in anderer Richtung, am Wasser entlang laufen sehen. Genauer: sie mit strammen, gleichmäßigen Schritten, energischer Miene, umrahmt von einer rötlich-dunkel gefärbten Kurzhaarfrisur, eine eher stämmige Frau – er, ein hagerer Mann, mit doppelter Schrittzahl, der schwachen Andeutung eines Laufschritts, mit dünnem, grauem Haarschopf, faltigem Gesicht und hängender Unterlippe, wie ein Hündchen um sie herumtänzelnd. Nicht dass er sich einfach nur in doppelter Frequenz bewegt, er bespielt die (seine?) Frau geradezu, indem er ohne Unterlass redet, ihr vielleicht etwas erzählt. Doch weder wendet sie den Kopf, noch lässt ihr Gesicht irgendeine Regung erkennen. Hört sie ihm überhaupt zu? Warum lässt er nicht von ihr ab? Ist sein ganzes Streben, sie einmal zum Lächeln, vielleicht aus dem Tritt zu bringen? Beinahe auf meiner Höhe angekommen, strauchelt er im tieferen Sand. Sie marschiert weiter auf festerem Grund. Er wechselt auf ihre Seite, gerät dadurch hinter sie, verstummt, aber tänzelt weiter mit seiner hängenden Unterlippe, die plötzlich etwas trauriges an sich hat, gerade so, als hätte der ganze Mann aufgegeben, resigniert. Dann umspielt Wasser seine Füße, er lächelt, gewinnt offenbar neue Energie, denn jetzt holt er wieder auf, tänzelt an sie heran. Wieder auf gleicher Höhe bewegen sich seine Lippen, formen wohl weitere Geschichten. So entfernen sich die beiden aus meinem Blickfeld…
Der tänzelnde Charmeur und seine unnachgiebige Angebetete? Der Hofnarr und die Fürstin? Übermut hier, Kontrolle dort? Wie gerne würde ich die Beiden später sehen, beim gemeinsamen Drink, im Alltag. Tänzelt er dann weiter, während sie ihn einfach (links liegen) lässt? Oder holt sie ihn herunter von seinem zu schnellen Takt, seiner Unrast, seiner am Ende vielleicht doch nicht vergeblichen Werbung um ihre Gunst – herunter auf ein Gleichmaß, einen Takt, auf den sich beide Gemüter einpendeln, auf dass ihre Herzen noch lange mit- und füreinander schlagen können?
Ein versöhnlicher Gedanke – Phantasien eines ebenfalls in die Jahre gekommenen Mannes frühmorgens am Strand. Ich nehme mein Buch von meinem auch nicht mehr flachen Bauch, lese gespannt weiter, was die Phantasie des Erzählers mit seinem Paar anstellen wird. Denke nach über das Leben, das jeder nur selbst er-leben kann. Die Liebe, die alterslose, die wahre und ewige? Nein, sie ist veränderlich, vergänglich. Am schönsten und am vollkommensten ist sie wohl nur in der Phantasie. Im wirklichen Leben am ehesten an jenem zauberhaften Anfang, im Augenblick ihres Entstehens…
©Martin Bensen, 9. Juni 2017
Leseempfehlung: Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Reinbek bei Hamburg, 2006.
Alte Liebe
Düsseldorf Hauptbahnhof. Es ist später Nachmittag und der größte Teil der Reise liegt bereits hinter mir. Inzwischen habe ich den Großraumwagen des IC ganz für mich allein, die meisten Reisenden sind in Köln ausgestiegen. Eigentlich hätte es längst weitergehen sollen, aber der Zug steht immer noch. Jetzt geht die Tür auf, ein älteres Paar kommt schnaufend herein. Die Frau, eine zierliche, aber energisch wirkende Person mit rötlich gefärbtem Haar – ich schätze sie auf etwa Achtzig – geht voraus, kopfschüttelnd und mit zitternden Lippen. Sie steuert auf den freien Tisch gegenüber zu, setzt sich leise stöhnend in Fahrtrichtung ans Fenster und deponiert ihre altmodische Handtasche auf dem Nebensitz. Der Mann, einen guten Kopf größer als sie, grau und dünn, folgt ihr leicht gebückt, nimmt seinen Hut vom spärlich behaarten Kopf, bleibt aber stehen. Er zögert, schaut zu Boden. Die Frau hat sich abgewendet, sieht aus dem Fenster, noch etwas außer Atem. Der Mann wartet, tappt unbeholfen von einem Bein auf das andere.
Ich kann mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Was passiert hier? Noch immer schwankt der Mann leicht hin und her, während die Frau wie unbeteiligt aus dem Fenster schaut. Sind sie etwa kein Paar, gehören sie gar nicht zusammen und hat sie ihm womöglich den Platz weggeschnappt? Während ich noch grüble, zerschneidet eine scharfe Stimme die Stille. Nur ein Wort. Ein Kommando. Augenblicklich geht ein Ruck durch den Körper des alten Herrn. Wie ein Roboter setzt er ein paar kleine Schritte zur Seite, dann plumpst er ungelenk auf den Platz gegenüber. Kaum dass er sitzt, beugt er seinen Oberkörper vor, bleibt sein Blick an der fleckigen Tischplatte haften. Die Frau hat sich wieder abgewendet, schaut aus dem Fenster.
Mein Buch habe ich längst zugeklappt. Ich gebe vor zu dösen, lasse meine Augen aber einen Spalt weit offen, um die Beiden heimlich weiter beobachten zu können. Mit einem Ruck setzt sich der Zug in Bewegung. Als wäre dies das Signal, wendet sich die Frau schlagartig dem verkrampft sitzenden Mann zu, beugt sich vor, stützt ihre Ellenbogen auf den Tisch und hebt die rechte Hand. Ein ausgestreckter Zeigefinger deutet jetzt auf den Mann, sticht in die Luft, wippt auf und nieder. Fast unmerklich bewegen sich die Lippen der Frau, aus ihrem Mund strömen Worte, gleichmäßig und ohne Pause, aber so leise, dass ich sie nicht verstehen kann. Auf den Mann scheinen sie eine verblüffende Wirkung zu entfalten: Es ist, als krümme er sich unter Schlägen. Noch immer vornüber gebeugt, den Blick gesenkt, zuckt sein Körper im Sprechrhythmus der Frau, windet sich unter ihrem schwingenden Zeigefinger, gerade so, als würde er an einem unsichtbaren Faden gezogen wie eine Marionette. Die Frau redet weiter eindringlich auf ihn ein, ihre Augen starr auf den geduckt kauernden Mann gerichtet. Was mich verblüfft: Ihr Gesicht hat eigentlich gar nichts Hartes an sich und doch geht von der ganzen Person eine bohrende Strenge aus, die selbst mich unangenehm berührt. Ich muss aufpassen, nicht ebenso zu erstarren wie der Mann oder wenigstens beide nicht blöd anzustarren, so sehr nimmt mich die Situation am Nachbartisch gefangen. Der Mann nickt jetzt ständig mit dem Kopf, sein Körper ein einziger Ausdruck der Unterwerfung.
Kaum zu glauben, aber der Zug wird schon wieder langsamer. Wir erreichen Dortmund. Ging das wirklich die ganze Strecke so? Oder bin ich eingenickt und habe das alles nur geträumt? Während der IC mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof einfährt, lässt die Frau von dem Mann ab. Sie lehnt sich langsam zurück und schaut wieder aus dem Fenster. Vorsichtig richtet sich ihr Gegenüber auf, den Blick noch immer gesenkt. Der Zug kommt zum Stehen. Mit einem Ruck stemmt sich die Frau hoch, packt ihre Tasche und marschiert zielstrebig zum Ausgang. Diesmal reagiert der Mann sofort, beinahe geschmeidig erhebt er sich aus seinem Sitz, rückt seinen Hut zurecht und folgt ihr. Ich kann meine Neugier nicht zügeln, setze mich hinüber und sehe gespannt hinaus auf den Bahnsteig. Da kommen sie. Mit schnellen Schritten gehen die Beiden an meinem Fenster vorbei auf die Treppe zu. Fassungslos verfolge ich, was dann passiert: Auf der obersten Stufe bleiben sie nebeneinander stehen. Sie schauen sich an. Sie blickt zu ihm auf. Zaghaft, beinahe schüchtern, schiebt sie ihre rechte Hand in seine linke. Beide lächeln jetzt, halten sich fest. Dann gehen sie langsam die Treppe hinunter. Ein trautes Paar, Hand in Hand.
Auf einer meiner vielen Zugreisen notiert, irgendwann in den späten 80ern…
©Martin Bensen