Zur Nacht

Hätte ich nicht dieses Licht
In das ich diese Zeilen
Wie filigrane Schatten
Wie Fliegenbeinchen setze
Es wäre dunkel um mich

Würde ich nicht diese Worte
Auf den Tasten tippen
Sie mal vorwärts treiben
Mal mutlos wieder löschen
Es wäre still um mich

Wäre ich nur endlich ruhig
So hörte ich die Grillen zirpen
Und sähe in der Ferne Licht
Spürte wie die Welt zur Nacht
Wie ich sich schlafen legt

©Martin Bensen

Schwindzeit

Viel zu spät hatte er erkannt, was mit ihm passierte. Doch selbst wenn er früher Gewissheit gehabt hätte, so wäre er doch nicht imstande gewesen, die Entwicklung aufzuhalten. Die Zeit half ihm nicht, denn die Schwindzeit war schneller. Aber warum passierte das ausgerechnet ihm? Einem, den die Menschheit nicht brauchte…

Vor zwei Monaten war er arbeitslos geworden. Von heute auf morgen hatte man ihn vor die Tür gesetzt. Zwanzig Jahre hatte er sich für die Firma krumm gemacht, war in der ganzen Zeit nur einen Tag krank gewesen. Und das auch nur, weil er nicht einsah, einen Urlaubstag zu nehmen. Andererseits: Wer außer ihm hätte den einzigen verbliebenen Verwandten beerdigen sollen? Schon als Kind Vollwaise und Heimkind hatte sich nie jemand bei ihm gemeldet, bis ihn die Vergangenheit einholte und das Nachlassgericht ihn als einzigen Nachkommen ausmachte. Er schlug das Erbe aus, denn immerhin hatte man ihn vorgewarnt, dass er sich andernfalls einen Berg Schulden einhandeln würde.

Vielleicht war es auch ein Fehler gewesen, die Digitalisierung des Firmenarchivs als Hirngespinst verrückter Hipster abzutun. Als solche betrachtete er die neuen Inhaber nämlich, empfand nur bitteren Spott für sie. Der ehemalige Familienbetrieb war zuvor ins Trudeln geraten, schweren Herzens hatte der weit über siebzigjährige Patriarch, ein gutmütiger Schöngeist, ihn verkauft – nicht ohne sich von seinen annähernd zweihundert Mitarbeitern traurigen Blickes persönlich zu verabschieden. Er wusste, wem er sie auslieferte, aber er konnte nicht anders. Als der Alte ihm die Hand reichte, gab er ihm einen guten Rat mit auf den Weg. Er möge sich treu bleiben, dann könne nichts passieren. Wer, wenn nicht er, solle auch sonst den „Laden“ zusammenhalten. Er sei ja schließlich so etwas wie die Seele des Betriebs, keiner außer ihm selbst kenne ihn besser als er. Die Worte des alten Herrn schmeichelten ihm. Er war nur ein einfacher Mitarbeiter des Archivs, das er mit drei jüngeren Kollegen aus der Registratur pflegte. So gesehen, war er ein echtes Unikum.

Mit den warmen Worten des alten Herrn im Herzen fühlte er sich auch unter der neuen Geschäftsleitung unantastbar. Und während seine Kollegen eifrig Schulungen absolvierten, saß er da und holte die Kohlen aus dem Feuer. Wie oft hatte er die nötigen Schriftstücke parat, wenn seine Mitstreiter vor dem PC saßen und sich in der neuen Datenbank-Verwaltung einen Wolf suchten. Sollten sie doch. Als ob Computer Menschen ersetzen könnten. Hier schon gar nicht, denn gerade hier waren geistige Fähigkeiten gefragt, das Werk hocheffizienter Synapsen, das jeder Software überlegen war, der Mensch regiert, nicht die Technik, Maschinen waren dumm, solange sie nicht von menschlichem Geist befeuert und gefüttert wurden – das, war er sich sicher, würde immer so bleiben. Seine Erfolge und vielfaches Lob in der Firma waren doch der beste Beweis dafür, fand er.

So merkte er gar nicht, wie die bewundernden Blicke seiner Kollegen erst schleichend und hinter seinem Rücken, nur von spöttischen Augenaufschlägen begleitet, bald offenem Hohn wichen. Immer öfter erntete er Mitleid oder Verständnislosigkeit, immer wieder sah er, wie sie die Köpfe zusammensteckten und mit großen Augen von „KI“ sprachen. Weil er selbst nur den in Ehren vergilbten Uralt-Computer bedienen konnte und sich sogar weigerte, ein dienstliches Smartphone in Besitz zu nehmen, wusste er weder, wer oder was KI war – seine Initialen jedenfalls nicht – noch hätte er allen Ernstes erwartet, dass er nach seiner dritten Weigerung, sich schulen zu lassen, postwendend die Kündigung erhalten würde. Wie ein trotziges Kind hatte er die Warnungen, an denen es von allen Seiten nicht gefehlt hatte, einfach in den Wind geschlagen. So war er auch der einzige, der sein Schicksal als ungerecht empfand, denn er war sich schließlich treu geblieben, ganz so, wie ihm der alte Herrn geheißen hatte. Das also war nun der Lohn dafür.

Eine Woche haderte er, tat keinen Schritt vor die Tür, wusch sich nicht, knabberte an den Resten, die sein Kühl- und Küchenschrank noch hergaben, wälzte sich tage- und nächtelang in seinem Bett und war auf dem besten Wege zu verwahrlosen. Eines Morgens fiel ihm doch die Decke auf den Kopf. So war er einfach nicht. Nachdem er sich rasiert und ausgiebig geduscht hatte, ging er bei einer letzten Tasse dünnen Kaffees seine Optionen durch. Er war Mitte fünfzig, nicht mehr vermittelbar, allenfalls für schlecht bezahlte Hilfsarbeiterjobs, davon würde er nicht leben können, die Wohnung müsste er aufgeben, in eine deutlich kleinere ziehen, eine Sozialwohnung – und er musste dringend zum Arbeitsamt.

Und so kam es, in allen grausamen Einzelheiten.

Während dieser erniedrigenden Lebensphase ereignete sich die erste Merkwürdigkeit. Etwas, das gerade ihm auf keinen Fall hätte passieren dürfen. Obwohl er sich sicher war, dass er seine Zeugnisse vollständig und nach allen Regeln seines Expertentums archiviert hatte, fehlte plötzlich eines. Das hellblaue Heft aus der Grundschule war nicht mehr da. So sehr er auch suchte, was er immer hektischer und schonungsloser tat, es blieb verschwunden. Die Hülle, in der er das Heft sicher verwahrt wusste, war auch nicht da. Sie fehlte einfach im Ordner. Nicht dass er dieses Zeugnis noch gebraucht hätte, aber dessen Fehlen bereitete ihm Kopfzerbrechen. So etwas wäre ihm im Firmenarchiv nie passiert. Zuhause konnte er suchen wie er wollte, das kleine hellblaue Heft war und blieb weg. Alle anderen Zeugnisse und Arbeitsnachweise befanden sich noch an Ort und Stelle, auch die, die er für die Arbeitsagentur benötigte. Fehlte bloß noch, dass sie ihn nach seiner Geburtsurkunde oder gar dem Taufdokument fragten. Aus der Kirche war er gleich als Sechzehnjähriger ausgetreten. Sie hatte ihm am allerwenigsten geholfen. Scheinheilig und geldgeil war sie, mehr nicht. Er stutzte. Sollte er lieber mal nachsehen? Hatte er nicht gerade alles durchforstet? Als er in der wichtigsten Schublade nach dem Familienbuch suchte, fand er es nicht. Es war, als hätte es nie dort gelegen.

Jetzt wurde ihm richtig mulmig zumute. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er zurückprallte und auf dem abgewetzten Teppichboden zum Liegen kam. Was passierte hier? Er war sich sicher, dass das Familienbuch in der Schublade gewesen war. Beim Umzug hatte er sogar noch darin geblättert, hatte die Todesanzeigen seiner Eltern zum tausendsten Mal betrachtet, zum tausendsten Mal ohne jedes Gefühl. Er war noch zu klein gewesen, als sie in ihrem völlig demolierten Autowrack starben. Trotzdem wollte er alles über sie wissen. Die Zeitungsausschnitte! Er hatte sie sich im Zeitungsarchiv besorgt und abgeheftet. Mit zittrigen Fingern zog er den Ordner mit seinen persönlichen Erinnerungen aus dem Regal. Als ob er es geahnt hätte: Die Klarsichtfolien mit den Zeitungsausschnitten fehlten. Und noch mehr…

Wie konnte das sein? Wieso verschwanden einfach Dokumente aus seinen Ordnern? Hatte jemand bei ihm eingebrochen? Quatsch, dachte er, selbst wenn, hätte man Spuren entdeckt, und welcher Idiot nimmt sich ausgerechnet die persönlichsten Dinge eines Menschen, noch dazu solche, die für einen anderen völlig wertlos sind? Nie hatte er auch nur einen Tropfen Alkohol im Haus gehabt, ein eiserner Grundsatz von ihm, doch jetzt brauchte er einen Drink. Wenn nicht sogar zwei oder drei. Er verließ seine neue Bleibe, die in die Jahre gekommene, kleine Sozialwohnung, und ruckelte mit dem maroden Aufzug aus dem fünfzehnten Stock des schmucklosen Hochhauses nach unten. Immer wenn sich unten die Aufzugtür öffnete, war ihm, als empfinge ihn die Welt wie einen verloren Sohn. Dabei beachtete ihn niemand, war er gleichsam Luft für seine Nachbarn, vor allem die jungen. Aber da draußen war das Leben – und Jupp. Der Wirt der abgefuckten, stets verrauchten Eckkneipe, kannte ihn bereits. Auch diesmal empfing er ihn mit einem frisch gezapften Pils, das er wortlos vor ihn hinstellte, nicht ohne einen Strich auf den Deckel zu machen. Zwei der Pappen lagen bereits in der Schublade unter dem Zapfhahn. Wie hoch mochten seine Schulden bereits sein, wie viele Striche passten auf einen Deckel? Egal, er trank das erste Glas auf Ex, das zweite folgte auf dem Fuß, dazu ein zweiter Strich – na, das konnte ja heiter werden.

Wurde es auch.

Wie er ins Bett gekommen war, wusste er am nächsten Morgen nicht mehr. Filmriss. Von Bier? Sicher war auch Schnaps im Spiel. Jupp wusste, wie er die armen Schlucker bei der Stange hielt. Auch ihn. Was war nur aus ihm geworden, dachte er sich, während er eine Übelkeitswelle überatmete. Dann fiel ihm alles wieder ein. Mit stechenden Kopfschmerzen stand er auf, ging die zwei Schritte in den Nachbarraum, den man nur mit viel Wohlwollen Wohnzimmer nennen konnte, und besah sich das Chaos von offenen Ordnern auf dem Boden. Täuschte er sich oder fehlten jetzt weitere Unterlagen? Ihm wurde schlecht, er schaffte es gerade noch in die Nasszelle. Sieh an, Frikadellen hatte er auch noch gehabt, typisch Jupp, immer feste kirren, wenn das Bier nicht mehr schmeckte – und noch einen Kurzen zur Verdauung. Zurück im Wohnzimmer, fiel ihm sofort auf, dass etwas Wichtiges fehlte.

Er wusste genau, dass der rote Ordner am Abend noch zwischen zwei anderen gelegen hatte. Es war der Ordner mit den Briefen. Bitte nicht, dachte er, bitte nicht die Briefe! Seine erste große Liebe, seine einzige Liebe, wie oft hatten sie sich geschrieben, wie schön waren ihre Briefe, so schön, dass er beinahe jede Woche in ihnen las. Obwohl er sie in- und auswendig kannte, wärmten sie sein einsames Herz bis heute. Nie wieder hatte er sich einer Frau so nahe gefühlt, nie wieder hatte er sich überhaupt einer Frau genähert. Jedenfalls nicht in letzter Konsequenz. Mochte man ihn für einen seltsamen Vogel, einen ewigen Junggesellen oder gar für schwul halten – er war mit sich im Reinen, niemand könnte seiner Verflossenen je das Wasser reichen. In Liebesdingen lebte er einfach in der Vergangenheit. Sollte ihm diese jetzt auch genommen werden? Panisch zog er alle Ordner aus dem Regal, nahm sich einen nach dem anderen vor – und entdeckte zu seinem großen Schrecken weitere Lücken. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, ihm wurde schwindelig. Er ignorierte es, griff hektisch nach dem frühesten Fotoalbum, er hatte nur drei. Alle Seiten waren leer…

Das gleiche im zweiten Album. Nein, ganz hinten war noch ein Foto zu sehen, ein gelbstichiges, verblasstes Polaroid. Es zeigte ihn betrunken und schlafend auf dem Sofa eines unbekannten Gastgebers, in den Armen einer älteren Frau, die er, eher halbherzig, angebaggert hatte – Jahre nachdem seine erste Liebe mit ihm Schluss gemacht hatte, weil sie sich in einen anderen, wesentlich älteren Mann verliebt hatte. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen, es hatte ihn für Monate aus der Bahn geworfen und für jede weitere Beziehung verdorben. Plötzlich ahnte er, was ihm widerfuhr. Alle Dokumente bis zu einem bestimmten Zeitpunkt waren auf rätselhafte Weise verschwunden, einfach so. Sie waren nicht mehr da! Es wirkte fast so, als wären sie nie dagewesen, als hätte es sein früheres Leben nicht gegeben. Aber er war doch da! Seine Erinnerungen auch. In seinem Gedächtnis gab es sein Leben noch, lückenlos und vielleicht sogar präsenter als zuvor. Dinge verschwanden, die Erinnerungen nicht.

Nein, er wurde nicht dement!

Was für einen perfiden Scherz erlaubte man sich mit ihm? Man? Wer? Er hatte keine Freunde, hatte nie welche gehabt. Doch! Einen gab es, einen ehemaligen Mitschüler, mit dem er immer zusammen gelernt hatte. Ihn hatte er erst neulich zufällig im Supermarkt wiedergesehen. Er erinnerte sich, wie er schon auf ihn zugehen wollte, wie der andere ihm aber einfach den Rücken zudrehte, ihn später an der Kasse nur einmal kurz anblickte, eigentlich durch ihn hindurch sah, und es überhaupt furchtbar eilig zu haben schien. Warum diese Ignoranz? Lag es daran, dass er nur mit T-Shirt und Jeans, der andere aber mit feinem Zwirn, teurer Krawatte und blank gewienerten Lederschuhen bekleidet war. War er, der Arbeitslose, deswegen ein Aussätziger? Hatte er ihm je etwas getan? Er konnte sich nicht erinnern. Na warte, dachte er, den werde er stellen und dann sagt er ihm, warum er ihn nicht mehr kennen will.

Zwei Tage lungerte er am Discounter herum, ohne den feinen Herrn zu entdecken. Schon haderte er, fragte sich, ob er womöglich nur zufällig in der nicht gerade besten Gegend einkaufen war. Doch am dritten Tag, kurz vor Ladenschluss, eilte sein alter Schulfreund auf den Eingang zu, ohne ihn zu beachten. Nicht noch einmal, dachte er und heftete sich an seine Fersen. Zwischen Butter und Frischwurst sprach er ihn an. Er würde sich schön erschrecken, dachte er, doch sein Gegenüber drehte sich in aller Ruhe um und schaute ihn nur missbilligend an. So sehe man sich wieder, versuchte er ihn zu stellen, sah aber kein Wiedererkennen in den Augen des anderen. Im Gegenteil: Der zückte sein Portemonnaie, fischte eine Münze heraus und wollte sie ihm geben. Er wich erstaunt und verärgert zurück. Ob er ihn denn nicht erkenne, seinen Namen, die zehnte Klasse, die schwere Mathearbeit, wo er ihn habe abschreiben lassen? Er solle ihn mal schön in Ruhe lassen, das sei ja ein ganz mieser Trick, sagte der im Anzug und ließ den T-Shirt-Träger völlig verdattert stehen. Nein, das wirkte nicht gespielt, dieser Mann hatte ihn wirklich nicht erkannt – er hatte ihn noch nie in seinem Leben gesehen…

Der nächste Schicksalsschlag traf ihn einen Tag später. Als auf der Anzeige endlich seine Nummer erschien und er hinreichend zermürbt vor seiner Sachbearbeiterin saß, sah ihn diese mit einigem Befremden an. Ob er denn endlich mal seine Unterlagen einreichen wolle, blaffte sie ihn unvermittelt an. Da fehle es ja an fast allem. Warum er denn immer noch nicht die Zeugnisse eingereicht habe, mittlere Reife, Berufsschule, Fortbildungen. Da sei nur ein Arbeitszeugnis, aber selbst das sei merkwürdigerweise unvollständig. Wer denn solche Bescheinigungen ausstelle? So könne man seinen Fall jedenfalls nicht bearbeiten. Er fiel aus allen Wolken, sein Erschrecken schlug in Wut um. Er habe doch alles eingereicht, sie solle doch mal genau nachschauen. Ob ihr schlauer Computer womöglich gar nicht so schlau sei? Was erlaube er sich, schrie ihn die Frau an, aber bitte, sie könne ihm gerne auch die Akte zeigen. Aber nicht mehr heute, jetzt sei Feierabend, er möge morgen wiederkommen. Über die durchaus klaren Worte der Frau war er in sich zusammengesunken, selbst hier schienen Dinge zu verschwinden, wichtige, lebensnotwendige Dinge. Verschwand am Ende sein Leben?

Erst früh am Morgen war er eingeschlafen. Er erwachte, als die Herbstsonne schon in sein Zimmer schien und ihm unmissverständlich signalisierte, dass er verschlafen hatte. Jetzt würde er wieder einen ganzen Tag in der Arbeitsagentur zubringen müssen. Wieso hatte der Wecker nicht geklingelt? Er sah zum Nachttisch. Da war kein Wecker! Dabei hatte er ihn doch abends noch gestellt. Dreimal hatte er geprüft, ob er auch wirklich auf Alarm stand. Heruntergefallen war er auch nicht, so sehr er auch suchte, nirgendwo fand sich der Wecker wieder. Dinge verschwinden, dachte er, warum sollte ihn das also überraschen? Er ging in die Küche, füllte sich ein Glas mit Leitungswasser und wollte gerade an der kleinen Ikea-Tischgarnitur Platz nehmen, als er ins Leere blickte. Fast hätte er das Glas fallen lassen. Der kleine runde Tisch und die beiden Klappstühle waren weg. Einfach nicht mehr da. Er stellte das Glas in der hässlichen Küchenzelle ab, die er ohne Mehrkosten übernommen hatte und eilte ins Wohnzimmer. Das Regal wies inzwischen große Lücken auf. Nicht nur Ordner und Alben waren verschwunden, auch zahlreiche Erinnerungsstücke, der Aschenbecher aus London zum Beispiel, die Schneekugel, seine wenigen Bücher – bis auf eines, das er erst vor kurzem gekauft hatte. In seinem Gehirn arbeitete es. Das war es! Seine Dinge, die Dinge seines Lebens – verschwanden nicht einfach zufällig, dahinter wirkte ein Prinzip: Die Dinge verschwanden chronologisch! Und sie verschwanden in schnellerer Abfolge als die Zeit verging. Zeit zu systematisieren, dachte er. Das hatte er doch schließlich gelernt…

Wann hatte er das Fehlen der ersten Dinge bemerkt? Das war vor anderthalb Monaten. Nach Kündigung und Trauerwoche hatte er kurzen Prozess gemacht, die alte Wohnung gekündigt und war noch am selben Tag dort aus- und in die schreckliche Plattenbauwohnung eingezogen. Er hatte nicht viel einzupacken, die meisten Möbel in der Hochhauswohnung konnte er übernehmen, also ließ er seine alten bis auf wenige da. Von seinen geringen Ersparnissen mietete er sich einen Kombi und zog mit gerade einmal zehn Kartons, zwei Kleidersäcken, einem großen Koffer und der kleinen Tischgarnitur sowie einem billigen Sessel um. Wann hatte er diese Möbel gekauft? Nach den Belegen mochte er gar nicht erst sehen, die alten würden ebenso fehlen wie die anderen Dinge aus dieser Zeit. Dann fiel es ihm wieder ein. Er hatte gerade erst in der Firma gearbeitet. Sein Chef hatte ihm einen Firmenbulli angeboten, mit dem er zu Ikea fahren konnte, um sich Möbel für seine neue Wohnung zu kaufen. Zuvor hatte er einen Monat in einer günstigen Pension gewohnt. Das war also vor ziemlich genau zwanzig Jahren. Den Sessel hatte er einige Monate später gekauft. Deswegen war das gute Stück wohl noch da. Er begann zu rechnen, mit Zahlen konnte er, auf Rechenpapier legte er mit Lineal und Bleistift einen gerasterten Zeitstrahl an, trug mit rotem Stift alles ein, was er sich wann zugelegt hatte. So gut er konnte, machte er dasselbe für die verschwundenen Dinge. Die Zeit würde für ihn arbeiten, dachte er, je mehr jetzt verschwände, desto mehr würde er in Beziehung setzen können. Am Ende würde er die beiden Zeitstrahlen übereinander legen und ein Muster erkennen. Die Vorstellung beunruhigte ihn.

Und doch ahnte er nicht, wie rasch dieses Ende kommen würde.

Am nächsten Tag war auch der Sessel verschwunden. Gleichmütig trug er diese Tatsache in das Raster ein. In der Nacht war ihm eingefallen, wie er die beiden Zeitstrahlen betiteln würde. Archivare brauchen für alles Kategorien, Titel, Kennzahlen – so unterschied er die beiden Raster nach „Lebenszeit“ und „Schwindzeit“. Sein alter Chef wäre begeistert, dachte er sich, und im nächsten Moment wischte er diesen Gedanken beiseite. Er wollte nicht erinnert werden. Überhaupt: Was zählten noch die eigenen Erinnerungen, wenn alles, was sie belegen könnte, selbst die Menschen, die darin eine Rolle spielen, einfach verschwinden. Aber nicht so, wie die Zeit Erinnerungen verblassen lässt und vielleicht Wunden heilt. Die Schwindzeit ist grausamer, ahnte er, sie ist schneller und sie holt die Lebenszeit ein – was, wenn sie die Gegenwart erreicht? Verschwindet man dann selbst? Er bekam eine Gänsehaut. In diesem Moment war er davon überzeugt, dass er dringend Hilfe brauchte. War er dabei, verrückt zu werden? Oder ging es anderen womöglich genauso? Mit wem sollte er sich aber darüber austauschen? Er hatte niemanden, dem er vertraute. Wen sollte er also danach fragen, ohne für verrückt gehalten zu werden? Jetzt vermisste er das Internet. Er wusste, dass den allwissenden und ohne Unterlass gefütterten Suchmaschinen – wenn auch das Geheimnis des Universums – so doch nichts Menschliches fremd war.

In den folgenden Tagen verschwanden weitere Dinge. Von den wenigsten wusste er das Datum. Allerdings konnte er die Schwindzeit gut zu seinen Fotos in Beziehung setzen, selbst wenn es kaum noch welche aus den letzten Jahren gab. Drei, vier offizielle Bilder von Firmenfeiern waren dabei, die ihm bei der Ermittlung halfen. Bald waren seine Alben leer, wenig später waren sie selbst verschwunden. Bitter nahm er zur Kenntnis, dass auch aus seinem Portemonnaie Dinge verschwanden. Sein Ausweis zum Beispiel, er hatte ihn erst vor einem Jahr verlängern lassen. Sein Führerschein war längst nicht mehr da, er brauchte ihn auch nicht mehr, dachte er fast fröhlich. Glücklicherweise hatte er noch Geld abgehoben und damit sein Konto komplett geleert. Erst vor wenigen Monaten hatte er die Bank gewechselt, jetzt war seine Debitkarte mitsamt dem Konto dabei zu verschwinden. Als dies geschah, legte er endlich seine beiden Raster übereinander, ein fast feierlicher Moment. Er hatte das Ergebnis erwartet: Die Schwindzeit hatte während ihres Wütens noch zugelegt, immer schneller wurde sie. Mit zitternden Fingern leitete er die Formel für die Restzeit ab, so etwas war ihm nie schwer gefallen, warum also hatte er sich so beharrlich gegen Computer gewehrt – womöglich wäre aus ihm noch ein ganz passabler Programmierer geworden? Nur jetzt war es dafür definitiv zu spät, bis zum Break-Even blieb nur noch eine Stunde Zeit, wenn überhaupt. Was dann geschah, wollte er sich nicht ausmalen.

Zeit für ein letztes Bier in Ehren, dachte er. Am liebsten würden er den Moment des Aufeinandertreffens verschlafen. Doch daran war nicht mehr zu denken. Würde es wehtun? Er verließ die kleine, schäbige Wohnung, wollte abschließen und bemerkte abermals fast heiter, dass der Schlüssel nicht mehr da war, auch das Türschild mit seinem Namen fehlte. Trotz der knappen Zeit nahm er die Treppe. Zu sehr fürchtete er sich davor, die letzten kostbaren Minuten in einem steckengebliebenen Aufzug zu verbringen. Stufe für Stufe, Absatz für Absatz trottete er nach unten, fast meditativ. Mit jedem Schritt führte er sich zurück in seine Erinnerungen und war fast erstaunt, als er i Erdgeschoss ankam. Er verlor keine Zeit, hastete nach draußen, rannte auf seine Stammkneipe zu. Wie immer stand Jupp hinter dem Tresen, zapfte gerade ein Pils und als er direkt vor ihm auf seinem Lieblingshocker Platz nahm und sich wie nie zuvor auf ein frisches, kühles Blondes freute, bog der Wirt ab und stellte es einem anderen Gast hin. Was er denn wünsche, fragte Jupp und sah ihn an wie einen Fremden. Ihm war klar, warum, er hatte sich ja seit Tagen nicht mehr in der Kneipe blicken lassen. Er bat um ein Pils, das er diesmal auch bar bezahlen wolle und seine Schulden auf den Deckeln gleich mit. Welche Deckel er denn meine, fragte Jupp zurück und dem durstigen Gast wurde schlagartig klar, dass ihm die Schwindzeit auch die Schulden erlassen hatte. Seine vielen Biere hatte es demnach auch nie gegeben. Er kramte nach seinem Geld, spürte, wie es sich genau in diesem Moment aufzulösen begann und als er die Scheine auf den Tresen legen wollte, war da nichts außer seiner Hand, die ins Leere griff.

Jupp ließ das gezapfte Pils gleich unter dem Hahn stehen, deutete wortlos zur Tür. Der ihm fremde Gast wusste, dass alles Bitten und Erkären nichts nützen würde, so verließ er mit hängendem Kopf die Kneipe. Als die Tür draußen ins Schloss fiel, war es, als ob ein Fallbeil nach unten sauste. Er sah auf die Uhr. Welche Uhr? Sie war schon vor Tagen verschwunden, als er sie zum Duschen abgelegt hatte. Warum aber trug er noch die Kleidung am Leib? Gut, er hatte die Sachen erst kürzlich im Second Hand Shop gekauft und – das war wohl bedeutender – seit Tagen nicht mehr gewechselt, auch nachts nicht, denn er konnte kaum noch schlafen. Sein Kleiderschrank hatte sich irgendwann wie von Geisterhand geleert. Vielleicht schützte der direkte körperliche Kontakt davor, ein Ding zu werden und zu verschwinden. Andernfalls hätten sich ja auch die Zahnfüllungen und Kronen aus seinem Mund verabschieden müssen, dachte er noch. Dann ging alles ganz schnell.

Für einen Moment leuchtete sein Körper auf, als hätte ihn ein Blitz getroffen, Sekundenbruchteile später fiel er in sich zusammen. So sah es aus, wenn ein Röhrenfernseher ausging, dachte er noch, als er sich für einen flüchtigen Moment selber von oben sah. Dann trug ihn ein Windhauch fort und löste ihn in Luft auf.

©Martin Bensen

Party-Aal

Nein kein Partylöwe
Bist du
Ein leiser Gast
Bist du
Ein feiner Mensch
Bist du
Auf jedem Fest
Bist du
Stets im Hintergrund
Bist du
Ein stiller Zuhörer
Bist du
Ein Vertrauter
Bist du
Ein lieber Gast
Bist du
Ein wahrer Party-Aal

©Martin Bensen

Traumgesichte (IV): Fliege

Als Giselher Brumma eines Abends in unruhigen Schlaf fiel, fand er sich im Traum zu einer abscheulichen Fliege verwandelt. Dergestalt erhob er sich aus schweißnassen Laken, schwebte leicht empor und sah sein Zimmer wie eine neue Welt aus Licht und Farben. Da drüben war es hell, er flog dorthin, spürte wohlige Wärme. Noch vor wenigen Minuten hätte er es besser gewusst, jetzt ließ ihn sein Instinkt ganz nah an das Licht fliegen. Er landete auf dem oberen Rand der Lampe. Hier war es angenehm. Warme Luft stieg auf von dort unten, wo es noch heller war, noch schöner schien. Also lugte er vorsichtig über den Rand, spürte die verlockende Intensität von Licht und Wärme. Es kribbelte wohlig in den Beinchen, die Flügelchen summten vor Lust, so stieß er sich ab, schwebte kurz in der Luft und ließ sich nach unten sacken. Uuh, jetzt wurde es aber heiß. Viel zu heiß! Er wollte wieder hoch, doch es war zu spät, die Flügel reagierten nicht mehr, wie er wollte. So plumpste er unversehens hinein, schrammte an dem gleißenden, heißen Licht vorbei und landete weich auf einem riesigen Haufen vertrockeneter Insektenkadaver. Verzweifelt brummten seine Flügel, hektisch versuchte er nach oben zu gelangen, rasselte hier gegen Glas und dort gegen Glut. Es gab kein Zurück mehr. Kraftlos sank er wieder auf den Chitinhaufen längst verendeter Leidensgenossen. Seine Flügel waren geschmolzen, nichts brummte mehr, er war gefangen. Die Hitze wurde ihm jetzt unerträglich. Mit letzter Kraft stieg er über die Gerippe, durstig, fiebernd, gelangte an das Glas, versuchte daran hochzukrabbeln, doch es war zu heiß, seine Füßchen verbrannten, er fiel hinunter, lag jetzt auf dem Rücken, weich gebettet auf den Leichenhüllen, sah ein letztes Mal zum Licht und wurde eins mit den Toten.

Giselher Brumma wachte nicht mehr auf. Man fand ihn Tage später völlig ausgetrocknet und mit Brandmalen an Rücken, Füßen und Händen im Bett. Sein starrer Blick war auf die Hängelampe über seinem Nachttisch gerichtet, deren Licht noch brannte. Im unteren Teil der tropfenförmigen Glashülle hatten sich Insektenreste aus mindestens zehn Jahren angesammelt.

©Martin Bensen

Feedback

Um es gleich zu sagen:
Du warst richtig gut!
Richtig, richtig gut.
Gut, vielleicht nicht…
Okay, das jetzt nicht…
Jetzt, wo du es sagst…
Findest du das auch?
Stimmt, das hätte man…
Man hätte es besser…
Besser anders, genau…
Genau besehen nein…
Nein, das ist nicht gut…
Naja, aber schlecht…
Ach, das war falsch?
Ja, das ist scheiße!
Aha, na dann…
Mach du’s auch gut.

©Martin Bensen

Man sollte nicht die Ohren spitzen, wenn jemand telefoniert. Aber komisch war das Gehörte schon. Hab es zugegebenermaßen zugespitzt…