Sylvie (Concarneau)

Heiß, viel zu heiß. Das war so nicht ausgemacht. Bretagne geht anders. Dachte er. Ist den langen Weg gefahren, weil er genau dem entfliehen wollte: der sengenden Hitze, die seit Wochen über dem Süden Deutschlands hängt. Der allem zusetzenden Trockenheit. Der lähmenden Trostlosigkeit. Hier an der Nordküste wollte er die bretonische Brandung spüren, rau und ungestüm. Frisch. Er hat auf das Tosen des Meeres gehofft, auf Gischt an Felsen, das Heulen des Windes, darauf, dass sich die Zunge endlich vom Gaumen löst, sei auch Salz auf den Lippen, dass das Wetter bretonisch ist – ruppig und kalt. Solcher Art scheint aber nur die Katze zu sein, die ihn unvermittelt anfaucht. Weiterlesen

Gerüche

Die Werbung hat nicht zu viel versprochen. Ich habe es mir gekauft, den Flakon aufgeschraubt, auf den Zerstäuber gedrückt, den Duft direkt auf die Brust gegeben, wie früher, als meine Haut noch jünger, noch ganz glatt und ohne Behaarung war, appetitlicher, und als mein Schweiß noch anders gerochen hat, strenger vielleicht, nach Testosteron, weshalb ich mir jetzt über die Wirkung nicht sicher sein konnte. Weiterlesen

Ausgehen

Als Kind habe ich die Dinge wohl naiver gesehen als schon wenig später und erst recht heute, nach einem halben Jahrhundert. Mein Gott… Immer wenn meine Mutter sich zum Ausgehen „fein machte“, kam es mir so vor, als wäre es ihr im Grunde unangenehm. So wie mir.
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Liebe meines Lebens

Wie lange habe ich Rebecca nicht gesehen? Jetzt sitzt sie tatsächlich vor mir. Wir haben uns den stillsten Winkel des Cafés ausgesucht. Frischer Kaffee dampft in unseren Tassen. Doch wir wollen uns nicht den Mund verbrennen. Um ehrlich zu sein: Wir können uns nicht satt sehen aneinander. Dabei müssen sich unsere Blicke noch aneinander gewöhnen, zögernd, fast schüchtern, suchen wir den lieben Menschen aus vergangenen Tagen. Zehn Jahre ist es her, dass Rebecca mich verlassen hat, uns verlassen hat. Jetzt, wo es mich zum Studieren in eine andere Stadt gezogen hat, das unverhoffte Wiedersehen. Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder ob sie nach mir gesucht hat. Jedenfalls stand sie plötzlich vor mir, als ich mein Rad aufschließen wollte. Weiterlesen

Flashback

Bei den ersten Tönen
Der Musik von damals
Verklärte sich dein Blick
Rangst du nach Worten
Flammte in deinem Herzen
Das Glück vergangener Tage
Auf
Nahm dich ganz gefangen
Ließ deine Augen glänzen
Machte dich vollends stumm
Und sang zugleich in dir
Solang das Lied erklang
Blieb alles und jeder außen
Vor

©Martin Bensen

Life is a one way ticket

Zugfahren ist immer noch die lässigste Art zu reisen. Ohne etwas tun zu müssen auf einem vorgegebenen Weg durch die Gegend gleiten, mal schneller, mal langsamer, an fremden Orten halten, Menschen kommen und gehen sehen, sie begrüßen, mit ihnen ins Gespräch kommen und wieder von ihnen Abschied nehmen – während Landschaft vorüberzieht und Zeit vergeht. Eine Zugreise ist wie das Leben. Oder doch nicht? Einmal begab es sich, dass mir das Gefühl dieses einen Weges, ja sogar meines Lebens selbst, verloren ging. Ausgerechnet auf einer Zugreise.

Mein Zug hielt in einem kleinen Ort, mitten im Nirgendwo, ich hatte die letzte Etappe verschlafen, das ganze Abteil immer noch für mich. Bis die Tür aufging und eine zierliche Frau mittleren Alters mit freundlicher Stimme fragte, ob noch ein Platz frei wäre. Ich deutete mit einer einladenden Handbewegung auf die fünf unbesetzten Plätze, die Frau dankte und setzte sich ohne Zögern mir gegenüber ans Fenster. Das machte mich etwas verlegen, ich schaute nach draußen und dann wieder verstohlen zu ihr, sie hatte nur eine Handtasche dabei, die sie auf dem Nebensitz abgelegt und keines Blickes mehr gewürdigt hatte. Ich starrte weiter krampfhaft aus dem Fenster, realisierte aber etwas zu spät, dass wir in einen Tunnel einfuhren und sich plötzlich mein Gesicht direkt vor mir spiegelte. Das war mir zu dumm und ich wandte meinen Blick der Frau zu.

Sie hatte mich die ganze Zeit offen angeschaut, jetzt lächelte sie aus ihrem strengen, aber durchaus attraktiven Gesicht. Ihre dünnen, ungeschminkten Lippen formten ein schmales, sparsames Herz, darüber stach eine markante, leicht gebogene Nase hervor, ihre Augen lächelten nicht mit – eisgrau waren sie, blickten mich starr an. Ihre ganze Erscheinung, der dünne Hals, das schmale Gesicht, die streng zurückgebundenen hellblonden Haare, wirkten auf mich mit einem Mal gefährlich. Zu spät – mir wurde schwindlig, ich hatte Unterdruck in den Ohren, was mir oft passiert bei schneller Fahrt durch einen Bahntunnel, den wir in dem Moment schon wieder verließen, als die Frau mich ansprach. Ihre Stimme wirkte verändert, die Worte kamen langsam aus ihrem Mund, bleiern…

„Du denkst, du bist ein guter Mensch? Auch dein Leben schafft nie nur das Gute, sondern immer zugleich das Böse…“ Eine seltsame Lähmung erfasst mich, die Welt um mich herum beginnt, sich in Wellen aufzulösen, in meinen Ohren hallt die Stimme der Frau nach, ihre Gestalt wirkt plötzlich größer, mächtiger. Ihre Pupillen sind geweitet, haben die eisgraue Iris fast verdrängt. Während ich mich weiter versteife, flackert fahles Licht in den Augen vor mir auf. Erst kann ich nichts erkennen, dann werden die Bilder immer größer, verschmelzen zu einem Film auf einer Leinwand. Doch sie laufen rückwärts, bekannte Bilder, Bilder meines Lebens – sie saugen mich auf. Ich wirble durch einen flimmernden Strudel, im nächsten Moment falle ich – dann kommt alles zum Stillstand und ich lande abrupt auf etwas Weichem. Verwirrt starre ich auf eine gelb angeleuchtete Zimmerdecke, blicke panisch um mich.

Das gibt es doch nicht! Ich erkenne alles sofort wieder, liege auf dem Bett in meiner Studentenbude. Der Wecker neben mir, mein alter brummender, längst entsorgter Radiowecker zeigt Datum und Uhrzeit in roter Schrift: Es ist jener Samstag im Herbst 1985, der Tag, an dem – davon bin ich bis heute überzeugt – mein Leben beinahe ein Ende fand und dann doch erst richtig Fahrt aufnahm. Noch nach all den Jahren sehe ich deutlich vor mir, wie ich dalag, mich plötzlich das bange Gefühl von etwas Übermächtigem überkam und ich mit einem Mal wusste, dass ich mich entscheiden musste. So liege ich also wieder hier, sehe mich abermals vor dieser Entscheidung: Mein Leben jetzt und hier „zurückzugeben“ (dieses Wort drang damals in mein Bewusstsein) oder aufzustehen und es endlich in beide Hände zu nehmen. Ich hatte mich in jenem Semester gehen lassen, keinen klaren Gedanken mehr fassen können, sämtliche Seminare geschmissen und meine ganze Zeit auf Partys, mit belanglosen Flirts, Alkohol und Zigaretten, mit dem Auskurieren zahlloser Rauschzustände verbracht. Ohne Haltepunkt, ohne Ziel, eher harmlos war ich und wurde von manch enttäuschtem Abenteuer doch schon mal als „liebenswürdiges Arschloch“ verflucht. Mein Leben kam mir damals nutzlos vor. Stehe ich wieder vor dieser Entscheidung? Bin ich jetzt bereit, mein Leben „zurückzugeben“ (an wen oder was eigentlich?) und damit alles, was dann kam, null und nichtig zu machen? Aber was wird dann? Wird es all die Menschen nicht geben, die ich heute kenne und liebe, meine Kinder, die ich ja selbst mit ins Leben gesetzt habe? Angst packt mich. Keine Angst vor dem Sterben, nein, Angst vor dem Leben, das wieder vor mir liegt. Das ich schon kenne und nicht noch einmal leben will, jedenfalls nicht mit meiner ganzen Erinnerung daran.

So hart das Schicksal zuschlagen kann, so gnädig ist es, uns erst im Moment seines Wirkens die Konsequenz spüren zu lassen – oder eben gar nicht mehr, im krassesten, vielleicht gnädigsten Fall… Hier und jetzt ist es anders. Das Schicksal spielt mit mir, stößt mich erneut auf eine Entscheidung, die ich längst getroffen hatte und die ich bis heute auch nicht bereue. Wut steigt in mir hoch, macht mich trotzig: Was ist denn, du Arschloch von einem Schicksal, was ist, wenn ich mich jetzt tatsächlich anders entscheide? Wahrscheinlich verhöhnt es mich gerade, denn auch jetzt hält mich etwas zurück. Na klar, zuletzt ist es immer der unbedingte Lebenswille, die instinktive Kraft in jedem Lebewesen – nicht einfach gehen, sondern leben, nicht einfach geschehen lassen, sondern machen, weiter und immer weiter! Von Ferne dringt wieder diese Stimme in meinen Kopf… „immer zugleich das Böse“… Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, mich an möglichst viele Einzelheiten zu erinnern, sehe, wie alles begann, als ich vor Schreck, tatsächlich mein Leben lassen zu können, ganz bewusst und mit einem beseelten Gefühl auf dieses Fest ging, die Frau kennenlernte, die meinem Leben eine neue Richtung gab. Ich sehe alles vor mir: Liebe, Leidenschaft, Streit, hochgeistige und abscheulich erniedrigende Diskussionen, schließlich den sang- und klanglosen Abschied in einer Stadt, in die ich ihr gefolgt war, in der ich mich jäh entwurzelt und sehr einsam gefühlt hatte. Um auch aus dieser Krise heraus in mein jetziges Leben zu gleiten…

„Nein, du kannst sie nicht mehr fragen.“ Die Stimme löste meine Lähmung, ich war nicht mehr in dem Zimmer meiner Vergangenheit, die Geräusche des fahrenden Zuges kamen wieder in Wellen zurück. „Ja“, hörte ich mich murmeln, „und das bedauere ich sehr.“ Weniger über ihren viel zu frühen Tod habe ich getrauert, als darüber, nicht noch einmal mit ihr geredet zu haben. Vielleicht hätte ich mein schlechtes Gewissen, sie dieses eine unwiderrufliche Mal so sehr verletzt zu haben, etwas erleichtern können. Vielleicht hätte sie mir verziehen. Womöglich hatte sie, ohne dass ich es weiß. Aber die Zeit war so schnell vergangen und irgendwann war alles schon so lange her, ich wurde schließlich gebraucht, in meinem neuen Leben, einem Leben, das sie als spießig empfunden und rundweg abgelehnt hatte. Bis zu der schrecklichen Nachricht, überbracht von einem unserer alten Freunde, die sich nach unserer Trennung von mir abgewandt hatten, habe ich nichts mehr von ihr gehört – mich aber auch nie darum bemüht, denn zu tief saß wohl jenes diffuse Unbehagen über all die Jahre des scheinbaren Vergessens…

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Die Frau gegenüber lächelte. Die Sonne schien auf ihr blondes, jetzt offenes Haar, ihre gar nicht mehr eisgrauen Augen lächelten nun auch, so wie ihr Mund, das freundliche Herz ihrer Lippen. Wahrhaftig eine schöne Frau. „Mögen Sie?“ Sie hielt mir einen Apfel hin. Verdattert wie ich war, griff ich zu, biss aber, anders als sie, nicht hinein. Sie kaute gedankenverloren, schluckte ihren Bissen schließlich hinunter und wandte sich mir freundlich zu: „Finden Sie nicht auch, unser Leben ist eine spannende Reise? Wenn wir uns, wie jetzt mit diesem Zug, entscheiden, zum Ziel unserer Wahl zu fahren, kann uns vielleicht ein Unglück treffen. Doch eher wird uns eine Verspätung aufhalten, eine Panne das Ziel nicht erreichen lassen. Höhere Gewalt? Vielleicht. Aber wir müssen uns ja dazu verhalten. Wenn wir kurzentschlossen doch noch aussteigen, werden wir einen anderen Weg einschlagen, uns dann mal mehr, mal weniger anstrengen. In jedem Fall wird unser Leben in dem Moment buchstäblich eine andere Richtung nehmen. Solange wir leben, entscheiden wir, ob und wie wir handeln oder reagieren – oder ob wir einfach nichts tun. Alles aber hat eine Wirkung. Und die können wir nur noch bedingt beeinflussen.“ Sie biss noch einmal herzhaft in ihren Apfel und schaute aus dem Fenster. „Aber wenn ich nie weiß“, entfuhr es mir, „was aus meinem Handeln folgt, auch wenn ich bester Absicht bin, wie kann ich je verhindern, dass andere nicht doch darunter leiden, selbst wenn ich fest davon überzeugt bin, alles richtig gemacht zu haben?“ Sie lächelte mich wieder an, diese zauberhafte Frau. „Überzeugt mögen Sie davon sein, aber wissen Sie denn wirklich, ob Sie alles richtig gemacht haben? Was heißt denn ‚richtig‘, für wen oder was ist es das? Was sie tun, können sie nicht mehr ändern, es ist geschehen. Sie können einen Fehler korrigieren, dennoch haben Sie den Fehler gemacht und er wirkt womöglich stärker als alles Wiedergutmachen. Wie heißt dieser alte Blues-Song: ‚Life is a one way ticket’…“ Ihre Augen blickten mich zugleich verträumt und offen an. Ich hatte den Impuls, sie zu berühren, diese liebenswerte, kluge, starke Frau. Sie schien meine Gedanken zu erraten, schenkte mir ein strahlendes Lächeln. „Ich bedauere es fast ein bisschen, aber leider muss ich hier aussteigen.“ Und schon griff sie nach ihrer Handtasche. „Bleiben Sie mutig! Es kommt wie es kommt, folgen Sie Ihrem Herzen, bleiben Sie fair, auch zu sich selbst. Und noch eins: Das Leben ist zu kurz, um nur zu schauen, ob Sie ein anderes, besseres verpassen könnten.“ Sie zwinkerte mir zum Abschied zu.

Fast unmerklich war der Zug zum Stehen gekommen. Ein weiterer kleiner Bahnhof, an dem erstaunlich viele Menschen aus- und einstiegen. Wunschziel für manche – wie für diese besondere Frau. Draußen auf dem Bahnsteig sah ich sie noch einmal, wie sie mit einem fröhlichen Hüpfer in die Arme eines Mannes sprang, sich lachend von ihm hochheben und küssen ließ. Ohne einen weiteren Blick Richtung Zug spazierte das Paar eng umschlungen in Richtung Ausgang, in der Hand des Mannes schlenkerte lässig eine Flasche Sekt. Dann waren beide vollends in ihrem Leben verschwunden.

Der Zug fuhr wieder an. Jetzt freute ich mich auf Zuhause. Herzhaft biss ich in den Apfel, er war süß und saftig. Alles andere hätte mich auch gewundert. Hoffentlich hatte der Blumenladen noch offen…

©Martin Bensen