High Five

„No, thanks!“ Das ist ja wohl eindeutig und gerade noch so höflich, wie es sich gehört. Oder doch nicht? Der Afrikaner weicht nicht von meiner Seite. Was denn noch? Lass mich in Ruhe, belästige die anderen hier am Strand. Ist dein armseliger Job. Ich kann nichts dafür und ich will auch nicht wissen, was dich hierher getrieben hat. Solche Strandverkäufer wie dich gibt es schon lange. Scheint ja zu laufen. Bei mir gerade nicht so. Meine Firma geht den Bach runter, mein Geld ist futsch. Ein schwacher Moment, eine falsche Entscheidung gegen hundert richtige. Egal, nicht mehr zu ändern. Das ist sicher der letzte Familienurlaub hier in Italien. Er gehört schon zu den bescheideneren in den letzten Jahren. Und das ist gut so. Haben wir uns je ein Urlaubsfoto noch einmal angeschaut? Machen wir überhaupt noch Fotos? Klar, wenn das Smartphone gerade griffbereit ist. Dabei sind die Dinger perfekt, um jeder Unterhaltung auszuweichen, sich nicht mehr als nötig am Familienleben zu beteiligen. Ist mir auch egal. Ich weiß schon lange nicht mehr, wo sie alle unterwegs sind. Bin es ja selber genug. Ich werde mich trennen…

„No, thanks!“ Hat er mich gerade nachgeäfft? Wie er die zwei Worte ausspricht, mit hoher Stimme, muss ich unwillkürlich an Filme mit Eddie Murphy denken. Der Afrikaner schaut mich freundlich an, zwinkert mir zu. So beladen, sieht er unfreiwillig komisch aus: Auf seinem Kopf stapeln sich bestimmt zehn Sonnenhüte, sein ganzer muskulöser Oberkörper ist über und über behängt mit bunten Körben. Billig-Ware aus China. Ich sehe Schweißperlen auf seiner Stirn. „Are you sure?“, fragt er. Plötzlich muss ich lachen. Über das ironische Echo meiner Abweisung, über mich Weichei. Darüber, wie ich hier in der Strandliege kauere, käsig weiß bis rot verbrannt, gelangweilt vom Leben.

„Yes, I’m sure!“, lache ich. Er streckt die Hand aus zum High Five. Ich schlage ein. Er geht. Lebt sein Leben weiter. Ich meines. Nicht mehr sicher, welches armseliger ist…

©Martin Bensen

Schrittmacher

Mit einem tiefen Seufzer legt der Rentner seinen Gehstock vor den Ergometer. Erste Runde: Aufwärmtraining. Er braucht eine Weile, um auf dem Sattel Platz zu nehmen, seine Füße in die Pedale einzufädeln. Dann schlägt eine Glocke. Das markante Riff ertönt. Die ersten zähen Umdrehungen bekommen langsam Fahrt. Ganz allmählich münden seine Bewegungen in den Rhythmus der Musik. Immer geschmeidiger tritt er den Takt. Jetzt schwingt sein Kopf, sein ganzer Oberkörper, hin und her. Ein Lächeln, dann ein Schrei.

Hells Bells, ihr Säcke! Ich kann’s noch.

©Martin Bensen

Alte Liebe

Düsseldorf Hauptbahnhof. Es ist später Nachmittag und der größte Teil der Reise liegt bereits hinter mir. Inzwischen habe ich den Großraumwagen des IC ganz für mich allein, die meisten Reisenden sind in Köln ausgestiegen. Eigentlich hätte es längst weitergehen sollen, aber der Zug steht immer noch. Jetzt geht die Tür auf, ein älteres Paar kommt schnaufend herein. Die Frau, eine zierliche, aber energisch wirkende Person mit rötlich gefärbtem Haar – ich schätze sie auf etwa Achtzig – geht voraus, kopfschüttelnd und mit zitternden Lippen. Sie steuert auf den freien Tisch gegenüber zu, setzt sich leise stöhnend in Fahrtrichtung ans Fenster und deponiert ihre altmodische Handtasche auf dem Nebensitz. Der Mann, einen guten Kopf größer als sie, grau und dünn, folgt ihr leicht gebückt, nimmt seinen Hut vom spärlich behaarten Kopf, bleibt aber stehen. Er zögert, schaut zu Boden. Die Frau hat sich abgewendet, sieht aus dem Fenster, noch etwas außer Atem. Der Mann wartet, tappt unbeholfen von einem Bein auf das andere.

Ich kann mich nicht mehr auf mein Buch konzentrieren. Was passiert hier? Noch immer schwankt der Mann leicht hin und her, während die Frau wie unbeteiligt aus dem Fenster schaut. Sind sie etwa kein Paar, gehören sie gar nicht zusammen und hat sie ihm womöglich den Platz weggeschnappt? Während ich noch grüble, zerschneidet eine scharfe Stimme die Stille. Nur ein Wort. Ein Kommando. Augenblicklich geht ein Ruck durch den Körper des alten Herrn. Wie ein Roboter setzt er ein paar kleine Schritte zur Seite, dann plumpst er ungelenk auf den Platz gegenüber. Kaum dass er sitzt, beugt er seinen Oberkörper vor, bleibt sein Blick an der fleckigen Tischplatte haften. Die Frau hat sich wieder abgewendet, schaut aus dem Fenster.

Mein Buch habe ich längst zugeklappt. Ich gebe vor zu dösen, lasse meine Augen aber einen Spalt weit offen, um die Beiden heimlich weiter beobachten zu können. Mit einem Ruck setzt sich der Zug in Bewegung. Als wäre dies das Signal, wendet sich die Frau schlagartig dem verkrampft sitzenden Mann zu, beugt sich vor, stützt ihre Ellenbogen auf den Tisch und hebt die rechte Hand. Ein ausgestreckter Zeigefinger deutet jetzt auf den Mann, sticht in die Luft, wippt auf und nieder. Fast unmerklich bewegen sich die Lippen der Frau, aus ihrem Mund strömen Worte, gleichmäßig und ohne Pause, aber so leise, dass ich sie nicht verstehen kann. Auf den Mann scheinen sie eine verblüffende Wirkung zu entfalten: Es ist, als krümme er sich unter Schlägen. Noch immer vornüber gebeugt, den Blick gesenkt, zuckt sein Körper im Sprechrhythmus der Frau, windet sich unter ihrem schwingenden Zeigefinger, gerade so, als würde er an einem unsichtbaren Faden gezogen wie eine Marionette. Die Frau redet weiter eindringlich auf ihn ein, ihre Augen starr auf den geduckt kauernden Mann gerichtet. Was mich verblüfft: Ihr Gesicht hat eigentlich gar nichts Hartes an sich und doch geht von der ganzen Person eine bohrende Strenge aus, die selbst mich unangenehm berührt. Ich muss aufpassen, nicht ebenso zu erstarren wie der Mann oder wenigstens beide nicht blöd anzustarren, so sehr nimmt mich die Situation am Nachbartisch gefangen. Der Mann nickt jetzt ständig mit dem Kopf, sein Körper ein einziger Ausdruck der Unterwerfung.

Kaum zu glauben, aber der Zug wird schon wieder langsamer. Wir erreichen Dortmund. Ging das wirklich die ganze Strecke so? Oder bin ich eingenickt und habe das alles nur geträumt? Während der IC mit quietschenden Bremsen in den Bahnhof einfährt, lässt die Frau von dem Mann ab. Sie lehnt sich langsam zurück und schaut wieder aus dem Fenster. Vorsichtig richtet sich ihr Gegenüber auf, den Blick noch immer gesenkt. Der Zug kommt zum Stehen. Mit einem Ruck stemmt sich die Frau hoch, packt ihre Tasche und marschiert zielstrebig zum Ausgang. Diesmal reagiert der Mann sofort, beinahe geschmeidig erhebt er sich aus seinem Sitz, rückt seinen Hut zurecht und folgt ihr. Ich kann meine Neugier nicht zügeln, setze mich hinüber und sehe gespannt hinaus auf den Bahnsteig. Da kommen sie. Mit schnellen Schritten gehen die Beiden an meinem Fenster vorbei auf die Treppe zu. Fassungslos verfolge ich, was dann passiert: Auf der obersten Stufe bleiben sie nebeneinander stehen. Sie schauen sich an. Sie blickt zu ihm auf. Zaghaft, beinahe schüchtern, schiebt sie ihre rechte Hand in seine linke. Beide lächeln jetzt, halten sich fest. Dann gehen sie langsam die Treppe hinunter. Ein trautes Paar, Hand in Hand.

Auf einer meiner vielen Zugreisen notiert, irgendwann in den späten 80ern…
©Martin Bensen