Das Meer verschwinden lassen

Wenn Sehnsucht wie das Meer
Mit Wucht aufbrandet
Uns machtvoll mitreißt
Gierig verschlingt
Uns wieder ausspuckt
Sich endlich beruhigt
Mit flacheren Wellen
Uns zart umschmeichelt
In Sanftmut wiegt
Um nur kräftiger krachend
Uns jäh wieder einzuholen
Noch tiefer aufzuwühlen
Bis zum Krieg der Gefühle
Dann schützt uns wohl ein Hafen
Doch friedvoll wäre einzig
Das Meer verschwinden zu lassen

©Martin Bensen, 17. Juni 2017 – Kaum zu glauben, die Sehnsucht wahrer Liebe begann für mich genau heute vor 37 Jahren, unter einem Vordach bei heftigem Gewitter. Sie geriet drei Jahre später in ihre schmerzvolle Phase, die erste und nicht die letzte…  

 

Der Balkon

Es geht bergan, mein Wanderweg macht einen großen Bogen nach links. Da sehe ich den Baum und denke, was für ein schönes schattiges Plätzchen das ist. Und erst die Aussicht auf die grüne Ebene! Jetzt erst entdecke ich die Bank unter dem Baum, dann die elegante Dame, die darauf sitzt. Sie zieht ihr abgestelltes Fahrrad etwas zur Seite und bietet mir den noch freien Platz auf der Bank an. Ich grüße freundlich, gehe aber weiter, da sagt sie fast enttäuscht: „Möchten Sie denn nicht auf den Balkon? Ach, den kennen Sie wohl schon… ?“ Ich stutze, doch dann lehne ich höflich ab, verweise auf den Weg, der noch vor mir liegt. Die Dame lächelt milde und wendet sich wieder der Aussicht zu. Später fährt sie frisch und leichtfüßig radelnd an mir vorbei, ein Lied summend. Ich wische mir den Schweiß aus dem Nacken und bin noch lange nicht am Ziel.

©Martin Bensen, 14. Juni 2017 – Wanderung zum Ammersee

Alleinzeit

Mit der Zeit
Wird aus der Zeit
Die Du allein sein willst
Nicht nur eine Zeit des Alleinseins
Sondern schleichend eine Zeit der Einsamkeit
So lässt die einmal gewollte Alleinzeit
Allein Dich und Deine Zeit
Schließlich allein Zeit
Dir Übrig

©Martin Bensen, 14. Juni 2017 / Dießen, Ammersee

Alte Liebe (II)

Im Schatten ist es noch recht kühl. Das Meer ist über Nacht zur Ruhe gekommen, nur im letzten Auslauf wirft es noch kleine Wellen an Land. Obwohl ich Urlaub habe, bin ich früh wach, habe ich mich mit einer Liege und einem Buch an den Strand begeben. So früh am Morgen sind nur Bedienstete der benachbarten Ferienanlage und – ich muss es leider gestehen – ältere Menschen unterwegs, barfüßig am Meer entlang watschelnd, hier und da sich nach irgendeinem Treibgut bückend. Genau besehen sind es ausschließlich Männer, die meisten braun gebrannt und mit imposanten Wölbungen über ihrer Männlichkeit, die an diesem Strandabschnitt zum Glück in mehr oder weniger knapp bemessenen Badehosen verbleibt.

Dann traue ich meinen Augen nicht: War dieser alte Mann nicht schon vor langer Zeit hier, als meine inzwischen erwachsenen Kinder noch klein waren? Als wären all die Jahre nicht gewesen, steht er dort hinten im seichten Wasser, fischt mit seiner Reuse im Schlick nach Muscheln. Er scheint gar nicht gealtert zu sein – oder er wirkte damals einfach schon so alt, wie er als einziger weit und breit über den Stil seines Drahtkorbs gebeugt, bis zur Hüfte im Wasser stehend geduldig das Meer durchpflügte. Einmal hatte er unseren neugierigen Kindern seinen Fang gezeigt, lauter kleine bunte Muscheln. Damals hatte er sein Bäuchlein gerieben und einen Wohllaut von sich gegeben. Dass er damit ein Spaghetti-Mahl vom Feinsten zaubern werde, hatte er mit einer Kusshand angedeutet, hatten die Kinder aber nicht verstanden. Sie verwendeten diese bunten Muschelschalen als Schmuck für ihre Sandburgen. Ob er die Meeresfrüchte nur für sich einsammelt? Oder bringt er sie nach Hause und seine Frau macht diese feinen Spaghetti alle vongole, die sie in trauter Zweisamkeit bei Meeresrauschen und Kerzenschein genießen? Ich wüsste nicht, wie ich ihn danach fragen würde, selbst wenn ich mich traute, also belasse ich es bei dieser schönen Phantasie.

Von der Anlage kommt ein älteres Ehepaar, schlägt sein Lager mit Liegen und Sonnenschirm nahe, viel zu nahe, bei mir auf. Das Problem: Sie quatschen ohne Unterlass. Normalerweise liebe ich die italienische Sprache, dieses lebendige, leidenschaftliche und melodiöse, oft mit theatralischen Gesten verzierte Sprechen. Doch bei den beiden ist es, was es einst wohl war, dies alles nicht mehr. Sie sitzen wie Statuen in ihren Stühlen, bronzefarben in der Sonne leuchtend, aber mit starren, fast verhärmten Mienen. Nur ihre Lippen bewegen sich, formen Rede und Gegenrede, in stetem Wechsel, teils schrill, teils heiser. Alt und eingefahren.

Ich begebe mich näher ans Wasser, dahin, wo selbst das leise Meeresrauschen die anderen Geräusche übertönt, mich und meine Gedanken in Schwingung bringt. In dem Roman, den ich gerade lese, geht es um zwei Menschen, die sich über ihre Leidenschaft für La Mettrie ineinander verlieben, nach nur einer realen Begegnung auf der Terrasse am Bodensee sich über die Ferne entwickelnd, über Monate hinweg „fernmündlich“ und schreibend – er ein verheirateter „Privatgelehrter“ am schwäbischen Meer und sie eine 40 Jahre jüngere Doktorandin am anderen Ende des großen Teichs, in den USA. Gerade will ich das nächste Kapitel mit dem vielsagenden Titel „Auseinanderkommen“ beginnen, in dem sich die Beiden endlich und jetzt in erwartungsvoller Liebe körperlich begegnen werden, da nähert sich ein zweites Paar von der rechten Strandseite her.

Schon gestern habe ich sie genauso, nur in anderer Richtung, am Wasser entlang laufen sehen. Genauer: sie mit strammen, gleichmäßigen Schritten, energischer Miene, umrahmt von einer rötlich-dunkel gefärbten Kurzhaarfrisur, eine eher stämmige Frau – er, ein hagerer Mann, mit doppelter Schrittzahl, der schwachen Andeutung eines Laufschritts, mit dünnem, grauem Haarschopf, faltigem Gesicht und hängender Unterlippe, wie ein Hündchen um sie herumtänzelnd. Nicht dass er sich einfach nur in doppelter Frequenz bewegt, er bespielt die (seine?) Frau geradezu, indem er ohne Unterlass redet, ihr vielleicht etwas erzählt. Doch weder wendet sie den Kopf, noch lässt ihr Gesicht irgendeine Regung erkennen. Hört sie ihm überhaupt zu? Warum lässt er nicht von ihr ab? Ist sein ganzes Streben, sie einmal zum Lächeln, vielleicht aus dem Tritt zu bringen? Beinahe auf meiner Höhe angekommen, strauchelt er im tieferen Sand. Sie marschiert weiter auf festerem Grund. Er wechselt auf ihre Seite, gerät dadurch hinter sie, verstummt, aber tänzelt weiter mit seiner hängenden Unterlippe, die plötzlich etwas trauriges an sich hat, gerade so, als hätte der ganze Mann aufgegeben, resigniert. Dann umspielt Wasser seine Füße, er lächelt, gewinnt offenbar neue Energie, denn jetzt holt er wieder auf, tänzelt an sie heran. Wieder auf gleicher Höhe bewegen sich seine Lippen, formen wohl weitere Geschichten. So entfernen sich die beiden aus meinem Blickfeld…

Der tänzelnde Charmeur und seine unnachgiebige Angebetete? Der Hofnarr und die Fürstin? Übermut hier, Kontrolle dort? Wie gerne würde ich die Beiden später sehen, beim gemeinsamen Drink, im Alltag. Tänzelt er dann weiter, während sie ihn einfach (links liegen) lässt? Oder holt sie ihn herunter von seinem zu schnellen Takt, seiner Unrast, seiner am Ende vielleicht doch nicht vergeblichen Werbung um ihre Gunst – herunter auf ein Gleichmaß, einen Takt, auf den sich beide Gemüter einpendeln, auf dass ihre Herzen noch lange mit- und füreinander schlagen können?

Ein versöhnlicher Gedanke – Phantasien eines ebenfalls in die Jahre gekommenen Mannes frühmorgens am Strand. Ich nehme mein Buch von meinem auch nicht mehr flachen Bauch, lese gespannt weiter, was die Phantasie des Erzählers mit seinem Paar anstellen wird. Denke nach über das Leben, das jeder nur selbst er-leben kann. Die Liebe, die alterslose, die wahre und ewige? Nein, sie ist veränderlich, vergänglich. Am schönsten und am vollkommensten ist sie wohl nur in der Phantasie. Im wirklichen Leben am ehesten an jenem zauberhaften Anfang, im Augenblick ihres Entstehens…

©Martin Bensen, 9. Juni 2017

Leseempfehlung: Martin Walser: Der Augenblick der Liebe. Reinbek bei Hamburg, 2006.

Luftschloss

Manchmal wenn ich zum Himmel blicke
Ahne ich und träume
Wie hinter den Wolken
Weiße luftige Fahnen wehen
Die der Wind nach draußen bläst
Durch weit geöffnete Fenster
In jenem blauen Schloss
Das nur zwei bewohnen
Deren stille Sehnsucht
Diesen Traum erschafft

©Martin Bensen

High Five

„No, thanks!“ Das ist ja wohl eindeutig und gerade noch so höflich, wie es sich gehört. Oder doch nicht? Der Afrikaner weicht nicht von meiner Seite. Was denn noch? Lass mich in Ruhe, belästige die anderen hier am Strand. Ist dein armseliger Job. Ich kann nichts dafür und ich will auch nicht wissen, was dich hierher getrieben hat. Solche Strandverkäufer wie dich gibt es schon lange. Scheint ja zu laufen. Bei mir gerade nicht so. Meine Firma geht den Bach runter, mein Geld ist futsch. Ein schwacher Moment, eine falsche Entscheidung gegen hundert richtige. Egal, nicht mehr zu ändern. Das ist sicher der letzte Familienurlaub hier in Italien. Er gehört schon zu den bescheideneren in den letzten Jahren. Und das ist gut so. Haben wir uns je ein Urlaubsfoto noch einmal angeschaut? Machen wir überhaupt noch Fotos? Klar, wenn das Smartphone gerade griffbereit ist. Dabei sind die Dinger perfekt, um jeder Unterhaltung auszuweichen, sich nicht mehr als nötig am Familienleben zu beteiligen. Ist mir auch egal. Ich weiß schon lange nicht mehr, wo sie alle unterwegs sind. Bin es ja selber genug. Ich werde mich trennen…

„No, thanks!“ Hat er mich gerade nachgeäfft? Wie er die zwei Worte ausspricht, mit hoher Stimme, muss ich unwillkürlich an Filme mit Eddie Murphy denken. Der Afrikaner schaut mich freundlich an, zwinkert mir zu. So beladen, sieht er unfreiwillig komisch aus: Auf seinem Kopf stapeln sich bestimmt zehn Sonnenhüte, sein ganzer muskulöser Oberkörper ist über und über behängt mit bunten Körben. Billig-Ware aus China. Ich sehe Schweißperlen auf seiner Stirn. „Are you sure?“, fragt er. Plötzlich muss ich lachen. Über das ironische Echo meiner Abweisung, über mich Weichei. Darüber, wie ich hier in der Strandliege kauere, käsig weiß bis rot verbrannt, gelangweilt vom Leben.

„Yes, I’m sure!“, lache ich. Er streckt die Hand aus zum High Five. Ich schlage ein. Er geht. Lebt sein Leben weiter. Ich meines. Nicht mehr sicher, welches armseliger ist…

©Martin Bensen

Schrittmacher

Mit einem tiefen Seufzer legt der Rentner seinen Gehstock vor den Ergometer. Erste Runde: Aufwärmtraining. Er braucht eine Weile, um auf dem Sattel Platz zu nehmen, seine Füße in die Pedale einzufädeln. Dann schlägt eine Glocke. Das markante Riff ertönt. Die ersten zähen Umdrehungen bekommen langsam Fahrt. Ganz allmählich münden seine Bewegungen in den Rhythmus der Musik. Immer geschmeidiger tritt er den Takt. Jetzt schwingt sein Kopf, sein ganzer Oberkörper, hin und her. Ein Lächeln, dann ein Schrei.

Hells Bells, ihr Säcke! Ich kann’s noch.

©Martin Bensen