Grenzübertritt

„Meinst du, wir finden heute noch ein Hotel?“ Seine Frau war nicht begeistert gewesen, als er von der Autobahn abfuhr, um ganz in den waldreichen und hügeligen Harz einzutauchen. Dabei hatte es bereits zu dämmern begonnen. Überhaupt hatten sie viel zu viel Zeit verloren, waren jetzt auf der Suche nach einem gemütlichen Landgasthof. Auch der, meinte ihr Mann, findet sich nicht an Autobahnen und Schnellstraßen.
„Ja, ok. Aber wo sind wir überhaupt?“ Seine Frau blickte sorgenvoll auf die Strecke, die inzwischen kurvig geworden war. Ein Schild zeigte eine leichte Steigung an, doch nirgendwo standen Wegweiser. Etwas verärgert zog die Frau ihr Handy aus der Tasche im Fußraum und tippte nervös auf der Tastatur.
„Mist!“ Sie warf das Handy in die Mittelkonsole. „Kein Netz!“
„Kommt bestimmt gleich wieder“, versuchte ihr Mann sie zu beruhigen.
„Wo, bitteschön, soll in dieser Einöde denn ein Netz herkommen? Das macht doch alles keinen Sinn! Und überhaupt: Ich hab deine Alleingänge sowas von satt!“
„Jetzt werd‘ mal nicht hysterisch, Liebes.“ Er wirkte äußerlich ruhig, doch auch an ihm nagten erste Zweifel.
„Liebes? So hast du mich noch nie genannt. Fang jetzt bitte nicht damit an. Ich bin weder klein, noch ein Neutrum! Bei der nächsten Möglichkeit, wendest du bitte und fährst zurück! Schau doch mal, wie dunkel es geworden ist. Wie willst du hier denn noch was finden? Du Idiot!“ Die Frau starrte ihren Mann wütend an.
„Wieso Idiot?“ Er wurde ebenfalls ungehalten. „Wer wollte denn die Silberhochzeitsreise mit einer Fahrt ins Blaue beginnen?“
„Aber doch nicht so! Du und deine Übersprungshandlungen. Das hätten wir ja wenigstens mal kurz besprechen können. Zum Beispiel bei einem Kaffee an der nächsten Raststätte – mit Handy-Empfang und mit Tripadvisor oder sowas.“ Sie tippte auf ihr Handy – immer noch kein Netz…
„Also doch wieder planen? Dann hättest du ja gleich alles durchbuchen können. Spontan steht dir einfach nicht.“ Er zog den Wagen durch eine Haarnadelkurve, weiter hinten war schon die nächste zu sehen.
„Dir aber auch nicht. Schau doch, wo du uns hinführst. Ich will hier nicht am nächsten Baum enden, hörst du?“ Sie umklammerte jetzt mit beiden Händen den Haltegriff der Beifahrertür, während ihr Mann die nächste Kurve ohne Probleme meisterte und nur noch den Kopf schüttelte.

„Na also. Da! Siehst du, was ich sehe?“ Triumphierend zeigte er nach vorne. Die Strecke war jetzt schnurgerade, auch der Wald hörte hier auf. Der Mann beschleunigte und schaltete das Fernlicht ein. Inzwischen war es dunkel geworden.
„Und?“ Sie griff nach ihrem Handy, grunzte missmutig und sank in ihren Sitz zurück. „Immer noch kein Netz. In the middle of nowhere.“
„Nicht ganz. Schau mal: Sind da vorne nicht Lichter?“
Sie kniff die Augen zusammen. Er hatte recht, jetzt sah sie sie auch. Sie waren sogar richtig hell. Dort musste ein Ort sein.
„Na also. Hast dir mal wieder ganz umsonst Sorgen gemacht.“ Er sah sie versöhnlich an, sie nickte unwillig, doch ihre Gesichtszüge entspannten sich etwas.
„Wenn es da jetzt noch ein Hotel gibt oder wenigstens eine Pension… Seltsam…“ Sie musterte das Display ihres Handys, das ihr Gesicht diabolisch aufleuchten ließ. „Immer noch kein Netz…“
„Dort drüben muss es Netz geben, wenigstens Edge.“ Er beschleunigte erneut. Im nächsten Moment rumpelte es links vorne, dann hinten. „Das muss irgendein Tier gewesen sein. Vermutlich ein Hase.“
„Dann fahr nicht so schnell. Auf die paar Minuten kommt es jetzt auch nicht mehr an.“ Sie beugte sich nach vorne. „Das sieht aber gar nicht wie eine Ortschaft aus. Eher wie ein hell erleuchteter Sportplatz. Oder sind das Firmengebäude?“
Je näher sie kamen, desto greller wurde das Licht. Einige flachere Gebäude standen quer zur Straße. Sie wirkten seltsam grau und unscheinbar. Links und rechts von ihnen spannte sich jeweils ein massiver Zaun. Oberhalb blinkte Stacheldraht. Die Straße schien dort hinten zu enden.
„Oh je!“ Der Mann bremste abrupt ab.
„Was ist denn?“ Die Stimme der Frau hatte einen ängstlichen Unterton.
„Das scheint mir ein Militärgelände zu sein. Scheiße nochmal!“ Er brachte das Auto zum Stehen.
„Aber sieh mal!“ Mit der rechten Hand an der Stirn schirmte sie ihre Augen vor dem grellen Licht ab, mit der linken zeigte sie nach vorne. „Da winkt doch jemand.“
„Meinst du?“ Er blinzelte, klappte die Sonnenblende herunter. „Na, vielleicht kann er uns weiterhelfen und sagen, wo wir den nächsten Ort finden.“ Er gab wieder Gas, fuhr langsam auf das Licht zu. Jetzt war es eindeutig: Der Mann, dem sie sich näherten hatte eine khakifarbene Uniform an. Vor seinem Bauch baumelte eine Maschinenpistole. An seinem Koppel befanden sich eine Pistole und Munitionstaschen. Ein Soldat. Aber wieso hier? Sie hatten doch nirgendwo einen Hinweis auf eine Kaserne gesehen. Was war das hier?

Er brachte das Auto erneut zum Stehen. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie sofort umkehren sollten. Seine Frau hatte seinen rechten Arm ergriffen und ihre Finger hineingebohrt, sie sah ihn ängstlich an. Weg hier, sagten ihre Augen. Gerade wollte er den Rückwärtsgang einlegen, als von hinten grelles Licht in den Wagen fiel. Erschrocken fuhren sie herum, sahen jetzt, wie der grelle Lichtschein nach links wanderte, an der Fahrertür zum Stehen kam und ausging. Dann klopfte es hart gegen die Scheibe. Er ließ sie herunter, konnte zunächst nicht viel erkennen. Dafür hörte er eine raue Männerstimme.
„Papiere. Führerschein. Reisepass.“ Der Mann neben ihrem Auto trat einen Schritt zurück und knipste seine Taschenlampe an, das grelle Licht blendete sie erneut. Die Frau griff hektisch ins Handschuhfach, kramte darin herum. Das Licht zuckte, bewegte sich in Richtung Kaserne.
„Fahren Sie da rein. Aber langsam. Machen Sie keine Dummheiten!“ Das Licht der Taschenlampe fiel auf den Soldaten am Kaserneneingang. Der winkte abermals, also setzte sich das Auto langsam in Bewegung, rollte auf die Einfahrt zu. Wortlos starrten die beiden Insassen nach vorn, sie wussten nicht, wie ihnen geschah.

Als sie den Eingang erreichten, winkte der Soldat sie weiter und bedeutete ihnen, ihr Auto in einer Parkbucht auf der rechten Seite abzustellen. Sofort kamen zwei weitere, wie Grenzbeamte uniformierte Männer aus dem Gebäude und forderten die Beiden mit knappen Gesten auf auszusteigen. Vielleicht würde sich ja jetzt alles aufklären, dachte der Mann und stieg aus. Vielleicht aber auch nicht, dachte seine Frau weiter, als sie ihre Tür öffnete und ein uniformierter Arm nach ihrem griff.
„He, was soll das, lassen Sie sofort meine Frau los! Was läuft denn hier eigentlich?“ Ohne eine Antwort zu bekommen, packte der andere Uniformierte seinen rechten Arm und drehte ihn auf den Rücken. Im nächsten Moment befanden sie sich im Gebäude, die Uniformierten schubsten die Beiden in den Raum hinein, sodass sie unsanft gegen einen Tresen prallten. Hinter diesem stand breit grinsend ein weiterer Uniformierter mit weißblondem, kurzgeschnittenem Haar, beide Hände auf das gelblich schimmernde Furnier gestützt. Er war noch kleiner als die Frau, wirkte aber mit seiner bulligen Gestalt mächtig und gefährlich. Offenbar war er der Boss hier, hinter ihm saßen zwei weitere Männer in Dienstkleidung an Schreibtischen. Sie sahen nicht auf, als ihr Chef losdröhnte.
„Na, was haben wir denn hier? Ein älteres Ehepaar, unterwegs in einem seltsamen Gefährt und ohne gültige Papiere?“
„Moment mal, wir haben dem Soldaten doch unsere Reisepässe gegeben“, wandte der Mann ein und seine Frau nickte. Ein lauter Knall ließ sie zusammenzucken. Der Schalterbeamte hob seine Faust wieder von der Platte und streckte ihnen den Zeigefinger entgegen. „Sie sprechen nur, wenn ich es sage. Verstanden!“
Das Paar nickte kleinlaut, die Verwirrung stand den Beiden ins Gesicht geschrieben.
„Dann wollen wir mal.“ Der Bullige nickte zwei Wachmännern zu. „Die Frau in die 1, den Mann in die 2.“

Sie wurden in zwei angrenzende Räume mit vergitterten Fenstern geführt, in denen sich jeweils nur ein Tisch und zwei einander gegenüber stehende Stühle befanden. Ein kleines Sichtfenster aus dickem Glas verband die beiden Räume optisch. Ansonsten waren die Wände kahl und schmutzig-grau, genauso wie der zerkratzte Linoleumboden. Ein Vernehmungsraum, schoss es dem Mann durch den Kopf, als sich eine Hand auf seine Schulter legte und ihn auf den Stuhl drückte. Der Uniformierte verließ wortlos den Raum, schloss die Tür und verriegelte sie von außen. Da saß er nun und wusste immer noch nicht, was hier vor sich ging und wo er eigentlich war. Unter den brummenden Neonröhren an der Decke fuhren die Gedanken in seinem Kopf Achterbahn. Die letzten Minuten hatte er wie in einem Tunnel wahrgenommen, doch je mehr er nachdachte und zur Ruhe kam, desto mehr Einzelheiten kamen ihm in den Sinn. Auch die Uniformen der Soldaten und der vermeintlichen Beamten lösten eine Erinnerung in ihm aus. Er war sich sicher, sie vor langer Zeit gesehen zu haben, vielleicht kannte er sie auch nur von Fotos oder aus dem Fernsehen – auf jeden Fall passten sie nicht in die heutige Zeit. Wenn es nicht so absurd gewesen wäre, hätte er schwören können, in der DDR zu sein, genauer gesagt an einer Grenzanlage der ostdeutschen Zonengrenze. So wie damals, als er, gerade volljährig und beseelt vom Geist der 68er, nach Berlin getrampt war. Nur war der Übergang viel größer gewesen und eine Blechlawine hatte sich über Stunden durch die Schikanen des Grenznadelöhrs gewälzt. Hier jedoch waren sie weit und breit die einzigen Reisenden. Es konnte also nicht sein; sowohl die schreckliche Grenze, als auch die DDR existierten seit dreißig Jahren nicht mehr. Was also war das hier?

Ein Schatten erschien im Fenster zum benachbarten Raum. Seine Frau! Er sprang vom Stuhl auf und auf das Fenster zu, sah wie sie ihm etwas zurief, hörte sie aber nicht. Wild gestikulierend machte sie ihm Zeichen, er verstand nicht – dann war sie weg. Das Licht im anderen Raum erlosch, jetzt blickte er nur noch in ein schwarzes Loch, sah im dunklen Glas sein Spiegelbild, sein erschrockenes, vor Angst verzerrtes Gesicht. Was ging hier vor, was machten sie mit seiner Frau? Er stürmte zur Tür, rüttelte und zog vergeblich daran, dann hämmerte er mit Fäusten auf sie ein, schrie nach seiner Frau, so laut er nur konnte, verlangte, dass die Tür aufgemacht werde, forderte, mit seinem Anwalt zu telefonieren, schließlich sank er heulend zu Boden. Nichts geschah. Als er sich etwas beruhigt hatte, stand er auf und setzte sich wieder auf den Stuhl. Wie spät mochte es sein? Seine Fitnessuhr hatte keinen Saft mehr, sein Handy lag im Auto. Er brauchte es nicht oft, anders als seine Frau. Die Frau, mit der er eine wunderbare Nostalgie-Reise erleben wollte, seine geliebte Partnerin seit über 25 Jahren, wo war sie jetzt?

Langsam begann er, das Zeitgefühl zu verlieren. Die brummenden Neonröhren erzeugten einen dröhnenden Widerhall in seinem Kopf. Die reinste Folter, dachte er, wahrscheinlich wollten sie ihn weichkochen. Aber wozu? Er hatte nichts getan. Wäre er doch nie von der Autobahn abgefahren. Hätte er doch irgendwo umgedreht. Seine Frau hatte vollkommen recht. Genau genommen hatte sie immer recht. Vielleicht würde sie ja alles aufklären können. Hoffentlich. Doch leider glaubte er nicht daran, zu verstörend war die Situation am Fenster gewesen. Was wollte sie ihm sagen? Trotz des fortwährenden Dröhnens und leichter Kopfschmerzen versuchte er sich zu erinnern. Eigentlich konnte er sich immer auf sein fotografisches Gedächtnis verlassen. Welche Worte hatten ihre Lippen geformt? Er nahm beide Hände vor die Augen, massierte sich die Schläfen, stand schließlich auf, tigerte in dem schmalen Raum auf und ab, starrte eine Weile auf die dunkle Fensterscheibe, vergegenwärtigte sich ihr Gesicht darin, setzte sich schließlich wieder hin, hielt sich die Ohren zu und schrie ihren Namen, immer wieder schrie er. Dann geschah es. Er sah sie vor sich. Augenblicklich hielt er inne, las ihre Lippen, hörte sie es förmlich sagen… In diesem Moment ging die Tür auf.

„Damit wir hier keine Zeit verlieren“, sagte der bullige Beamte vom Tresen, als er in den Raum trat, eine durchsichtige Plastiktüte mit Dokumenten und Gegenständen auf den Tisch knallte und direkt vor ihm Platz nahm.
„Erklären Sie mir das hier!“ Er deutete auf die Tüte, in der der Mann ihre beiden nagelneuen Reisepässe, die beiden Führerscheinkärtchen und den Schlüssel ihres ebenfalls recht neuen Cabrios erkannte. Er blickte auf.
„Wo ist meine Frau? Was haben Sie mit ihr gemacht? Ich will sofort telefonieren!“
Der Beamte schlug auf die Tischplatte, diesmal mit der flachen Hand, aber es knallte genauso laut wie am Schalter.
„Wir fragen, Sie antworten! Ist das klar? Also noch einmal: Erklären Sie mir das hier!“ Der Bullige deutete erneut auf die Plastiktüte.
Fassungslos starrte er den Beamten an, der seinen Blick mit einem wölfischen Grinsen parierte.
„Wir können auch anders. Die Feinde der Deutschen Demokratischen Republik werden schonungslos bekämpft. Da kennen wir keine Gnade. Ein letztes Mal: Wollen Sie uns hier eigentlich verarschen?“ Speichel sprühte aus seinem Mund, als der Bullige ihn anschrie. Doch diesmal zeigte sich der Mann unbeeindruckt. Seine Angst war einer schleichenden Wut und diese war schließlich einem Gefühl der Belustigung gewichen. Was, wenn das hier alles eine riesige Inszenierung war? Ein Streich unserer Freunde vielleicht? Fahrt doch durch den schönen Harz, hatte ihm sein bester Kumpel empfohlen, als er ihm in der Kneipe von ihren noch unausgegorenen Reiseplänen erzählt hatte, einem Nostalgie-Trip zur Silberhochzeit, auf den Spuren ihrer damals noch zarten Beziehung, als sie kurz nach der Wende durch die neuen Bundesländer gereist waren. Der Wirt hatte die Ohren gespitzt und als er ihnen zwei frische Pils auf den Tresen stellte, rückte er mit seiner thüringischen Herkunft heraus. Nicht alles sei schlecht gewesen damals, die Urlaube im Harz gehörten definitiv zum schöneren Teil seiner Jugend, ab und zu fahre er noch hin, er kenne da sogar eine besonders schöne Route.

Er lachte laut auf, als ihm hier, in diesem schäbigen Vernehmungsraum, mit dem böse dreinblickenden Beamten vor sich, das Gespräch einfiel. Na klar! Das war es! Sie hatten alles von langer Hand vorbereitet, wollten sie mit diesem Abenteuer überraschen und es war ja weiß Gott nicht die erste Aktion dieser Art in ihrem Freundeskreis. Er war so blöd, darauf reinzufallen, hatte seine Frau sogar mit der Route überraschen wollen. Erleichtert atmete er auf.
„Okay, ich geb es zu. Ich bin schuldig. Schuldig, euch allen auf den Leim gegangen zu sein. Ihr könnt jetzt rauskommen! Wo ist die Kamera? Ich hab euch durchschaut. Sauber, wirklich sauber! Mann, habt ihr uns verarscht! Täuschend echt übrigens alles – und das Personal, ganz großes Kino!“ Laut lachend beugte er sich vor, klopfte dem Bulligen auf die Schulter, wollte ihm die Hand geben. Der nahm sie, zog den Mann nach vorne und schlug mit der anderen Hand seinen Kopf auf die Tischplatte. Benommen hielt sich der Mann die Nase, Blut rann zwischen seinen Fingern hervor, tropfte auf den Tisch. Und während der Bullige aufstand und hinausging, dämmerte ihm unter pochenden Schmerzen, dass das, was er gerade erlebte, kein Spiel war. Niemals würden eine Freunde so weit gehen. Das hier ließ nur einen Schluss zu: Es war bittere Realität. Nur, wie konnte etwas wirklich sein, was es nicht mehr gab? Der Kalender im Dienstbüro stand ihm plötzlich vor Augen, er sah die Jahreszahl jetzt ganz deutlich vor sich: 1973 hatte da gestanden. Sollte er tatsächlich… aber ja – ein Zeitsprung! Dieses Wort hatten die Lippen seiner Frau geformt. Etwas Unglaubliches war passiert, das sie als Wissenschaftlerin wohl viel früher erfasst hatte als er. Die Straße im Harz hatte sie beide in eine andere Zeit geführt, zurück in die DDR. In den real existierenden Sozialismus des Jahres 1973.

Während sich die dunkelrote Lache auf dem Tisch ausbreitete, ließ der Schmerz allmählich nach. Fieberhaft kramte er in seinem Gedächtnis nach seinen Geschichtskenntnissen. 1973 war noch die Zeit der Entspannungspolitik, kleine Grenzübergänge waren eröffnet worden, es gab einige Erleichterungen, Angehörige und grenznahe Anwohner konnten sich unter bestimmten Auflagen gegenseitig besuchen. Und doch blieb der eiserne Vorhang noch satte 16 Jahre geschlossen, wurde weiter erbarmungslos auf Menschen geschossen, die unter tödlichem Risiko einen Weg in die Freiheit suchten. Wie schnell war dieses Kapitel seit der Wiedervereinigung vergessen: Drei Jahrzehnte später stand ausgerechnet eine Bundeskanzlerin aus der ehemaligen DDR vor einem politischen Scherbenhaufen – waren rechte Kräfte dabei, die befreiten Länder zurück in eine überwunden geglaubte Unmündigkeit zu führen. Die Zukunft machte ihm Angst. Doch jetzt hatte er paradoxerweise mit der Vergangenheit zu kämpfen.

Die Tür ging auf, der Bullige erschien mit einem hochgewachsenen, hageren Mann in weißer Kleidung und mit einem Medizinkoffer in der Hand. Dr. Sträter stand auf seiner Brusttasche. Ohne zu grüßen, behandelte er die blutende Nase, desinfizierte die Wunde, prüfte sie, nickte wissend und tamponierte beide Nasenlöcher. Auf den Nasenrücken klebte er ein dickes Stück Mull mit Wundpflaster fest. Danach wischte er das Blut vom Tisch, reichte seinem Patienten ein weiteres, mit Alkohol getränktes Tuch, damit er seine blutverschmierten Hände reinigen konnte, und verschwand kurz darauf genauso wortlos wie er gekommen war. Sämtliche Handgriffe wirkten äußerst routiniert, ruhig und gelassen – wie eine notwendige und keinesfalls zu hinterfragende Dienstausübung.

Der Bullige hatte die Behandlung teilnahmslos verfolgt. Jetzt setzte er sich wieder an den Tisch, deutete abermals auf den Plastikbeutel, an dem noch etwas Blut klebte und blickte sein Gegenüber wortlos an. Dieser atmete schwer durch den Mund und hob flehend seine Hände.
„Was wollen Sie denn noch? Ich habe nichts getan. Die Papiere sind in Ordnung und das Auto gehört meiner Frau und mir. Wo ist meine Frau?“
„Das werde ich Ihnen erst sagen, wenn Sie mir erklärt haben, was es mit diesen Dingen auf sich hat. Wir haben Ihr Auto genau untersucht. Und wir haben ein paar interessante Dinge darin gefunden.“ Der Beamte schaute den Mann triumphierend an. Dann verdüstere sich seine Miene. „Können Sie mir erklären, was das hier ist?“ Er griff in seine Hosentasche und hielt einen kleinen Gegenstand hoch.
„Mein Handy!“
„Ihr… was?“, schrie der Bullige und schmetterte das Gerät in die Ecke, wo es mit einem hässlichen Geräusch zersplitterte.

„Was machen Sie denn? Ich hätte Ihnen alles erklärt!“ Fassungslos starrte er den Beamten an. „Außerdem ist das Sachbeschädigung. Ich werde Sie verklagen!“
„Ach ja? Offensichtlich ist Ihnen nicht klar, mit wem Sie es tun haben!“ Der Bullige schnaubte. „Ich bin ermächtigt, Schaden von der Deutschen Demokratischen Republik abzuwenden. Es handelt sich hier um eine akute Bedrohungslage durch den Klassenfeind. Da werde ich mit Sicherheit alles tun, um meine Genossen und mich vor Subjekten wie Ihnen zu schützen.“
„Ich bin nicht Ihr Feind! Ich will auch gar nicht in Ihre DDR! Das alles ist ein Riesenmissverständnis.“
„Ist es das?“ Der Beamte blickte ihn verächtlich an. „Das können Sie Ihrer Großmutter erzählen, aber nicht mir! Ich kenne Leute, wie Sie! Sehen harmlos aus, aber haben es faustdick hinter den Ohren. Was soll denn die billige Fälschung eures Propaganda-Blättchens, das wir bei Ihnen gefunden haben? Auch noch schlecht gemacht, mit Farbfotos. Soll das der Spiegel sein? Oder doch eher der Stern? Na? Und dann das Datum: 18. Mai 2019. Eine Bundeskanzlerin, ein wiedervereinigtes Deutschland? Soll das ’n Witz sein? Sehen Sie mich etwa lachen? Ihnen wird es auch vergehen. Glauben Sie mir, wir nehmen alles komplett auseinander. Wir lassen uns doch nicht verarschen.“

„Hören Sie, ich kann Ihnen das alles erklären.“ Die Stimme des Mannes zitterte jetzt.
„Na, dann legen Sie mal los. Aber ich warne Sie: keine Märchen mehr!“
„Das Ding da“, der Mann deutete auf die verstreuten Teile seines zerstörten Smartphones, „es ist – war – völlig harmlos. Es nennt sich Smartphone, ist aber mehr als ein Telefon, ein kleiner Computer, mit dem man weit mehr als nur telefonieren kann. Aber man muss natürlich Netz haben…“ Er hielt inne. Was erzählte er denn da? Der Beamte schaute ihn mittlerweile an wie einen Irren. Wie konnte er dem Bulligen nur klarmachen, was hier gerade passierte? „Hören Sie, es mag komisch klingen, aber ich komme aus der Zukunft. Wir sind am 20. Mai 2019 losgefahren. Und hier jetzt gelandet. Anscheinend ein Zeitsprung. Keine Ahnung, wie das passiert ist. Alles was Sie sehen, meine Kleidung, mein Auto, unsere Ausweise – die gab es zu Ihrer Zeit, also 1973, noch nicht. Können das Ihre Experten nicht feststellen? 1973 war ich gerade zehn Jahre alt und weit weg. Das hier kann alles nicht wahr sein. Bitte glauben Sie mir…“ Mit einem Mal wusste der Mann, dass er verloren hatte. Wie sollte ihm ein einfacher Grenzbeamter des Jahres 1973 diese Geschichte auch abkaufen? Seine Lage war aussichtslos. Er senkte den Kopf. Der Bullige sah ihn ganz ruhig, beinahe versonnen an. In der Stille des grauen Raumes hörte der Mann ein leises Ticken. Es kam von der Armbanduhr des Beamten. Dieser schaute jetzt darauf, seufzte leise und erhob sich ganz langsam von seinem Stuhl.

„Na, dann wollen wir mal. Ab sofort wird sich das MfS um Sie kümmern. Um ihre Frau übrigens auch.“ Er öffnete die Tür und gab seinen Leuten Anweisung, den Festgesetzten gleich an die zentrale Untersuchungshaftanstalt in Berlin zu überstellen. Sofort packten zwei Beamte den Mann bei den Armen und führten ihn ab. Er leistete keinen Widerstand.

In der „Magdalena“, dem MfS-Gefängnis in der Berliner Magdalenenstraße, verliert sich die Spur des Mannes. Auch seine Frau blieb verschwunden. Bis zur Wende 1989 kursierten Gerüchte um ein geheimnisvolles Paar mit einem futuristischen Auto, das an einem kleineren Grenzübergang im Harz festgesetzt worden sein soll. Angeblich hatten die beiden Eheleute sogar „Tricorder“ dabei wie in der Science-Fiction-Serie, die im Westfernsehen lief. In den Wirren und Freuden des Mauerfalls verloren sich diese Gerüchte jedoch. Auch in den Stasi-Archiven tauchten die Namen der Silberhochzeitsreisenden, die zu Zeitreisenden wurden, unter den Opfern des DDR-Regimes nicht auf. Von jenem futuristischen Auto und anderen Zeugnissen aus der Zukunft wurde erst gar nichts bekannt.

Am 20. Mai 2019, verschwand ein Paar mitsamt seinem Auto auf rätselhafte Weise im frisch ergrünten Harz. Eine aufwendige Suche über mehrere Tage blieb ohne Erfolg. Schon eine Woche später war darüber nichts mehr in den Zeitungen zu lesen. Dafür umso mehr über einen politischen Rechtsruck im Osten Deutschlands.

©Martin Bensen