Traumgesichte (VII): Ein freundliches Wort

Dies ist es, was ich dir sagen will: Ein freundliches Wort geht in die Welt. Egal, wem du es sagst, wann du es sagst, wo du es sagst. Ein freundliches Wort wirkt immer. Ein Beispiel? Selbst der junge Mann am Nachtschalter der Tankstelle legt sich anders schlafen, im Morgengrauen, wenn du schon beinahe wieder aufstehst und dich gar nicht mehr erinnerst, dass du ihm Mut gemacht, dich nicht nur mürrisch bedankt, ihm viel Kraft für die Nacht gewünscht – ihm ein Stück Sicherheit gegeben hast, denn wer weiß, was für ein Gesocks sich noch zu ihm verirrt, lange nach dir, wenn du schon selig schläfst.

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Erster Schulweg

Von gegenüber auf dem Hügel, aus dem nächsten Dorf erklingen Trauerglocken. Eine Beerdigung, ein Gedenkgottesdienst? Heute ist der 11. September 2021, ein spätsommerlich-warmer Samstagmorgen. Nach den verregneten Hundstagen hat der September noch einmal aufgedreht und das Thermometer auf fast 30 Grad gejagt. Jetzt hat es wieder geregnet und leicht abgekühlt, es ist aber immer noch zwanzig Grad warm.

Ich sitze draußen beim Frühstück, blicke auf den sattgrünen Rasen, höre die Kirchenglocken, das Brummen von Rasenmähern, eine Motorsäge aus dem nahen Wald. Die Singvögel sind schon lange verstummt, nur noch einzelnes Gekecker und Gezirpe, das Krächzen von Rabenvögeln sind zu hören. Die Sonne drückt durch Regenwolken – ähnlich wie vor zwanzig Jahren, nur dass es damals schon zehn Grad kühler war, herbstlicher. Wir brauchen wohl eine Jacke, vielleicht eine Regenjacke, habe ich zu meinem Sechsjährigen gesagt. So sind wir los. Probelauf für den künftigen Schulweg. Es ist Dienstag, der 11. September 2001, morgen ist der große Tag – der erste Schultag meines Sohnes.

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Onkel Hans zeigt mir die Welt

Mein Onkel Hans war Architekt. Später im Ruhestand wurde er krank. Am Ende hatte er keine Chance und keine Kraft mehr. Onkel Hans war ein lebenslustiger, kultivierter, zugleich allem Kulinarischen zugewandter Mensch, natürlich sah man ihm das auch ein wenig an. Mit seiner feinen Art passte er nicht recht in unsere westfälische Bauernlandschaft. Seine filigrane Brille, seine sanften Gesichtszüge, der Genießermund und das sorgsam frisierte, blonde Haar – der blonde Hans, Hans im Glück, was machte so einer in dieser nach Gülle stinkenden, von Schweinemast dominierten Gegend? In meinem Leben tauchte er auf, als ich etwa vier Jahre alt war. Wir waren zu Besuch in seiner Wohnung, Tante Maria war auch da. Die Beiden waren in Hochzeitsvorbereitungen, und ich sollte ihr Blumenkind sein. Aber erst einmal wolle er mir die Welt zeigen, sagte Onkel Hans mit einem Augenzwinkern. Ich ahnte nichts Böses.

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