Ein letztes Aufbäumen tief in seinem Inneren, ein letzter Funke von Widerwillen, dann ist alles gut. Jetzt wird Frieden sein. Eine gnädige Schläfrigkeit übermannt ihn, lässt ihn endgültig vergessen, dass er unter Drogen steht. Sie stellen seinen Körper ruhig, seit Tagen schon. Oder sind es Wochen? Er hat kein Empfinden mehr für Zeit oder für den Ort, an dem er ist, noch erinnert er sich daran, wie er hierher gekommen ist. Wenn er überhaupt noch einmal erwachte, würde er vielleicht nicht mehr wissen, wer er ist.
Er hat die dunkle Wolkenwand unterschätzt. Hier an der Küste kann der Wind schnell drehen und Sturmstärke erreichen. Das hat schon einige Segler das Leben gekostet. Selbst die Ostsee kann grimmig werden, das weiß er von einigen Schiffstouren aus Kindheitstagen, an die er sich nicht allzu gern erinnert. Jahrelang ist er mit seinen Eltern nach Fehmarn gefahren, nicht nur im Sommer, wenn sich die Menschen an heißen Stränden drängten, wenn er fast jedesmal Fieber bekam, einen Sonnenbrand ohnehin – sondern auch im Herbst, meist für ein langes Wochenende, wenn sie sich schon warm einpacken mussten zu ihren langen wie langweiligen Strandspaziergängen, manchmal sogar im Frühling, wenn das Meer noch winterkalt war und die Sonne noch nicht so brannte. Er hasste diese Urlaube. So sehr, dass es ihn später nur noch in die Berge zog. Lange Zeit genoss er es, in einsamen Hütten zu wohnen, seine Wanderungen zu machen, stramme Tagestouren, die er sorgfältig plante, auch so, dass er nicht mehr als nötig mit anderen Menschen in Kontakt kam. Er war ein Einzelgänger, ist es bis heute und er ist es aus Überzeugung.
Nach fast fünfzig Jahren also wieder Ostsee. Weiter östlich diesmal, dort, wo er als Kind nie war, besser gesagt nie sein durfte, weil es DDR-Gebiet war. Vorpommern klingt immer noch fremd in seinen Ohren. Seine Großmutter hat manchmal dieses seltsam düstere Lied vom Pommerland gesungen, das abgebrannt sei, während die Mutter doch angeblich dort ist und der Vater im Krieg. Seine Eltern lächelten nur schief dazu, sangen nie mit. Sie mochten das alte Lied nicht, denn sie hatten den Krieg noch am eigenen Leibe erfahren müssen, wie eigentlich die Großmutter auch, die immerhin ihren Mann verlor, den Vater seiner Mutter, seinen Großvater. Je mehr er über Kriege lernte, besonders über den Zweiten Weltkrieg, desto rätselhafter erschien ihm, wie seine Eltern und seine beiden Großmütter mit den Erlebnissen und Verlusten umgehen konnten. Nur einmal ließ ihn seine Lieblingsoma kurz in ihre Seele blicken, als sie von ihrem Mann, seinem Großvater, erzählte, plötzlich innehielt, seinen Namen nannte und laut schluchzte. Noch in der Bewegung, mit der sie eine Träne wegwischte, holte sie eine Kartoffel aus dem Eimer und begann sie zu schälen wie die anderen, die sich bereits in der Schüssel mit Wasser befanden, und sagte nur noch „Ach ja…“
Jetzt ist er fast selber so alt wie seine Großmutter damals und er kann nicht behaupten, dass ihm das Leben übel mitgespielt hat. Er ist alles in allem gesund, schleppt vielleicht ein paar Pfunde zu viel mit sich herum, genießt nach wie vor die Unabhängigkeit des Einzelgängers und zählt schon die Tage bis zu seinem Ruhestand. Ausgerechnet auf der Zielgeraden haben ihn die Geschäfte hierher geführt. Der Chef hatte darauf bestanden, dass er diese Tour noch macht, er sei der Erfahrene, ihm würden die wortkargen und verschlossenen Küstenbewohner noch am ehesten vertrauen. Denkste! Die Verhandlungen waren gar nicht erst in Gang gekommen und als er das Gehöft verließ, wollte er nicht noch am selben Tag zurückfahren. Schließlich war er in aller Frühe gestartet, sieben Stunden am Stück gefahren – alles für die Katz. Gut, dass er noch tanken war. Jetzt wird es ungemütlich. Eine starke Böe erfasst den Wagen, drückt ihn jäh auf die Gegenfahrbahn, auf der zum Glück kein Fahrzeug unterwegs ist. Er reißt den Lenker herum, etwas zu stark, sodass das Auto ins Schlingern kommt. Kaum hat er es unter Kontrolle, bricht das Unwetter los. Die Automatik lässt die Scheibenwischer gleich auf höchster Stufe arbeiten, trotzdem kann er kaum noch etwas erkennen. Während er den Wagen weiter abbremst, spürt er, wie dieser auf der Straße schwimmt. Als Handelsvertreter ist er solche Situationen gewohnt, hat sie mehr als einmal gemeistert, fährt jetzt vierzig Jahre unfallfrei. Und doch spürt er Angst, fühlt sich, als sei er wieder auf rauher See, ohne Kontrolle, ohne Schutz – allein in Gottes Hand.
Plötzlich helles Licht. Geblendet senkt er den Blick. Eine Fontäne spritzt seitlich an sein Auto, drückt es zur Seite. Wieder lenkt er gegen, offenbar nicht genug, denn es driftet seitlich weg. Jetzt wird alles grün, er verliert den Halt, wird geschüttelt, schmerzhaft in den Gurt gedrückt und bleibt kopfüber darin hängen. Er realisiert schnell, was passiert ist. Sein Wagen liegt auf dem Dach, inmitten von Farn, ein Baum hat eine weitere Drehung verhindert. Sie wäre ihm lieber gewesen, denn jetzt muss er sich mühsam aus seiner Lage befreien. Er versucht den Gurt zu lösen, doch es lastet zu viel Gewicht auf ihm. Das Blut steigt ihm in den Kopf. Er flucht, wünscht sich, disziplinierter gewesen zu sein, will aber nicht hadern. Ihm fällt das Messer in der Mittelkonsole ein. Fast entgleitet es ihm. Er beginnt zu schneiden, stützt sich mit der freien Hand am Himmel des Autodachs ab, kommt endlich frei. Mit einigen Verrenkungen bringt er sich in eine bessere Position. Die Tür klemmt. Er kriegt sie nicht auf, rutscht zur Beifahrertür herüber, doch auch diese scheint sich verzogen zu haben. Ob er das Seitenfenster eintreten kann? Ob er dann aber hindurch passt? Er muss es versuchen. Mit aller Kraft tritt er gegen die Scheibe der Fahrertür, immer wieder. Er schwitzt, ringt nach Luft – ist das Blut auf seinem Hemd? Egal. Wieder tritt er, dann rutscht sein Fuß ins Leere. Nicht nur das Fenster, die ganze Tür steht jetzt offen. Regen prasselt schräg hinein, doch er ist froh darüber, will nur noch raus. Wie ein Gestrandeter robbt er aus dem Auto, liegt bald zur Hälfte im nassen Farn, riecht den modrigen Boden, aus den Bäumen prasseln dicke Tropfen, während der Regen langsam nachlässt.
Das Unfallauto liegt nicht weit von der Straße entfernt. Doch der Farn ist hier so hoch, dass es trotz der Schleuderspur den Wagen fast vollständig verdeckt. Von der Straße aus ist das Fahrzeug unsichtbar, das erkennt er schon, während er sich aus dem Farn erhebt. Sein Hemd klebt auf seiner Haut, die Anzughose ist ebenfalls durchnässt, der linke Schuh fehlt, er findet ihn bald im Dickicht, zieht ihn an. Bisher hat er nicht viel gedacht, nur langsam wird ihm seine Lage bewusst. Vermutlich hat er einen Schock. Ist überhaupt mal ein Auto vorbeigefahren? Wo ist sein Handy? Wieder flucht er, streckt seinen Kopf ins Autowrack. Die Halterung ist leer. Er findet es zwischen Sitz und Konsole. Es hat sich verklemmt, das Display ist gebrochen. Er drückt auf die Taste, sieht nichts, drückt alle Tasten, schüttelt es – nichts. Wütend schleudert er das Gerät in den Wald, bereut es augenblicklich, hat aber keine Lust mehr, danach zu suchen. Es würde schon ein Auto vorbeikommen, früher oder später. Als er am Straßenrand steht, wird ihm mulmig. Die Straße ist eng und auch wenn es nur noch nieselt, ist der Himmel kaum heller geworden. Sein dunkelblaues Hemd, die grauschwarze Hose – besser kann man sich in diesem Dämmerlicht kaum tarnen. Hier auf Hilfe zu warten, ist gefährlich. Und so wechselt er die Straßenseite, geht in die Richtung, in die er fahren wollte. Der nächste Ort ist noch einige Kilometer entfernt, das weiß er. Und während er humpelt, weil ihm der linke Fuß schmerzt, der Wald immer dunkler wird, begegnet ihm immer noch keine Menschenseele. Auch hört er nur das Tropfen aus den Bäumen, das Gurgeln eines kleinen Bachlaufs, einige verzagte Vogellaute, aber nichts, was auf eine nahe Zivilisation hindeuten würde. Zum Glück ist ihm nicht kalt, er friert allgemein nicht so schnell – einer der wenigen Vorteile seiner überflüssigen Pfunde. Dort drüben! Täuscht er sich oder ist da tatsächlich ein Lichtschein?
Nun sieht er auch den schmalen Weg, matschig und kaum breiter als sein Auto – der treue Volvo, der jetzt rücklings im Wald liegt. Dort drüben würde er vielleicht Hilfe bekommen. Womöglich ist dort ein Bauernhof. Mit viel Glück kann jemand von dort seinen Wagen aus dem Unterholz ziehen. Vielleicht ist ja alles gar nicht so schlimm. Wie in seiner Kindheit, wo vieles größer schien als es war, übermächtig, weil er eben noch so klein war, nicht so viel von der Welt wusste. Auch wenn er immer wieder positiv überrascht wurde, blieb er misstrauisch. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Er würde ja bald sehen, ob es sich hier um ein Irrlicht handelt. So wie in den Gruselgeschichten früher, den Märchen vom Moor. Er muss lachen. Warum tat man Kindern so etwas an? Gibt es das heute auch noch? Er weiß es nicht, denn er hat ja keine Kinder, nicht einmal Neffen oder Nichten. Seine Eltern sind tot, die Familie stirbt mit ihm aus. Und Freunde hat er nie gebraucht. Frauen schon, für die Lust, gegen Bezahlung, schön unverbindlich. Er ist froh, nie auch nur in die Nähe einer ernsthaften Beziehung gekommen zu sein. Sein Herz schlägt höher, als er die Umrisse eines Hauses erkennt. Es hebt sich kaum aus der Umgebung ab, die so grau erscheint wie das längliche Gebäude, dessen Eingang nur von einer schwachen Lampe beleuchtet wird. Ein Wunder, dass er es in diesem Dämmerlicht überhaupt entdeckt hat. Ist es wirklich schon so spät? Als er endlich die schmale Einfahrt betritt, stürzt ein Schatten hinter der seitlichen Scheune hervor. Ein großer Hund rast knurrend und bellend auf ihn zu, wird nur einen Meter vor ihm von einer Kette gebremst, was ihn kurz aufjaulen, dann noch wütender knurren lässt. Er sieht die Reißzähne des Tieres, weiß nicht, was er tun soll, als ein Pfiff ertönt und den Spuk beendet.
Hier draußen brauche man einen guten Wachhund, zu viel Gesindel. Die Frau, die ihm geöffnet und ihn ins Haus gebeten hat, nicht ohne ihn genau zu mustern, lässt die schwere Eingangstür laut ins Schloss fallen. Er erschrickt darüber, was die Frau lächeln lässt. Was ihm denn passiert sei, will sie wissen, aber jetzt solle er erst einmal hereinkommen. Sie mache ihm einen Kräutertee, der würde ihn wärmen und beruhigen. Er wehrt ab, erzählt in knappen Worten, was ihm widerfahren ist, noch ehe er in der großen Wohnküche Platz nimmt und sie ihn unterbricht. Er möge sich dorthin setzen, nahe dem Ofen, dort könne seine Kleidung trocknen, sonst müsse er sie ausziehen, was ja wohl nicht so schicklich sei, dort am Ofen habe ihr Mann, Gott hab ihn selig, auch immer gesessen. Er ist verstummt, findet, dass sie recht hat, betrachtet die Frau jetzt genauer. Sie ist noch nicht so alt, wie es im trüben Eingangslicht zunächst schien, etwa so alt wie er. Vielleicht ist es ihre Erscheinung, die Umgebung, alles wirkt bäuerlich, einfach, auch ihre Kleidung, der erdfarbene Rock, die blaugemusterte Kittelschürze. Sie schaut immer wieder zu ihm, während sie das Teewasser aufsetzt, ganz klassisch in einem Kessel. Sie hat schöne Augen, dunkel, nicht blau, ihr Haar ist grau wie seines, nur viel länger und hinten zusammengebunden. Ihre Gesichtszüge und einige tiefe Falten darin zeugen von Sorgen, besonders die entlang ihrer leicht gebogenen Nase, aber jene um ihren recht hübschen Mund auch von fröhlicheren Erfahrungen. Er findet sie sympathisch, obwohl er sie gerade erst kennengelernt hat. Das passiert ihm selten. Vielleicht hat es mit seinem Schock zu tun.
Der Tee schmeckt ihm ausgezeichnet. Das sagt er ihr auch. Die Frau lächelt dankbar, trinkt selbst nicht davon, so spät am Abend, es sei ja schon fast acht, sie schlafe dann nicht gut, müsse nachts nur unnötig raus. Manchmal gehe sie um diese Zeit schon ins Bett, schließlich stehe sie auch mit den Hühnern auf. Ferien auf dem Bauernhof – warum haben seine Eltern das nie mit ihm gemacht? Vielleicht, weil so etwas früher in den Bergen und erst nach und nach auch an der See angeboten wurde? Die Erinnerung erscheint ihm unpassend. Hastig stürzt er die erste Tasse hinunter, beginnt zu erzählen, während die Bäuerin ihm nachschenkt und schweigend zuhört. Anders als erwartet, schmunzelt sie über seinen Unfall. Er sei nicht der Erste, dem so etwas passiere. Als ihr Mann noch lebte, habe er fast jede Woche ein Urlauberauto aus dem Graben gezogen. Zum Glück seien bisher keine Toten zu beklagen und oft hätten sich die Leute später noch einmal bei ihnen bedankt. Nein, nicht mit Geld, ihr Lächeln und die sonnengebräunten Gesichter der Kinder seien Belohnung genug gewesen. Ihr Mann und sie hatten schon Pläne, die Scheune zu verkleinern und einen Teil für Feriengäste umzubauen. Sie liebe Kinder, habe leider keine eigenen haben können. Ihr Mann habe dies ebenfalls bedauert, letztes Jahr sei er plötzlich gestorben. Ach ja…
Bei der dritten Tasse Tee, nachdem er auch einige Wurstbrote mit großem Appetit verdrückt hat, fühlt er sich schläfrig. Die Frau lächelt wieder, als er kurz wegdöst und wieder aufschreckt. Die Leute hier gingen früh zu Bett, heute Abend tue sich ganz bestimmt nichts mehr. Leider könne sie ihm nur das Sofa anbieten, aber sie wolle ihn jetzt auch nicht wieder fortschicken. Ob er denn vielleicht telefonieren könne, fragt er zwar, spürt aber eigentlich kein großes Verlangen danach. Er weiß auch gar nicht, wen er anrufen sollte. Außerdem möchte er sich nur noch hinlegen, nur noch schlafen. Auf dem Sofa kommt ihm kurz der Gedanke, die Bäuerin könne ihm etwas in den Tee getan haben. Was soll diese freundliche Frau schon Böses von ihm wollen? Wie sie lächelt, so freundlich, fast gütig. Wenn er sich je jemanden an seiner Seite gewünscht hätte, dann eine Frau wie sie, denkt er noch, bevor sich seine Sinne in wirren Träumen verlieren.
In den wenigen halbwachen Momenten findet er sich nicht mehr auf dem Sofa, sondern im Ehebett der Frau wieder. Erst glaubt er zu träumen, kämpft mit aller Kraft um sein Bewusstsein und verliert es doch immer wieder. Mal ist es dunkel draußen, mal hell – mal ist ihm zu warm, mal zu kühl. Er spürt ihre Nähe, nicht nur körperlich, und auf seltsame Weise fühlt er sich ihr verbunden, geborgen, wie früher bei seiner Mutter. Er genießt diesen Zustand, auch wenn er ahnt, dass er erzwungen ist, seinem Bewusstsein abgerungen, dem Wachsein, das er verloren hat, das er nicht mehr erreicht. Seine Gefühle sind da, sogar Erregung verspürt er, im Traum erscheint ihm eine schöne Frau, sie beugt sich über ihn, streichelt ihn, wärmt ihn und verschmilzt mit ihm. Hat er sich je glücklicher gefühlt? Sein Verstand fragt nicht mehr danach, aber etwas in ihm, vielleicht seine Seele.
Die Frau lebt auf. Jeden Morgen gibt sie dem Mann neben ihr einen Kuss, bevor sie aufsteht, erst die Tiere und später ihn versorgt. Sie schwört auf die Kraft der Kräuter. Ihm werden sie geben, was sie ihrem Ehemann versagten. Bei ihm hat sie noch Fehler gemacht. Aber er, dieser Glücksfall von einem Mann, der ihrem verstorbenen auch noch ähnlich sieht, wird leben, durch sie auch lieben, sie werden verschmelzen. Sie weiß, dass sie geduldig sein muss, die Dosierung anpassen muss, bis auch dieser hier so schlank sein wird wie ihr Mann. Und wenn sie je wieder kämen, die Offiziellen, um nach dem Gatten zu fragen, dessen Rente sie schließlich zahlen, auch weiter zahlten, als er schon nicht mehr war, weil sie seinen Tod verschwiegen, ihm ein heimliches, aber schönes Grab nahe der alten Eiche am Waldrand bereitet hat – wenn sie also eines Tages vor der Tür stünden, würden sie ihn leibhaftig bestaunen können, ihren über alles geliebten Mann. Dass er so krank ist, sei ihr keine Bürde, würde sie sagen, dafür reiche das Geld ja schließlich, sie könne gut neben der Arbeit für ihn da sein, eine Pflegerin brauche sie nicht.
Nur einmal wird die Frau nervös. Zwei Polizistinnen stehen vor der Tür, wollen wissen, ob sie etwas von dem Unfall mitbekommen habe. Welchen Unfall sie denn meinten, fragt sie freundlich und hört, dass er unweit ihres Hofes passiert sei, nichts Schlimmes, aber der Fahrer werde vermisst, er komme nicht von hier, sei ein Außendienstler gewesen, wenn auch kurz vor der Pensionierung. Als sie nach seinem Namen fragt, werden die beiden Beamtinnen stutzig. Tue sicher nichts zur Sache, wiegelt die Bäuerin ab, aber falls sie noch was höre. Sie nicken nur, sind nicht überzeugt. Was quatscht du so blöd, denkt sie verärgert. Eigentlich will sie doch gar nichts von ihrem heimlichen Gast wissen, der sich ausgerechnet jetzt durch ein Knarzen im Gebälk bemerkbar macht. Sie hätte schon längst neuen Tee machen müssen. Schweißperlen treten auf ihre Stirn, während die Polizistinnen argwöhnische Blicke wechseln. Ob noch jemand im Haus sei, wollen sie wissen. Natürlich, sagt sie, ihr Mann sei da. Er könne das Bett nicht mehr verlassen, so krank sei er, es sei schon schwer mit ihm, aber sie wolle auch nicht klagen. Eine der beiden Polizistinnen wendet sich ab, um zu telefonieren. Die Bäuerin hofft inständig, dass das Knarzen nicht lauter wird und dass der Mann oben nicht zu Bewusstsein kommt. Im Funkgerät der anderen Beamtin raschelt es, eine Stimme ist zu hören. Auch die zweite Polizistin wendet sich ab, spricht kurz in das Gerät, gibt der anderen ein Zeichen, dass sie aufbrechen müssen. Kaum sind die beiden zur Tür hinaus, setzt die Bäuerin Tee auf. Gerade noch rechtzeitig.
Zufrieden blickt der Mann auf die gemähte Wiese. Mit dem Heu würde er sich beeilen müssen, denn der Herbst ist hier besonders launisch und wenn er die zweite Ernte in diesem Jahr noch trocken einbringen will, darf er keine Zeit verlieren. Gut, dass sie ihm hilft. Konzentriert arbeiten beide nebeneinander, rechen das duftende Gras zusammen. Der Geruch seiner Kindheit – so glücklich wie damals fühlt er sich jetzt wieder. Endlich! Was hat er nur all die Jahre gemacht? Wie konnte er sein Leben so sinnlos vergeuden? Musste er erst dieser wunderbare Frau begegnen, um ihm spät, aber nicht zu spät, zu zeigen, was Glück heißt? Und Liebe. Wenn sie ihn anlächelt, auch jetzt wieder, geht ihm das Herz auf. Er erinnert sich an den Tag ihrer ersten Begegnung. Was für ein Schicksal! Gewiss, sie hat es herausgefordert, hat selbst Schicksal gespielt. Sie hat hoch gepokert – und gewonnen. Und er erst! Nie hat er gezweifelt, nie auch nur den Versuch gemacht, in sein altes Leben zurück zu springen. Er ist jetzt ihr Mann. Er lebt. Und er liebt. Erschöpft, aber glücklich schieben sie die letzte Fuhre in die Scheune. Arm in Arm stehen sie im Eingang. Der Hund stupst seine Hand, die Hand seines neuen Herrchens. Auch er habe auf ihn gewartet, sagt sie, so wie sie. Dann fallen die ersten Tropfen auf die Kopfsteine, prasseln bald immer dichter herab, Hagelkörner mischen sich hinein. Jetzt könne er einen Tee vertragen, sagt er, und küsst sie. Welchen denn, fragt sie, und zieht ihn lachend hinüber ins Haus.