Wunderwasser

Ein Märchen

Einmal in der Woche, immer sonnabends zogen die älteren Männer des Dorfes in aller Frühe hinauf auf ihren Hausberg. Sie taten dies bei jedem Wetter und selbst im tiefsten Winter. Dann war der Weg so beschwerlich, dass sie der Aufstieg gut und gerne einen halben Tag kostete. Nur einmal in der Geschichte des Dorfes blieb den Männern der Aufstieg drei Wochen lang verwehrt, zu widrig waren die Umstände, zu groß die Lawinengefahr, sodass sie um Leib und Leben fürchten mussten. In jenen Tagen strickten die Frauen ihnen Mützen aus Schafwolle, die zwar wärmten, aber doch auch gehörig kratzten, sodass die Männer den Abend herbeisehnten, an dem sie die wollenen gegen ihre leichten Nachtmützen aus lindernden Leinen tauschen konnten. In jenen drei Wochen trugen alle älteren Männer jenes Dorfes Tag und Nacht Mützen. Aber nicht wegen der Kälte allein taten sie das, denn ihre Häuser waren warm und draußen war zu dieser Jahreszeit ohnehin nichts zu tun. An Holz zum Heizen herrschte auch kein Mangel. Es gab einen anderen Grund für das Behüten ihrer Köpfe. Weiterlesen

Liebe meines Lebens

Wie lange habe ich Rebecca nicht gesehen? Jetzt sitzt sie tatsächlich vor mir. Wir haben uns den stillsten Winkel des Cafés ausgesucht. Frischer Kaffee dampft in unseren Tassen. Doch wir wollen uns nicht den Mund verbrennen. Um ehrlich zu sein: Wir können uns nicht satt sehen aneinander. Dabei müssen sich unsere Blicke noch aneinander gewöhnen, zögernd, fast schüchtern, suchen wir den lieben Menschen aus vergangenen Tagen. Zehn Jahre ist es her, dass Rebecca mich verlassen hat, uns verlassen hat. Jetzt, wo es mich zum Studieren in eine andere Stadt gezogen hat, das unverhoffte Wiedersehen. Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder ob sie nach mir gesucht hat. Jedenfalls stand sie plötzlich vor mir, als ich mein Rad aufschließen wollte. Weiterlesen

Das Karwendel-Geheimnis

Es war ihr Lächeln. Ein Lächeln, das nicht zu den traurigen Augen passte. Sie hatte ihn nur kurz angeblickt. Nein, eigentlich hatte er nur kurz aufgeblickt. Zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, nicht auszurutschen. Gerade an der steilsten Stelle war der geschmolzende Schnee zu einer Eisbahn geworden. Nur mit Mühe und mit Hilfe des verwitterten Handlaufs schaffte er es. Weiterlesen

Ratlos

Mit hilflos winkenden Armen
Steht der junge Mann vor ihm
Dem weisen Vater der ihm stets
Ein wertvoller Ratgeber war

Ängstlich schier verzweifelt
Fleht der Junge den Alten an
Doch der steht starr und ratlos>
Schaut schweigend in ein Nichts

So verstummt der Junge auch
Lässt seine Arme mutlos sinken
Hört in dieser totenstillen Nacht
All das Gute wie Blut verrinnen

©Martin Bensen

Die Frau am Meer

Eigentlich hatte ich genug von Sand, Strand und Sonne. Die Ostsee war Anfang Juni noch zu kalt zum Baden. Morgen würde ich in aller Frühe abreisen. Mein Kurzurlaub, vier Nächte in einem Waldschlösschen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, er war mir nun doch ausreichend lang erschienen. Drei Tage war ich stramm auf Deichen und durch Wälder geradelt, hatte mich hier und da an den Strand begeben, das Meeresrauschen und den warmen Westwind genossen, war jeden Abend treuer Gast im freundlichen Schlösschen und nach einem Zwei-Gänge-Menü und drei großen Störtebekern vom Fass alsbald auf meinem Zimmer und wenig später im Reich der Träume.

Was trieb mich also an diesem späten, aber noch hellen Abend ein letztes Mal an den Strandabschnitt mit den Wellenbrechern, kurz vor dem gesperrten Teil der Küste? Genau hierher hatte mich meine Neugier gleich am Ankunftstag spätnachmittags geführt, so froh am Meer zu sein. Voller Übermut hatte ich meine Stoffschuhe von den Füßen geschleudert und war auf das Wasser zugerannt. Die kalten Wellen waren eine Wohltat nach der langen Autofahrt. Bis zu den Knien stand ich im Wasser, schaute glücklich mal in die Dünen, mal aufs Meer, als ich sie zum ersten Mal sah. Die Frau trug ein langes weißes Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Zielstrebig steuerte sie auf eine ausgelaugte Baumwurzel zu, die wie ein Skelett etwa fünfzig Meter von mir im Sand lag. Knapp davor ging sie in die Knie. Erst jetzt bemerkte ich die Kamera in ihrer Hand. Sie schien ganz in ihrem Tun versunken zu sein, eine Weile probierte sie vor der Wurzel verschiedene Winkel und Perspektiven, dann schien alles zu passen. Der Abend war wie gemacht für ein tolles Motiv, auch ich nahm mein Smartphone aus der seitlichen Tasche meiner Shorts. Dunkle Wolken hatten sich vor der tiefstehenden Sonne aufgetürmt, doch aus dem mächtigen Gebilde drang unterhalb ein Strahlenkranz, der weit hinten die roten, grünen und gelben Gräser der weißsandigen Dünen in einem breiten Streifen aufleuchten ließ. Die ganze Szenerie hatte etwas Sakrales. Darin nur die Frau und ich, das Meeresrauschen und der Wind. Wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Wenige Minuten später war der Zauber vorüber. Die Frau in Weiß bewegte sich Richtung Strandzugang, auch ich hatte genug und folgte ihr. Als ich mein Rad erreichte, war sie bereits auf ihres gestiegen, ein in die Jahre gekommenes Minirad. Während ich meine Füße noch vom Sand befreite und die Schuhe wieder anzog, bog sie schon nach rechts auf den Deich ab. Mein Weg führte in die andere Richtung.

Drei Abende später stand ich also wieder an diesem Strand. Ein einsames Minirad lehnte unverschlossen am seitlichen Geländer des Zugangs. So war ich wenig überrascht, als ich die Frau von neulich wieder sah. Diesmal kniete sie nicht im Sand, hatte auch keine Kamera dabei, sie stand etwa hundert Meter weiter ganz nah am Wasser, ließ die zahmen Ostseewellen an ihren Füßen lecken. Die Frau bewegte sich nicht, trug jetzt ein schwarzes Kleid, das sich in den Windböen seitlich bauschte. Ihr langes Haar hatte sie beim letzten Mal wohl hochgesteckt, jetzt wehte es wie eine dunkle Fahne von ihr weg. Von meiner Stelle am Zugang aus wirkte die Frau wie eine Skulptur mit Segel, dahinter zwei grobschlächtige Holzfiguren auf den Wellenbrechern, knorrige Gnome auf schwarzen Pfählen.

Ich war unschlüssig, ob ich weiter an den Strand gehen sollte, eigentlich reichte mir ein Abschiedsblick. Auch wollte ich die Frau nicht stören, denn sie schien ihr Alleinsein nur mit dem Meer und dem Wind zu genießen. Noch während ich mich umdrehte, bemerkte ich, wie die Frau sich bewegte. Sie ging einen Schritt auf das Wasser zu, dann noch einen und noch einen, schon stand sie bis zur Hüfte im Wasser. Ich stutzte, das Meer war kalt, ich selbst hatte es nicht geschafft, ein Vollbad zu nehmen, geschweige denn zu schwimmen. Und warum im Kleid? Jetzt stand die Frau bis zur Brust im Wasser und sie bewegte sich weiter auf das offene Meer zu. Hier stimmte was nicht! Ohne weiter nachzudenken rannte ich durch den tiefen Sand auf die Frau zu, die in merkwürdig starrer Haltung weiter ins Meer trieb und im nächsten Moment von einer Welle überspült wurde. Sie tauchte nicht mehr auf. Ich hatte das Wasser erreicht, sprang mit ein paar Sätzen hinein, hastete halb watend, halb schwimmend, auf die Stelle zu, wo ich die Frau gerade noch gesehen hatte und konnte bald auch nicht mehr stehen. Das Wasser war eiskalt, doch ich zwang mich unterzutauchen und die Augen zu öffnen. Ein schwarzer Schatten weiter links, offenbar hatte die Strömung die Frau erfasst. Mit aller Kraft schwamm ich auf den Schatten zu, bekam schließlich etwas zu fassen, zerrte daran. Ich hatte kaum noch Luft, doch ich hielt fest und zog. Endlich erwischte ich einen Arm, drehte ihn zu mir herüber, umfasste ihren leblosen Körper und tauchte auf. Wie ich es gelernt hatte, schwamm ich mit der leblosen Frau im Rettungsgriff Richtung Strand. Noch im seichten Wasser kam Bewegung in den Körper, schlugen die Arme nach mir, dann ertönte ein Gurgeln, gefolgt von einem Schrei.

„Nein! Nein! Lass!“ Wild schlug die Frau um sich. „Lass mich los!“ Das würde ich mit Sicherheit nicht tun. Ich umfasste ihren Oberkörper und hievte mich mit ihr aus den Wellen an Land. Keuchend lagen wir nun beide da, das Schlagen hatte aufgehört, jetzt ertönte ein Wimmern, die Frau krümmte sich, begann zu zittern. In meinem Rucksack war ein halbwegs trockenes Strandtuch, doch er lag noch drüben am Zugang. Also zog ich die zitternde Frau ein Stück zu mir, hielt sie im Arm und rieb sie so gut es ging mit der anderen Hand warm. „Kannst du aufstehen?“, fragte ich, als sie langsam etwas ruhiger wurde, stemmte mich hoch und griff ihr unter die Arme. „Dort drüben in den Dünen ist der Wind nicht so stark und der Sand noch warm, lass uns bitte da hingehen.“ Sie machte tatsächlich mit, wir schafften den Weg und lagen wenig später wie in einem warmen Nest in einer Dünenmulde. Noch immer wendete sie ihr Gesicht von mir ab, war wie ich voller Sand, ihre langen Haare klebten wie schwarze Ölschlieren an Gesicht und Körper. Was mochte in ihr vorgehen? Wie verzweifelt muss jemand sein, der sich auf diese Weise das Leben nehmen will? Noch vor drei Tagen hatte sie einen lebhaften, wenn auch etwas verträumten Eindruck auf mich gemacht. Ich überlegte, ob ich meinen Rucksack holen sollte, doch im Moment wollte ich die Frau nicht alleine lassen.

„Wie heißt du – ich darf doch ‚du‘ sagen?“ Keine Reaktion, doch das Zittern hatte nachgelassen. „Ich heiße Michael. Kann es sein, dass ich dich schon vor drei Tagen hier gesehen habe? Du hast Fotos gemacht, mit einer Kamera. Sind bestimmt schöne Aufnahmen geworden.“ Stille. Dann drehte sie sich unvermittelt um und sah mir durch einen nassen Vorhang aus Haarsträhnen geradewegs in die Augen. „Einen Scheiß sind die geworden!“ Sie wendete sich wieder ab, doch ihr Körper hatte an Spannung gewonnen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, stützte sich auf ihre Ellbogen und schaute über den Rand der Düne Richtung Meer. „Hast du eine Mission, Erzengel? Rettest du Frauen an einsamen Küsten? Wenn du ein Engel wärst, wüsstest du, dass das bei mir keinen Sinn hat. Aber du bist auch nur ein Mann. Ihr seid alle gleich…“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, spürte aber auch, dass es gerade besser war zu schweigen. Doch sie sprach nicht weiter. Ihr Blick ruhte unverwandt auf dem Meer. Grüne Augen, sie hat die Augen eines Raubtiers, dachte ich. Solche Augen jagen, begehren, wollen etwas – solche Augen resignieren nicht. Sie war schlank, aber kräftig, sah aus wie eine Frau, die mitten im Leben steht. Ich schätzte sie auf etwa vierzig. Vielleicht eine Schauspielerin, auf jeden Fall Künstlerin, dachte ich bei mir.

Jetzt wagte ich doch, sie wieder anzusprechen. „In meinem Rucksack dort drüben ist ein halbwegs trockenes Handtuch, soll ich es holen?“ Unvermittelt fing sie an zu lachen. Erst verhalten, dann immer ausgelassener, schließlich beinahe hysterisch. Instinktiv hatte ich etwas Abstand genommen. Gerade rechtzeitig, denn ihr Lachen erstickte jäh in einem Gurgeln, sie übergab sich in kurzen heftigen Schüben in den Sand. Es war nur Wasser, aber nur wenig mehr davon dort draußen und sie wäre ertrunken. Mit einem tiefen Seufzen sank sie zurück in den Sand und schloss die Augen. Einige Augenblicke später war sie eingeschlafen, atmete in tiefen, ruhigen Zügen. So konnte ich sie wohl eine Weile liegen lassen. Vorsichtig stand ich auf und schlich mich aus der Düne zu meinem Rucksack. Um diese Zeit war wirklich niemand mehr am Strand, er gehörte wieder ganz der Natur. Auch ich hätte mich jetzt langsam auf mein Zimmer zurückgezogen, um viel vom nächsten Tag zu haben. Leider musste ich meinen Urlaub abbrechen und sehr früh abreisen. Die Nachricht hatte mich gestern erreicht: Ein guter Freund von mir war nach langer, schwerer Krankheit gestorben, die Beerdigung war schon am morgigen Nachmittag und ich hatte von hier aus noch fünf Stunden Fahrt vor mir. Ich wollte nicht ungerecht sein, aber ich bemerkte, wie Wut in mir aufkeimte. Dort musste ein geliebter Mensch sterben, hier suchte ein mir völlig unbekannter willentlich den Tod. Dem vertrauten konnte ich nicht helfen, dem fremden sehr wohl. Warum, zur Hölle, wollte sie nicht mehr leben? Mit diesen Gedanken kehrte ich zu der unbekannten Frau zurück, zog das Handtuch aus dem Rucksack und breitete es über der Schlafenden aus. So wie sie da lag, wirkte sie ruhig und zufrieden – und sie war schön.

Ich setzte mich wieder zu ihr und blickte aufs Meer hinaus. Was hat das Leben dieser schönen Frau angetan? Ich schüttelte den Kopf, was nützte meine Wut, die sinnlose Selbstbefragung, ich kannte sie nicht, wusste nichts über diesen Menschen, um auch nur ansatzweise über ihn urteilen zu können. So einen Schritt macht niemand ohne Grund. Vielleicht war auch sie schwerkrank, wollte aber eben nicht kämpfen wie mein alter Freund. War er das eigentlich noch, ein Freund? Hatte ich mich wirklich mit ihm und seinem Schicksal beschäftigt? Die letzten Jahre standen wir nur noch sporadisch in Kontakt, hatten uns hin und wieder geschrieben. Bis vor kurzem wusste ich nicht einmal von seiner schweren Krankheit, seine Mails steckten immer voller Lebensfreude, meistens schickte er Bilder von seiner Familie mit, darunter nicht wenige Urlaubsfotos, bis zuletzt waren sie gereist, hatten sich das was kosten lassen, denn beide Ehepartner hatten herausfordernde Jobs, die natürlich nicht zu Lasten ihrer Kinder, einer Tochter, 9, und einem Sohn, 16, gehen sollten. Angesichts solcher Mails war ich fast neidisch. Ich war ohne Familie geblieben, inzwischen war es wohl auch zu spät dafür. Ein Mittfünfziger entwickelt als Single seine Eigenheiten und die vergiften, anfangs subtil, am Ende umso derber, jede noch so vielversprechende Liebesbeziehung – erst recht sind sie kein Fundament für eine Familie. Daran änderten auch gute Freunde nichts, sie neigten leider dazu, noch Salz in meine Wunden zu streuen, nicht böswillig, sondern eher gedankenlos, und machten es dann noch schlimmer, wenn sie mit mitleidigen Blicken eilfertig Entschuldigungen stammelten. Auch mein hochkommunikativer Job im Marketing war eher kontraproduktiv, denn in der Freizeit wollte ich am liebsten meine Ruhe haben. An Affären mangelte es mir gleichwohl nicht, aber sie verkümmerten in dem Maße, in dem mein Freiheitsdrang an Kraft gewann. Und das war bisher noch jedes Mal passiert. Reisen konnte ich nach Belieben, doch mir lag nichts an der Ferne, ich liebte die Einsamkeit in der Natur und von der gab es zum Glück reichlich in der Heimat. Am liebsten war mir das Meer – meine letzte Liebschaft kommentierte das bittersüß: Für sie war ich am Ende „der alte Mann und das Meer“. Das Buch hatte sie mit Sicherheit nicht gelesen, ich dagegen liebte es…

Neben mir regte sich etwas. Ein schwarzweiß gefiederter Vogel mit rotem Schnabel, augenscheinlich ein Austernfischer, hatte sich auf den Rand der Mulde gestellt, ganz nah an der schlafenden Frau. Er beäugte sie neugierig – und ich ihn. Ob Tiere merken, wenn es Menschen schlecht geht? Von Hunden war das bekannt, manche können offenbar selbst bei fremden Menschen schwere Erkrankungen wittern, aber von Wildtieren, gar von Vögeln? Umgekehrt vielleicht. Ich musste an meine Oma denken, die mit dem Ruf eines Käuzchens vor ihrem Fenster immer ihr letztes Stündlein gekommen sah. Sie wurde weit über neunzig und starb nach einem erfüllten, gottesfürchtigen Leben friedlich, ohne Angst – und ohne Käuzchen… Eine Hand schob sich in mein Sichtfeld, auf den Vogel zu, langsam, behutsam. Die Frau war aufgewacht, lag immer noch still, mit halbgeschlossenen Augen und einem Lächeln in ihrem schönen Gesicht. Nur ihre Hand schob sich Zentimeter um Zentimeter durch den Sand auf den Vogel zu. Der bewegte sein Köpfchen hin und her, beäugte die Hand aufmerksam, blieb aber weiter ruhig stehen. Die Hand der Frau drehte sich langsam, öffnete sich zu einer flachen Mulde, kam direkt unterhalb des Vogels zur Ruhe. Der pickte mehrmals sanft in die Handfläche, die Frau musste kichern, hob ihre Hand etwas an und streichelte das Tier an der Unterseite. Sprachlos vor Staunen verfolgte ich das unglaubliche Schauspiel. „Da unten ist das Gefieder weich und flauschig, das Streicheln mag der Kleine. Willst du auch mal?“ Die Frau sah mich jetzt aus wachen Augen herausfordernd an. Ich war unschlüssig, versuchte mich zu recken, dem Vogel entgegen. Doch der sah mich nur böse an, streckte die Flügel aus und flog davon. Stumm verfolgten wir beide seine Flugbahn über die Dünen, den Strand, hinaus aufs Meer, hinein in die Dämmerung, die ihn schließlich verschluckte.

„Es wird dunkel. Und kühl ist es auch geworden. Wo wohnst du denn? Kann ich dich irgendwohin begleiten?“, fragte ich vorsichtig.
Die Frau sah mich forschend an, dann grinste sie. „Hast wohl Angst, dass ich gleich wieder ins Meer steige, was?“ Sie wurde nachdenklich, sah zum Wasser hinüber, das jetzt dunkel und unheimlich schimmerte, und dann wieder zu mir. „Du bist kein schlechter Kerl, das spüre ich. Das was du getan hast, musstest du tun. Wer weiß, ob das jeder gemacht hätte. Dazu gehört Mut.“
Ich versuchte abzuwiegeln, doch sie sprach gleich weiter: „Und ich bin dir dankbar. Nicht, dass du mich da rausgezogen hast, nein, ich danke dir, dass du nicht fragst, wenigstens nicht laut.“ Sie musste schmunzeln.
Was sie doch für eine rätselhafte, interessante, außergewöhnliche Frau ist, dachte ich.
Jetzt lächelte sie mich an. „In deinen Augen sehe ich viel Liebe. Wer mit dir zusammen ist, darf sich glücklich schätzen.“
„Echt jetzt? Na, ich weiß nicht… Bisher habe ich noch jede erfolgreich in die Flucht geschlagen.“, gab ich scherzhaft zurück und versuchte so meine Unsicherheit zu überspielen.
Sie blickte wieder zum Meer, ihre Miene hatte sich verdüstert. „Das, was ich getan habe… tun wollte… muss dich nicht belasten. Es ist keine Sache zwischen Menschen, es ist ganz allein meine Sache. Mein verdammtes Recht! Und ich muss niemandem, absolut niemandem Rechenschaft ablegen, schon gar nicht Gott. An den glaube ich sowieso nicht. Ich habe oft darüber nachgedacht, wer oder was mir das Leben ‚geschenkt‘ haben soll. Es ist kein Geschenk! Im Gegenteil: Sobald wir leben, sind wir doch alle des Todes. Aus allem wird am Ende nichts. Wir strampeln uns ab – Dumme und Schlaue, Arme und Reiche, Glückliche und Verzweifelte, wir bringen es zu was oder auch nicht. Doch am Ende gehen wir alle den einen Weg, den Weg ins Nichts. Ich hatte mich für eine Abkürzung entschieden. Ganz bewusst und völlig im Reinen mit mir. Dann läufst du mir über den Weg…“
„Moment mal“, versuchte ich zu widersprechen, doch mit einem Ruck stand sie auf, klopfte sich den Sand aus ihrem noch feuchten Kleid, schlug das Handtuch aus, faltete es ordentlich zusammen und gab es mir zurück.
„Und jetzt?“, fragte ich kleinlaut.
„Jetzt fahren wir beide nach Hause. Du zu dir und ich zu mir. Keine Angst, du darfst mich noch zu meinem Fahrrad begleiten. Aber dann trennen sich unsere Wege.“ Sie stieg aus der Mulde und rutschte leichtfüßig die Dünenkante zum Strand hinab. Ich folgte ihr. Am Zugang bückte sie sich und zog neben dem Holzgeländer ein paar Schuhe und einen Rucksack hervor.
„Hier drin ist alles, was ich noch habe.“, sagte sie leichthin und fädelte ihre Arme in die Schlaufen. „Der Finder hätte das ganze Zeug behalten können. Eine gute Kamera, nicht allzu viel Bargeld – und ein Schwarzweißfoto, das ich noch in einer Drogerie ausgedruckt habe, bevor ich alle Dateien auf der Chipkarte gelöscht habe. Wenn schon, denn schon.“ Sie ließ den Rucksack wieder herunter, öffnete ihn und zog ein Papierbild hervor. „Hier, das schenke ich jetzt dir. Dass du mich beobachtet hast neulich, ist mir natürlich nicht entgangen. Insofern sind wir ja fast alte Bekannte…“ Sie grinste schief und sah mich von der Seite an.
Ich nahm das Foto, konnte in der Dämmerung aber kaum noch etwas darauf erkennen.
„Betrachte es im Sonnenlicht, es kommt auf den Kontrast an.“
„Willst du mir nicht wenigstens deinen Namen verraten?“
„Beim nächsten Mal. Wenn das Schicksal es will…“ Sie hatte sich ihren Rucksack wieder aufgesetzt, wandte sich von mir ab und ging schnurstracks auf ihr Minirad zu. Wenige Augenblicke später war sie in der Dunkelheit verschwunden. Ich seufzte laut, verstaute das Foto vorsichtig in meinem Rucksack und fuhr wie benebelt die kurze Strecke durch den Wald und am Deich entlang zu meiner Unterkunft. Bar und Restaurant waren bereits dunkel und so stieg ich die alte Holztreppe hoch zu meinem Zimmer. Als erstes entsandete ich mich gründlich unter der Dusche, steckte die schmutzigen, klammen Sachen in eine Plastiktüte und packte alles andere für den frühen Aufbruch am nächsten Morgen zusammen. Dann fiel ich todmüde ins Bett.

In dieser kurzen Nacht träumte ich alles mögliche, doch als mein Handywecker klingelte, zerplatzte jede Erinnerung daran wie eine Seifenblase. Draußen graute ein schöner Sommermorgen, die Vögel zwitscherten bereits bunt durcheinander, von weitem drang der Ruf eines Kuckucks herüber, weckte Kindheitserinnerungen. Mit schweren Beinen wankte ich ins Bad, nahm eine kalte Dusche, die mich halbwegs belebte. Nach einer Tasse Kapselkaffee raffte ich mein Zeug zusammen, ließ den Schlüssel verabredungsgemäß stecken und begab mich zu meinem Auto. So ein Mist, ich hatte den Rucksack mit den nassen Badesachen nicht mehr ausgepackt.

Augenblicklich überfielen mich die Bilder des vergangenen Abends. Die fatale Begegnung am Strand – das Foto… Hastig öffnete ich den Reißverschluss und zog ein welliges Stück Papier hervor. Mit einem leisen Fluch strich ich das Foto auf dem Kofferraumboden glatt, doch es war bereits zu spät. Was auch immer darauf zu sehen gewesen war, es war weg, zu erkennen war nur noch eine graue Fläche, durchzogen von faserigen weißen Äderchen. Ich betrachtete das, was einmal ein Foto gewesen war, versuchte mit aller Anstrengung ein Muster, eine Form auszumachen. War da nicht das Baumskelett? Nein, wohl nicht, denn im Grunde erinnerte ich mich ja nur, dass sie es fotografiert hatte, mehr nicht. Die weiße Frau am Strand und ihr schwarzer Schatten des Todes – zwei Begegnungen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Was war in den drei Tagen dazwischen mit ihr geschehen? Was passierte seit gestern Abend mit mir? Ich hatte sie im Wasser gepackt, doch später – im übertragenen Sinne – sie mich. Aber wohin sollte das führen? Sie hatte mich, ihren Retter, abgewiesen und mir mehr als deutlich gemacht, dass, wenn sie schon für sich selbst keinen Platz im Leben sah, da erst recht keiner für einen anderen Menschen sein würde. Ich musste sie mir aus dem Kopf schlagen und endlich losfahren.

Wenn das Schicksal es will – ihre Abschiedsworte kamen mir plötzlich in den Sinn. Schicksal? Sie glaubte nicht an Gott, sagte sie, warum also an Schicksal? Wenn ich ehrlich war, musste ich mir eingestehen, in diesem Begriff nie mehr als eine Floskel gesehen zu haben. Im Gegenteil machte ich mir wenig Gedanken um den Sinn des Lebens, die Hintergründe des Seins. Philosophie war meine Sache nie gewesen, vor jedem komplizierten Gedanken bog ich nach Möglichkeit ab. Eine meiner Partnerinnen sagte mir einmal, mir fehlte es an Tiefenschärfe, dafür wäre meine Benutzeroberfläche recht angenehm zu handhaben. Ich schoss sie in den Wind, ein Dummerchen war ich auch nicht.

Es kommt auf den Kontrast an – auch das hatte die Frau am Strand zum Abschied gesagt. Und jetzt begriff ich. Hastig zog ich mein Fahrrad von der Ladefläche, stellte Rucksack und Tasche darauf ab und verschloss den Wagen. Es war den Versuch wert. Im höchsten Gang fuhr ich zum Deich, durchquerte das Waldstück und sah von weitem schon das blaue Meer. Die Morgensonne ließ alles wie neu erstrahlen. Voller Zuversicht erreichte ich den Strandzugang. Und doch: Ich wurde enttäuscht. Kein Minirad – sie  war nicht da. Wie konnte ich mir auch solche Illusionen machen? Traurig lehnte ich mein Fahrrad an das Holzgeländer, stapfte langsam durch den Sand, um wenigstens ein letztes Mal das Meer zu sehen. Ich ließ die Schuhe an, denn ich würde nicht mehr bis ans Wasser gehen. Der Strand hatte jetzt nichts mehr von der Morbidität des vergangenen Abends, keine Wolken, keine Schatten, kein Wind. Nur die Sonne strahlte bereits recht heiß vom wolkenlosen Himmel. Das Meer warf lässig kleine Wellen auf den Sand, Schwalben tanzten im Tiefflug durch die Luft, zwei weiße Schmetterlinge turtelten miteinander, von den Dünen her schrie eine einzelne Möwe. Von der Frau keine Spur. Auf gewisse Art war ich erleichtert, jetzt würde ich beruhigt abreisen können. Eine lange Fahrt stand an, der Abschied von einem Freund und mein Leben würde einfach so weitergehen. Einfach so? Gerade als ich mich umdrehen wollte, schob sich eine Hand in meine. Eine Frau in weißem Hemd zog mich nach vorne, weiter an den Strand, durch den tiefen Sand, immer weiter, bis ans Wasser. Da standen wir, Seite an Seite, schweigend, lächelnd, und blickten hinaus auf das blaue Meer.

©Martin Bensen

Ins Leben

In jenem Moment als ich zurück zur Erde fiel
Reichte das Schicksal mir ein neues Spiel
Ich wähnte mich erst in vertrauten Bahnen
Schon bald aber konnte ich Großes erahnen

Rüde hat der Sturz meine Seele verrückt
Und der Aufprall mein Herz beinahe zerdrückt
Haltlos zog ich wieder durch Partydickicht
Erfasste noch gerade dein schönes Gesicht

So folgte ich dir und verlor dich schon bald
Aber nicht lang es erwischte mich kalt
Nah warst du plötzlich das ließ mich erbeben
Fast hilflos stand ich vor dir ganz ungestalt
Tja – da lachtest du und zogst mich ins Leben

In memoriam, 1985 – 1990

©Martin Bensen

Life is a one way ticket

Zugfahren ist immer noch die lässigste Art zu reisen. Ohne etwas tun zu müssen auf einem vorgegebenen Weg durch die Gegend gleiten, mal schneller, mal langsamer, an fremden Orten halten, Menschen kommen und gehen sehen, sie begrüßen, mit ihnen ins Gespräch kommen und wieder von ihnen Abschied nehmen – während Landschaft vorüberzieht und Zeit vergeht. Eine Zugreise ist wie das Leben. Oder doch nicht? Einmal begab es sich, dass mir das Gefühl dieses einen Weges, ja sogar meines Lebens selbst, verloren ging. Ausgerechnet auf einer Zugreise.

Mein Zug hielt in einem kleinen Ort, mitten im Nirgendwo, ich hatte die letzte Etappe verschlafen, das ganze Abteil immer noch für mich. Bis die Tür aufging und eine zierliche Frau mittleren Alters mit freundlicher Stimme fragte, ob noch ein Platz frei wäre. Ich deutete mit einer einladenden Handbewegung auf die fünf unbesetzten Plätze, die Frau dankte und setzte sich ohne Zögern mir gegenüber ans Fenster. Das machte mich etwas verlegen, ich schaute nach draußen und dann wieder verstohlen zu ihr, sie hatte nur eine Handtasche dabei, die sie auf dem Nebensitz abgelegt und keines Blickes mehr gewürdigt hatte. Ich starrte weiter krampfhaft aus dem Fenster, realisierte aber etwas zu spät, dass wir in einen Tunnel einfuhren und sich plötzlich mein Gesicht direkt vor mir spiegelte. Das war mir zu dumm und ich wandte meinen Blick der Frau zu.

Sie hatte mich die ganze Zeit offen angeschaut, jetzt lächelte sie aus ihrem strengen, aber durchaus attraktiven Gesicht. Ihre dünnen, ungeschminkten Lippen formten ein schmales, sparsames Herz, darüber stach eine markante, leicht gebogene Nase hervor, ihre Augen lächelten nicht mit – eisgrau waren sie, blickten mich starr an. Ihre ganze Erscheinung, der dünne Hals, das schmale Gesicht, die streng zurückgebundenen hellblonden Haare, wirkten auf mich mit einem Mal gefährlich. Zu spät – mir wurde schwindlig, ich hatte Unterdruck in den Ohren, was mir oft passiert bei schneller Fahrt durch einen Bahntunnel, den wir in dem Moment schon wieder verließen, als die Frau mich ansprach. Ihre Stimme wirkte verändert, die Worte kamen langsam aus ihrem Mund, bleiern…

„Du denkst, du bist ein guter Mensch? Auch dein Leben schafft nie nur das Gute, sondern immer zugleich das Böse…“ Eine seltsame Lähmung erfasst mich, die Welt um mich herum beginnt, sich in Wellen aufzulösen, in meinen Ohren hallt die Stimme der Frau nach, ihre Gestalt wirkt plötzlich größer, mächtiger. Ihre Pupillen sind geweitet, haben die eisgraue Iris fast verdrängt. Während ich mich weiter versteife, flackert fahles Licht in den Augen vor mir auf. Erst kann ich nichts erkennen, dann werden die Bilder immer größer, verschmelzen zu einem Film auf einer Leinwand. Doch sie laufen rückwärts, bekannte Bilder, Bilder meines Lebens – sie saugen mich auf. Ich wirble durch einen flimmernden Strudel, im nächsten Moment falle ich – dann kommt alles zum Stillstand und ich lande abrupt auf etwas Weichem. Verwirrt starre ich auf eine gelb angeleuchtete Zimmerdecke, blicke panisch um mich.

Das gibt es doch nicht! Ich erkenne alles sofort wieder, liege auf dem Bett in meiner Studentenbude. Der Wecker neben mir, mein alter brummender, längst entsorgter Radiowecker zeigt Datum und Uhrzeit in roter Schrift: Es ist jener Samstag im Herbst 1985, der Tag, an dem – davon bin ich bis heute überzeugt – mein Leben beinahe ein Ende fand und dann doch erst richtig Fahrt aufnahm. Noch nach all den Jahren sehe ich deutlich vor mir, wie ich dalag, mich plötzlich das bange Gefühl von etwas Übermächtigem überkam und ich mit einem Mal wusste, dass ich mich entscheiden musste. So liege ich also wieder hier, sehe mich abermals vor dieser Entscheidung: Mein Leben jetzt und hier „zurückzugeben“ (dieses Wort drang damals in mein Bewusstsein) oder aufzustehen und es endlich in beide Hände zu nehmen. Ich hatte mich in jenem Semester gehen lassen, keinen klaren Gedanken mehr fassen können, sämtliche Seminare geschmissen und meine ganze Zeit auf Partys, mit belanglosen Flirts, Alkohol und Zigaretten, mit dem Auskurieren zahlloser Rauschzustände verbracht. Ohne Haltepunkt, ohne Ziel, eher harmlos war ich und wurde von manch enttäuschtem Abenteuer doch schon mal als „liebenswürdiges Arschloch“ verflucht. Mein Leben kam mir damals nutzlos vor. Stehe ich wieder vor dieser Entscheidung? Bin ich jetzt bereit, mein Leben „zurückzugeben“ (an wen oder was eigentlich?) und damit alles, was dann kam, null und nichtig zu machen? Aber was wird dann? Wird es all die Menschen nicht geben, die ich heute kenne und liebe, meine Kinder, die ich ja selbst mit ins Leben gesetzt habe? Angst packt mich. Keine Angst vor dem Sterben, nein, Angst vor dem Leben, das wieder vor mir liegt. Das ich schon kenne und nicht noch einmal leben will, jedenfalls nicht mit meiner ganzen Erinnerung daran.

So hart das Schicksal zuschlagen kann, so gnädig ist es, uns erst im Moment seines Wirkens die Konsequenz spüren zu lassen – oder eben gar nicht mehr, im krassesten, vielleicht gnädigsten Fall… Hier und jetzt ist es anders. Das Schicksal spielt mit mir, stößt mich erneut auf eine Entscheidung, die ich längst getroffen hatte und die ich bis heute auch nicht bereue. Wut steigt in mir hoch, macht mich trotzig: Was ist denn, du Arschloch von einem Schicksal, was ist, wenn ich mich jetzt tatsächlich anders entscheide? Wahrscheinlich verhöhnt es mich gerade, denn auch jetzt hält mich etwas zurück. Na klar, zuletzt ist es immer der unbedingte Lebenswille, die instinktive Kraft in jedem Lebewesen – nicht einfach gehen, sondern leben, nicht einfach geschehen lassen, sondern machen, weiter und immer weiter! Von Ferne dringt wieder diese Stimme in meinen Kopf… „immer zugleich das Böse“… Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen, mich an möglichst viele Einzelheiten zu erinnern, sehe, wie alles begann, als ich vor Schreck, tatsächlich mein Leben lassen zu können, ganz bewusst und mit einem beseelten Gefühl auf dieses Fest ging, die Frau kennenlernte, die meinem Leben eine neue Richtung gab. Ich sehe alles vor mir: Liebe, Leidenschaft, Streit, hochgeistige und abscheulich erniedrigende Diskussionen, schließlich den sang- und klanglosen Abschied in einer Stadt, in die ich ihr gefolgt war, in der ich mich jäh entwurzelt und sehr einsam gefühlt hatte. Um auch aus dieser Krise heraus in mein jetziges Leben zu gleiten…

„Nein, du kannst sie nicht mehr fragen.“ Die Stimme löste meine Lähmung, ich war nicht mehr in dem Zimmer meiner Vergangenheit, die Geräusche des fahrenden Zuges kamen wieder in Wellen zurück. „Ja“, hörte ich mich murmeln, „und das bedauere ich sehr.“ Weniger über ihren viel zu frühen Tod habe ich getrauert, als darüber, nicht noch einmal mit ihr geredet zu haben. Vielleicht hätte ich mein schlechtes Gewissen, sie dieses eine unwiderrufliche Mal so sehr verletzt zu haben, etwas erleichtern können. Vielleicht hätte sie mir verziehen. Womöglich hatte sie, ohne dass ich es weiß. Aber die Zeit war so schnell vergangen und irgendwann war alles schon so lange her, ich wurde schließlich gebraucht, in meinem neuen Leben, einem Leben, das sie als spießig empfunden und rundweg abgelehnt hatte. Bis zu der schrecklichen Nachricht, überbracht von einem unserer alten Freunde, die sich nach unserer Trennung von mir abgewandt hatten, habe ich nichts mehr von ihr gehört – mich aber auch nie darum bemüht, denn zu tief saß wohl jenes diffuse Unbehagen über all die Jahre des scheinbaren Vergessens…

„Geht es Ihnen nicht gut?“ Die Frau gegenüber lächelte. Die Sonne schien auf ihr blondes, jetzt offenes Haar, ihre gar nicht mehr eisgrauen Augen lächelten nun auch, so wie ihr Mund, das freundliche Herz ihrer Lippen. Wahrhaftig eine schöne Frau. „Mögen Sie?“ Sie hielt mir einen Apfel hin. Verdattert wie ich war, griff ich zu, biss aber, anders als sie, nicht hinein. Sie kaute gedankenverloren, schluckte ihren Bissen schließlich hinunter und wandte sich mir freundlich zu: „Finden Sie nicht auch, unser Leben ist eine spannende Reise? Wenn wir uns, wie jetzt mit diesem Zug, entscheiden, zum Ziel unserer Wahl zu fahren, kann uns vielleicht ein Unglück treffen. Doch eher wird uns eine Verspätung aufhalten, eine Panne das Ziel nicht erreichen lassen. Höhere Gewalt? Vielleicht. Aber wir müssen uns ja dazu verhalten. Wenn wir kurzentschlossen doch noch aussteigen, werden wir einen anderen Weg einschlagen, uns dann mal mehr, mal weniger anstrengen. In jedem Fall wird unser Leben in dem Moment buchstäblich eine andere Richtung nehmen. Solange wir leben, entscheiden wir, ob und wie wir handeln oder reagieren – oder ob wir einfach nichts tun. Alles aber hat eine Wirkung. Und die können wir nur noch bedingt beeinflussen.“ Sie biss noch einmal herzhaft in ihren Apfel und schaute aus dem Fenster. „Aber wenn ich nie weiß“, entfuhr es mir, „was aus meinem Handeln folgt, auch wenn ich bester Absicht bin, wie kann ich je verhindern, dass andere nicht doch darunter leiden, selbst wenn ich fest davon überzeugt bin, alles richtig gemacht zu haben?“ Sie lächelte mich wieder an, diese zauberhafte Frau. „Überzeugt mögen Sie davon sein, aber wissen Sie denn wirklich, ob Sie alles richtig gemacht haben? Was heißt denn ‚richtig‘, für wen oder was ist es das? Was sie tun, können sie nicht mehr ändern, es ist geschehen. Sie können einen Fehler korrigieren, dennoch haben Sie den Fehler gemacht und er wirkt womöglich stärker als alles Wiedergutmachen. Wie heißt dieser alte Blues-Song: ‚Life is a one way ticket’…“ Ihre Augen blickten mich zugleich verträumt und offen an. Ich hatte den Impuls, sie zu berühren, diese liebenswerte, kluge, starke Frau. Sie schien meine Gedanken zu erraten, schenkte mir ein strahlendes Lächeln. „Ich bedauere es fast ein bisschen, aber leider muss ich hier aussteigen.“ Und schon griff sie nach ihrer Handtasche. „Bleiben Sie mutig! Es kommt wie es kommt, folgen Sie Ihrem Herzen, bleiben Sie fair, auch zu sich selbst. Und noch eins: Das Leben ist zu kurz, um nur zu schauen, ob Sie ein anderes, besseres verpassen könnten.“ Sie zwinkerte mir zum Abschied zu.

Fast unmerklich war der Zug zum Stehen gekommen. Ein weiterer kleiner Bahnhof, an dem erstaunlich viele Menschen aus- und einstiegen. Wunschziel für manche – wie für diese besondere Frau. Draußen auf dem Bahnsteig sah ich sie noch einmal, wie sie mit einem fröhlichen Hüpfer in die Arme eines Mannes sprang, sich lachend von ihm hochheben und küssen ließ. Ohne einen weiteren Blick Richtung Zug spazierte das Paar eng umschlungen in Richtung Ausgang, in der Hand des Mannes schlenkerte lässig eine Flasche Sekt. Dann waren beide vollends in ihrem Leben verschwunden.

Der Zug fuhr wieder an. Jetzt freute ich mich auf Zuhause. Herzhaft biss ich in den Apfel, er war süß und saftig. Alles andere hätte mich auch gewundert. Hoffentlich hatte der Blumenladen noch offen…

©Martin Bensen