Schattenriss

Draußen aus dem Schatten
Der vom Raum erhellten Tür
Löst sich wie ein Schemen
Die schwarz verhüllte Frau
Schon halb im Licht
Noch halb im Dunkeln
Zieht aus letztem Glimmen
Der Rauch erst weiß
Zum Schein hin schwarz
Ihm folgt die Nachtgestalt
Wie der Schatten ihrer selbst
Löst sich drinnen auf im Licht

©Martin Bensen

Widerhall

Er musste sich zwingen wegzusehen, doch er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr wenden. Sie sah ihr so ähnlich, jener Frau, die er sich immer erträumt hatte, die er geträumt hatte, fast war es, als würde ein Traum wahr, mehr noch: als hätte er diese Frau selbst erschaffen. Nur, warum erwiderte sie seine Blicke nicht, spürte sie denn nicht dieses Band zwischen ihnen – ein Band, das vielleicht schon immer da war? Weiterlesen

Ein neues Leben

Eine Wiener Geschichte

Die graue Wolkendecke war aufgerissen und so plötzlich wie der Regen herausgeprasselt war, stachen jetzt die Strahlen der Sonne hindurch, tauchten die frisch gewaschenen Straßen und Gebäude in gleißendes Licht. Glitzernde Tropfen bedeckten wie Millionen Brillianten Pflanzen, Autos und Fassaden. Gerade in solchen Momenten liebte ich mein Wien. Schnell zahlte ich die Rechnung und verließ das Café, in das ich mich kurzerhand geflüchtet hatte. Ich saugte den regenfeuchten Duft tief ein, schnupperte dem auslaufenden Sommer hinterher und augenblicklich überwältigten mich Glücksgefühle. Wie schön das Leben doch war. Aber war es das wirklich? Weiterlesen

Die Frau am Meer

Eigentlich hatte ich genug von Sand, Strand und Sonne. Die Ostsee war Anfang Juni noch zu kalt zum Baden. Morgen würde ich in aller Frühe abreisen. Mein Kurzurlaub, vier Nächte in einem Waldschlösschen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, er war mir nun doch ausreichend lang erschienen. Drei Tage war ich stramm auf Deichen und durch Wälder geradelt, hatte mich hier und da an den Strand begeben, das Meeresrauschen und den warmen Westwind genossen, war jeden Abend treuer Gast im freundlichen Schlösschen und nach einem Zwei-Gänge-Menü und drei großen Störtebekern vom Fass alsbald auf meinem Zimmer und wenig später im Reich der Träume.

Was trieb mich also an diesem späten, aber noch hellen Abend ein letztes Mal an den Strandabschnitt mit den Wellenbrechern, kurz vor dem gesperrten Teil der Küste? Genau hierher hatte mich meine Neugier gleich am Ankunftstag spätnachmittags geführt, so froh am Meer zu sein. Voller Übermut hatte ich meine Stoffschuhe von den Füßen geschleudert und war auf das Wasser zugerannt. Die kalten Wellen waren eine Wohltat nach der langen Autofahrt. Bis zu den Knien stand ich im Wasser, schaute glücklich mal in die Dünen, mal aufs Meer, als ich sie zum ersten Mal sah. Die Frau trug ein langes weißes Hemd, das ihr bis zu den Knien reichte. Zielstrebig steuerte sie auf eine ausgelaugte Baumwurzel zu, die wie ein Skelett etwa fünfzig Meter von mir im Sand lag. Knapp davor ging sie in die Knie. Erst jetzt bemerkte ich die Kamera in ihrer Hand. Sie schien ganz in ihrem Tun versunken zu sein, eine Weile probierte sie vor der Wurzel verschiedene Winkel und Perspektiven, dann schien alles zu passen. Der Abend war wie gemacht für ein tolles Motiv, auch ich nahm mein Smartphone aus der seitlichen Tasche meiner Shorts. Dunkle Wolken hatten sich vor der tiefstehenden Sonne aufgetürmt, doch aus dem mächtigen Gebilde drang unterhalb ein Strahlenkranz, der weit hinten die roten, grünen und gelben Gräser der weißsandigen Dünen in einem breiten Streifen aufleuchten ließ. Die ganze Szenerie hatte etwas Sakrales. Darin nur die Frau und ich, das Meeresrauschen und der Wind. Wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Wenige Minuten später war der Zauber vorüber. Die Frau in Weiß bewegte sich Richtung Strandzugang, auch ich hatte genug und folgte ihr. Als ich mein Rad erreichte, war sie bereits auf ihres gestiegen, ein in die Jahre gekommenes Minirad. Während ich meine Füße noch vom Sand befreite und die Schuhe wieder anzog, bog sie schon nach rechts auf den Deich ab. Mein Weg führte in die andere Richtung.

Drei Abende später stand ich also wieder an diesem Strand. Ein einsames Minirad lehnte unverschlossen am seitlichen Geländer des Zugangs. So war ich wenig überrascht, als ich die Frau von neulich wieder sah. Diesmal kniete sie nicht im Sand, hatte auch keine Kamera dabei, sie stand etwa hundert Meter weiter ganz nah am Wasser, ließ die zahmen Ostseewellen an ihren Füßen lecken. Die Frau bewegte sich nicht, trug jetzt ein schwarzes Kleid, das sich in den Windböen seitlich bauschte. Ihr langes Haar hatte sie beim letzten Mal wohl hochgesteckt, jetzt wehte es wie eine dunkle Fahne von ihr weg. Von meiner Stelle am Zugang aus wirkte die Frau wie eine Skulptur mit Segel, dahinter zwei grobschlächtige Holzfiguren auf den Wellenbrechern, knorrige Gnome auf schwarzen Pfählen.

Ich war unschlüssig, ob ich weiter an den Strand gehen sollte, eigentlich reichte mir ein Abschiedsblick. Auch wollte ich die Frau nicht stören, denn sie schien ihr Alleinsein nur mit dem Meer und dem Wind zu genießen. Noch während ich mich umdrehte, bemerkte ich, wie die Frau sich bewegte. Sie ging einen Schritt auf das Wasser zu, dann noch einen und noch einen, schon stand sie bis zur Hüfte im Wasser. Ich stutzte, das Meer war kalt, ich selbst hatte es nicht geschafft, ein Vollbad zu nehmen, geschweige denn zu schwimmen. Und warum im Kleid? Jetzt stand die Frau bis zur Brust im Wasser und sie bewegte sich weiter auf das offene Meer zu. Hier stimmte was nicht! Ohne weiter nachzudenken rannte ich durch den tiefen Sand auf die Frau zu, die in merkwürdig starrer Haltung weiter ins Meer trieb und im nächsten Moment von einer Welle überspült wurde. Sie tauchte nicht mehr auf. Ich hatte das Wasser erreicht, sprang mit ein paar Sätzen hinein, hastete halb watend, halb schwimmend, auf die Stelle zu, wo ich die Frau gerade noch gesehen hatte und konnte bald auch nicht mehr stehen. Das Wasser war eiskalt, doch ich zwang mich unterzutauchen und die Augen zu öffnen. Ein schwarzer Schatten weiter links, offenbar hatte die Strömung die Frau erfasst. Mit aller Kraft schwamm ich auf den Schatten zu, bekam schließlich etwas zu fassen, zerrte daran. Ich hatte kaum noch Luft, doch ich hielt fest und zog. Endlich erwischte ich einen Arm, drehte ihn zu mir herüber, umfasste ihren leblosen Körper und tauchte auf. Wie ich es gelernt hatte, schwamm ich mit der leblosen Frau im Rettungsgriff Richtung Strand. Noch im seichten Wasser kam Bewegung in den Körper, schlugen die Arme nach mir, dann ertönte ein Gurgeln, gefolgt von einem Schrei.

„Nein! Nein! Lass!“ Wild schlug die Frau um sich. „Lass mich los!“ Das würde ich mit Sicherheit nicht tun. Ich umfasste ihren Oberkörper und hievte mich mit ihr aus den Wellen an Land. Keuchend lagen wir nun beide da, das Schlagen hatte aufgehört, jetzt ertönte ein Wimmern, die Frau krümmte sich, begann zu zittern. In meinem Rucksack war ein halbwegs trockenes Strandtuch, doch er lag noch drüben am Zugang. Also zog ich die zitternde Frau ein Stück zu mir, hielt sie im Arm und rieb sie so gut es ging mit der anderen Hand warm. „Kannst du aufstehen?“, fragte ich, als sie langsam etwas ruhiger wurde, stemmte mich hoch und griff ihr unter die Arme. „Dort drüben in den Dünen ist der Wind nicht so stark und der Sand noch warm, lass uns bitte da hingehen.“ Sie machte tatsächlich mit, wir schafften den Weg und lagen wenig später wie in einem warmen Nest in einer Dünenmulde. Noch immer wendete sie ihr Gesicht von mir ab, war wie ich voller Sand, ihre langen Haare klebten wie schwarze Ölschlieren an Gesicht und Körper. Was mochte in ihr vorgehen? Wie verzweifelt muss jemand sein, der sich auf diese Weise das Leben nehmen will? Noch vor drei Tagen hatte sie einen lebhaften, wenn auch etwas verträumten Eindruck auf mich gemacht. Ich überlegte, ob ich meinen Rucksack holen sollte, doch im Moment wollte ich die Frau nicht alleine lassen.

„Wie heißt du – ich darf doch ‚du‘ sagen?“ Keine Reaktion, doch das Zittern hatte nachgelassen. „Ich heiße Michael. Kann es sein, dass ich dich schon vor drei Tagen hier gesehen habe? Du hast Fotos gemacht, mit einer Kamera. Sind bestimmt schöne Aufnahmen geworden.“ Stille. Dann drehte sie sich unvermittelt um und sah mir durch einen nassen Vorhang aus Haarsträhnen geradewegs in die Augen. „Einen Scheiß sind die geworden!“ Sie wendete sich wieder ab, doch ihr Körper hatte an Spannung gewonnen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf, stützte sich auf ihre Ellbogen und schaute über den Rand der Düne Richtung Meer. „Hast du eine Mission, Erzengel? Rettest du Frauen an einsamen Küsten? Wenn du ein Engel wärst, wüsstest du, dass das bei mir keinen Sinn hat. Aber du bist auch nur ein Mann. Ihr seid alle gleich…“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, spürte aber auch, dass es gerade besser war zu schweigen. Doch sie sprach nicht weiter. Ihr Blick ruhte unverwandt auf dem Meer. Grüne Augen, sie hat die Augen eines Raubtiers, dachte ich. Solche Augen jagen, begehren, wollen etwas – solche Augen resignieren nicht. Sie war schlank, aber kräftig, sah aus wie eine Frau, die mitten im Leben steht. Ich schätzte sie auf etwa vierzig. Vielleicht eine Schauspielerin, auf jeden Fall Künstlerin, dachte ich bei mir.

Jetzt wagte ich doch, sie wieder anzusprechen. „In meinem Rucksack dort drüben ist ein halbwegs trockenes Handtuch, soll ich es holen?“ Unvermittelt fing sie an zu lachen. Erst verhalten, dann immer ausgelassener, schließlich beinahe hysterisch. Instinktiv hatte ich etwas Abstand genommen. Gerade rechtzeitig, denn ihr Lachen erstickte jäh in einem Gurgeln, sie übergab sich in kurzen heftigen Schüben in den Sand. Es war nur Wasser, aber nur wenig mehr davon dort draußen und sie wäre ertrunken. Mit einem tiefen Seufzen sank sie zurück in den Sand und schloss die Augen. Einige Augenblicke später war sie eingeschlafen, atmete in tiefen, ruhigen Zügen. So konnte ich sie wohl eine Weile liegen lassen. Vorsichtig stand ich auf und schlich mich aus der Düne zu meinem Rucksack. Um diese Zeit war wirklich niemand mehr am Strand, er gehörte wieder ganz der Natur. Auch ich hätte mich jetzt langsam auf mein Zimmer zurückgezogen, um viel vom nächsten Tag zu haben. Leider musste ich meinen Urlaub abbrechen und sehr früh abreisen. Die Nachricht hatte mich gestern erreicht: Ein guter Freund von mir war nach langer, schwerer Krankheit gestorben, die Beerdigung war schon am morgigen Nachmittag und ich hatte von hier aus noch fünf Stunden Fahrt vor mir. Ich wollte nicht ungerecht sein, aber ich bemerkte, wie Wut in mir aufkeimte. Dort musste ein geliebter Mensch sterben, hier suchte ein mir völlig unbekannter willentlich den Tod. Dem vertrauten konnte ich nicht helfen, dem fremden sehr wohl. Warum, zur Hölle, wollte sie nicht mehr leben? Mit diesen Gedanken kehrte ich zu der unbekannten Frau zurück, zog das Handtuch aus dem Rucksack und breitete es über der Schlafenden aus. So wie sie da lag, wirkte sie ruhig und zufrieden – und sie war schön.

Ich setzte mich wieder zu ihr und blickte aufs Meer hinaus. Was hat das Leben dieser schönen Frau angetan? Ich schüttelte den Kopf, was nützte meine Wut, die sinnlose Selbstbefragung, ich kannte sie nicht, wusste nichts über diesen Menschen, um auch nur ansatzweise über ihn urteilen zu können. So einen Schritt macht niemand ohne Grund. Vielleicht war auch sie schwerkrank, wollte aber eben nicht kämpfen wie mein alter Freund. War er das eigentlich noch, ein Freund? Hatte ich mich wirklich mit ihm und seinem Schicksal beschäftigt? Die letzten Jahre standen wir nur noch sporadisch in Kontakt, hatten uns hin und wieder geschrieben. Bis vor kurzem wusste ich nicht einmal von seiner schweren Krankheit, seine Mails steckten immer voller Lebensfreude, meistens schickte er Bilder von seiner Familie mit, darunter nicht wenige Urlaubsfotos, bis zuletzt waren sie gereist, hatten sich das was kosten lassen, denn beide Ehepartner hatten herausfordernde Jobs, die natürlich nicht zu Lasten ihrer Kinder, einer Tochter, 9, und einem Sohn, 16, gehen sollten. Angesichts solcher Mails war ich fast neidisch. Ich war ohne Familie geblieben, inzwischen war es wohl auch zu spät dafür. Ein Mittfünfziger entwickelt als Single seine Eigenheiten und die vergiften, anfangs subtil, am Ende umso derber, jede noch so vielversprechende Liebesbeziehung – erst recht sind sie kein Fundament für eine Familie. Daran änderten auch gute Freunde nichts, sie neigten leider dazu, noch Salz in meine Wunden zu streuen, nicht böswillig, sondern eher gedankenlos, und machten es dann noch schlimmer, wenn sie mit mitleidigen Blicken eilfertig Entschuldigungen stammelten. Auch mein hochkommunikativer Job im Marketing war eher kontraproduktiv, denn in der Freizeit wollte ich am liebsten meine Ruhe haben. An Affären mangelte es mir gleichwohl nicht, aber sie verkümmerten in dem Maße, in dem mein Freiheitsdrang an Kraft gewann. Und das war bisher noch jedes Mal passiert. Reisen konnte ich nach Belieben, doch mir lag nichts an der Ferne, ich liebte die Einsamkeit in der Natur und von der gab es zum Glück reichlich in der Heimat. Am liebsten war mir das Meer – meine letzte Liebschaft kommentierte das bittersüß: Für sie war ich am Ende „der alte Mann und das Meer“. Das Buch hatte sie mit Sicherheit nicht gelesen, ich dagegen liebte es…

Neben mir regte sich etwas. Ein schwarzweiß gefiederter Vogel mit rotem Schnabel, augenscheinlich ein Austernfischer, hatte sich auf den Rand der Mulde gestellt, ganz nah an der schlafenden Frau. Er beäugte sie neugierig – und ich ihn. Ob Tiere merken, wenn es Menschen schlecht geht? Von Hunden war das bekannt, manche können offenbar selbst bei fremden Menschen schwere Erkrankungen wittern, aber von Wildtieren, gar von Vögeln? Umgekehrt vielleicht. Ich musste an meine Oma denken, die mit dem Ruf eines Käuzchens vor ihrem Fenster immer ihr letztes Stündlein gekommen sah. Sie wurde weit über neunzig und starb nach einem erfüllten, gottesfürchtigen Leben friedlich, ohne Angst – und ohne Käuzchen… Eine Hand schob sich in mein Sichtfeld, auf den Vogel zu, langsam, behutsam. Die Frau war aufgewacht, lag immer noch still, mit halbgeschlossenen Augen und einem Lächeln in ihrem schönen Gesicht. Nur ihre Hand schob sich Zentimeter um Zentimeter durch den Sand auf den Vogel zu. Der bewegte sein Köpfchen hin und her, beäugte die Hand aufmerksam, blieb aber weiter ruhig stehen. Die Hand der Frau drehte sich langsam, öffnete sich zu einer flachen Mulde, kam direkt unterhalb des Vogels zur Ruhe. Der pickte mehrmals sanft in die Handfläche, die Frau musste kichern, hob ihre Hand etwas an und streichelte das Tier an der Unterseite. Sprachlos vor Staunen verfolgte ich das unglaubliche Schauspiel. „Da unten ist das Gefieder weich und flauschig, das Streicheln mag der Kleine. Willst du auch mal?“ Die Frau sah mich jetzt aus wachen Augen herausfordernd an. Ich war unschlüssig, versuchte mich zu recken, dem Vogel entgegen. Doch der sah mich nur böse an, streckte die Flügel aus und flog davon. Stumm verfolgten wir beide seine Flugbahn über die Dünen, den Strand, hinaus aufs Meer, hinein in die Dämmerung, die ihn schließlich verschluckte.

„Es wird dunkel. Und kühl ist es auch geworden. Wo wohnst du denn? Kann ich dich irgendwohin begleiten?“, fragte ich vorsichtig.
Die Frau sah mich forschend an, dann grinste sie. „Hast wohl Angst, dass ich gleich wieder ins Meer steige, was?“ Sie wurde nachdenklich, sah zum Wasser hinüber, das jetzt dunkel und unheimlich schimmerte, und dann wieder zu mir. „Du bist kein schlechter Kerl, das spüre ich. Das was du getan hast, musstest du tun. Wer weiß, ob das jeder gemacht hätte. Dazu gehört Mut.“
Ich versuchte abzuwiegeln, doch sie sprach gleich weiter: „Und ich bin dir dankbar. Nicht, dass du mich da rausgezogen hast, nein, ich danke dir, dass du nicht fragst, wenigstens nicht laut.“ Sie musste schmunzeln.
Was sie doch für eine rätselhafte, interessante, außergewöhnliche Frau ist, dachte ich.
Jetzt lächelte sie mich an. „In deinen Augen sehe ich viel Liebe. Wer mit dir zusammen ist, darf sich glücklich schätzen.“
„Echt jetzt? Na, ich weiß nicht… Bisher habe ich noch jede erfolgreich in die Flucht geschlagen.“, gab ich scherzhaft zurück und versuchte so meine Unsicherheit zu überspielen.
Sie blickte wieder zum Meer, ihre Miene hatte sich verdüstert. „Das, was ich getan habe… tun wollte… muss dich nicht belasten. Es ist keine Sache zwischen Menschen, es ist ganz allein meine Sache. Mein verdammtes Recht! Und ich muss niemandem, absolut niemandem Rechenschaft ablegen, schon gar nicht Gott. An den glaube ich sowieso nicht. Ich habe oft darüber nachgedacht, wer oder was mir das Leben ‚geschenkt‘ haben soll. Es ist kein Geschenk! Im Gegenteil: Sobald wir leben, sind wir doch alle des Todes. Aus allem wird am Ende nichts. Wir strampeln uns ab – Dumme und Schlaue, Arme und Reiche, Glückliche und Verzweifelte, wir bringen es zu was oder auch nicht. Doch am Ende gehen wir alle den einen Weg, den Weg ins Nichts. Ich hatte mich für eine Abkürzung entschieden. Ganz bewusst und völlig im Reinen mit mir. Dann läufst du mir über den Weg…“
„Moment mal“, versuchte ich zu widersprechen, doch mit einem Ruck stand sie auf, klopfte sich den Sand aus ihrem noch feuchten Kleid, schlug das Handtuch aus, faltete es ordentlich zusammen und gab es mir zurück.
„Und jetzt?“, fragte ich kleinlaut.
„Jetzt fahren wir beide nach Hause. Du zu dir und ich zu mir. Keine Angst, du darfst mich noch zu meinem Fahrrad begleiten. Aber dann trennen sich unsere Wege.“ Sie stieg aus der Mulde und rutschte leichtfüßig die Dünenkante zum Strand hinab. Ich folgte ihr. Am Zugang bückte sie sich und zog neben dem Holzgeländer ein paar Schuhe und einen Rucksack hervor.
„Hier drin ist alles, was ich noch habe.“, sagte sie leichthin und fädelte ihre Arme in die Schlaufen. „Der Finder hätte das ganze Zeug behalten können. Eine gute Kamera, nicht allzu viel Bargeld – und ein Schwarzweißfoto, das ich noch in einer Drogerie ausgedruckt habe, bevor ich alle Dateien auf der Chipkarte gelöscht habe. Wenn schon, denn schon.“ Sie ließ den Rucksack wieder herunter, öffnete ihn und zog ein Papierbild hervor. „Hier, das schenke ich jetzt dir. Dass du mich beobachtet hast neulich, ist mir natürlich nicht entgangen. Insofern sind wir ja fast alte Bekannte…“ Sie grinste schief und sah mich von der Seite an.
Ich nahm das Foto, konnte in der Dämmerung aber kaum noch etwas darauf erkennen.
„Betrachte es im Sonnenlicht, es kommt auf den Kontrast an.“
„Willst du mir nicht wenigstens deinen Namen verraten?“
„Beim nächsten Mal. Wenn das Schicksal es will…“ Sie hatte sich ihren Rucksack wieder aufgesetzt, wandte sich von mir ab und ging schnurstracks auf ihr Minirad zu. Wenige Augenblicke später war sie in der Dunkelheit verschwunden. Ich seufzte laut, verstaute das Foto vorsichtig in meinem Rucksack und fuhr wie benebelt die kurze Strecke durch den Wald und am Deich entlang zu meiner Unterkunft. Bar und Restaurant waren bereits dunkel und so stieg ich die alte Holztreppe hoch zu meinem Zimmer. Als erstes entsandete ich mich gründlich unter der Dusche, steckte die schmutzigen, klammen Sachen in eine Plastiktüte und packte alles andere für den frühen Aufbruch am nächsten Morgen zusammen. Dann fiel ich todmüde ins Bett.

In dieser kurzen Nacht träumte ich alles mögliche, doch als mein Handywecker klingelte, zerplatzte jede Erinnerung daran wie eine Seifenblase. Draußen graute ein schöner Sommermorgen, die Vögel zwitscherten bereits bunt durcheinander, von weitem drang der Ruf eines Kuckucks herüber, weckte Kindheitserinnerungen. Mit schweren Beinen wankte ich ins Bad, nahm eine kalte Dusche, die mich halbwegs belebte. Nach einer Tasse Kapselkaffee raffte ich mein Zeug zusammen, ließ den Schlüssel verabredungsgemäß stecken und begab mich zu meinem Auto. So ein Mist, ich hatte den Rucksack mit den nassen Badesachen nicht mehr ausgepackt.

Augenblicklich überfielen mich die Bilder des vergangenen Abends. Die fatale Begegnung am Strand – das Foto… Hastig öffnete ich den Reißverschluss und zog ein welliges Stück Papier hervor. Mit einem leisen Fluch strich ich das Foto auf dem Kofferraumboden glatt, doch es war bereits zu spät. Was auch immer darauf zu sehen gewesen war, es war weg, zu erkennen war nur noch eine graue Fläche, durchzogen von faserigen weißen Äderchen. Ich betrachtete das, was einmal ein Foto gewesen war, versuchte mit aller Anstrengung ein Muster, eine Form auszumachen. War da nicht das Baumskelett? Nein, wohl nicht, denn im Grunde erinnerte ich mich ja nur, dass sie es fotografiert hatte, mehr nicht. Die weiße Frau am Strand und ihr schwarzer Schatten des Todes – zwei Begegnungen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Was war in den drei Tagen dazwischen mit ihr geschehen? Was passierte seit gestern Abend mit mir? Ich hatte sie im Wasser gepackt, doch später – im übertragenen Sinne – sie mich. Aber wohin sollte das führen? Sie hatte mich, ihren Retter, abgewiesen und mir mehr als deutlich gemacht, dass, wenn sie schon für sich selbst keinen Platz im Leben sah, da erst recht keiner für einen anderen Menschen sein würde. Ich musste sie mir aus dem Kopf schlagen und endlich losfahren.

Wenn das Schicksal es will – ihre Abschiedsworte kamen mir plötzlich in den Sinn. Schicksal? Sie glaubte nicht an Gott, sagte sie, warum also an Schicksal? Wenn ich ehrlich war, musste ich mir eingestehen, in diesem Begriff nie mehr als eine Floskel gesehen zu haben. Im Gegenteil machte ich mir wenig Gedanken um den Sinn des Lebens, die Hintergründe des Seins. Philosophie war meine Sache nie gewesen, vor jedem komplizierten Gedanken bog ich nach Möglichkeit ab. Eine meiner Partnerinnen sagte mir einmal, mir fehlte es an Tiefenschärfe, dafür wäre meine Benutzeroberfläche recht angenehm zu handhaben. Ich schoss sie in den Wind, ein Dummerchen war ich auch nicht.

Es kommt auf den Kontrast an – auch das hatte die Frau am Strand zum Abschied gesagt. Und jetzt begriff ich. Hastig zog ich mein Fahrrad von der Ladefläche, stellte Rucksack und Tasche darauf ab und verschloss den Wagen. Es war den Versuch wert. Im höchsten Gang fuhr ich zum Deich, durchquerte das Waldstück und sah von weitem schon das blaue Meer. Die Morgensonne ließ alles wie neu erstrahlen. Voller Zuversicht erreichte ich den Strandzugang. Und doch: Ich wurde enttäuscht. Kein Minirad – sie  war nicht da. Wie konnte ich mir auch solche Illusionen machen? Traurig lehnte ich mein Fahrrad an das Holzgeländer, stapfte langsam durch den Sand, um wenigstens ein letztes Mal das Meer zu sehen. Ich ließ die Schuhe an, denn ich würde nicht mehr bis ans Wasser gehen. Der Strand hatte jetzt nichts mehr von der Morbidität des vergangenen Abends, keine Wolken, keine Schatten, kein Wind. Nur die Sonne strahlte bereits recht heiß vom wolkenlosen Himmel. Das Meer warf lässig kleine Wellen auf den Sand, Schwalben tanzten im Tiefflug durch die Luft, zwei weiße Schmetterlinge turtelten miteinander, von den Dünen her schrie eine einzelne Möwe. Von der Frau keine Spur. Auf gewisse Art war ich erleichtert, jetzt würde ich beruhigt abreisen können. Eine lange Fahrt stand an, der Abschied von einem Freund und mein Leben würde einfach so weitergehen. Einfach so? Gerade als ich mich umdrehen wollte, schob sich eine Hand in meine. Eine Frau in weißem Hemd zog mich nach vorne, weiter an den Strand, durch den tiefen Sand, immer weiter, bis ans Wasser. Da standen wir, Seite an Seite, schweigend, lächelnd, und blickten hinaus auf das blaue Meer.

©Martin Bensen

Sei schön

Die Frau mit dem sinnlichen Mund
Sie weiß darum
Aber sie ist ganz offensichtlich
Nicht stolz darauf
Hat ihre großen vollen Lippen
Wohl immer gehasst
Warum sonst zieht sie diese Grimassen?
Ihre Mimik ist ständig in Arbeit
Kommt nie zum Stillstand
Denn der mündet womöglich
In einen magischen Moment
Den es offenbar zu verhindern gilt
Weil vielleicht schon mal ein Betrachter
Ein fremder Gesprächspartner
Ihren Ausdruck missverstand
Wenn sie spricht
Küssen ihre Lippen die Luft
Wenn sie schweigt
Schließt sie ihren Mund wie in Panik
Presst die Lippen aufeinander
Lässt sie wieder locker
Beobachtet wachsam ihre Umgebung
Weicht aber jedem Blick aus
Dann schaut sie nach unten
Zieht die Mundwinkel hoch
Macht so kokett ein Duckface
Weiß sie das nicht?
Als sich ein Spatz vor ihr niederlässt
Muss sie lachen
Da löst sich ihre Spannung
Und sie ist für einen magischen Moment
Ohne Absicht ganz sie selbst
Bleib so
Schöne Frau
Möchte ich ihr zurufen
Sei mutig
Sei schön!

©Martin Bensen