La Bionda

Mein letzter Trost ist weg. Erst dachte ich, er sei nur verreist. Das hat er manchmal getan in den letzten beiden Jahren, die uns so verstört und gefangen gehalten haben, besonders mich, der ich keinen Garten und keinen Balkon, nicht einmal ein richtiges Fenster habe und auf 43 Quadratmetern hause, im siebten Stock unter einem schlecht gedämmten Dach, winterkalt und sommerheiß. Nur wenige erträgliche Wochen, Phasen von Freiheit, in denen ich raus konnte, doch viel zu selten tatsächlich ging, weil das Risiko dort lauerte, die Angst in mir, und ich nur noch nach einem Trost lechzte: la Bionda. Weiterlesen

Kühlungsborn

Reisesplitter III

Dieser Ort kühlt meine Reiselust gehörig ab. Ich habe ihn anders in Erinnerung, nicht so voll, weniger touristisch, selbst vor zwei Jahren zur gleichen Zeit, als es noch keine Pandemie gab. Sorglos wälzen sich ortsfremde Menschen links und rechts über die Strandstraße, ein nicht abreißender Strom zur Seebrücke hin und zurück, vorbei an Läden, Restaurants und Buden. Sorglos suchen die Menschen wieder Nähe – sie macht ihnen zumindest nichts mehr aus. Weiterlesen

missing btw

nichts an allem ist mehr btw
nichts mehr zwanglos
nichts mehr leicht

#partyverbot
nicht mehr belanglos sein
wie mein freund der mir verrät
dass er mit seiner bürstenhaarwäsche
die fingernägel reinigt

#maskenpflicht
nicht mehr sicher sein
ob die frau im zug gegenüber lächelt
und wenn sie lächelt
wie sie lächelt

#ausgangssperre
nicht mehr spüren
wie sich stille über den weinberg senkt
die erhabene des sternenweiten alls
nicht die der gruft daheim

#reisewarnung
nicht mehr kerosin riechen
ohne die sorge dass dies nur ein traum
nur der rauch des grillanzünders
nebenan sein könnte

nichts ist mehr geil oder cool
nichts mehr krass nur krass
alles ist lame

©Martin Bensen

Alter Mann

Die Stadtbahn ist schon wieder zu voll. Viel zu voll für diese Zeit – für diese Zeiten. Da nützen auch keine Masken. Wie gut, dass ich bereits geimpft bin. Prio 2, Risikogruppe – die Zipperlein eben. Noch bin ich keine sechzig. Ein Jahr bleibt mir noch. Ein weiteres verlorenes Jahr? Ich gebe zu: Dieser runde Geburtstag ist eine Bank, eine Schlachtbank. Mit sechzig ist man alt. In zehn Monaten werde ich ein alter Mann sein. Endgültig. Unabänderlich. Die Grauzone bekommt ein neues Mitglied. Sieh dir das Gruselkabinett doch an: Wie Zombies sitzen sie da, stumm, ausdruckslos, ihre schlaffen Leiber nur in Bewegung durch die ruckelnde Bahn. Die Masken verbergen nur wenig von dem Elend. Die Bahn hält. Niemand steigt aus, eine alte Frau drängt herein. Meine Chance! Weiterlesen

Zwischenreich

Es ist als glitte meine Wirklichkeit
In einen Traum von einem Traum
Wo von Zwischenmenschlichkeit
Nichts mehr bleibt als Zwischenraum

In meiner eben noch vertrauten Welt
Verdünnt sich Zeit zur Zwischenzeit
Was wahr und schön und gut zerfällt
Wie das Licht zu neuer Dunkelheit

©Martin Bensen

Normal-Null

„Es ist wie es ist. Nicht zu ändern. Trotzdem…“ Mein Vater sieht an mir vorbei ins Licht. Die Gardine vor dem festverriegelten Fenster ist beiseite gezogen, doch viel gibt der Blick nicht her: eine belebte Straße, dessen Geräusche aber nur ganz leise zu vernehmen sind, dahinter Bäume mit frischen, aber schon angegrauten Blättern. Ich habe mich mit dem Rücken zum Fenster gesetzt, in den „Ausguck“-Sessel, den ich in Richtung meines Vaters gedreht habe.
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