Honigbrust (Frühling)

Es fiel der Kirsche über Nacht
Bei sternenkaltem Himmel ein
Ob sie wohl früher als gedacht
Sich schmücken kann ganz fein

So treibt sie nach dem Morgenrot
Aus allen Knospen Blütenweiß
Und strahlt mit ihrem Aufgebot
Dem Frühlingsanfang zum Geheiß

Verzieh dich endlich graue Zeit
Sieh doch wie der Duft die Lust
Die Geilheit aus dem Eis befreit
Das Schwärmen um die Honigbrust

©Martin Bensen

Verlassen

Was ich dir gab gibst du
Zurück wie eine alte Haut
Als wäre nur noch Last
Was uns einst fliegen ließ

Was du mal Liebe nanntest
Ist doch nicht raus aus mir
Prallt jetzt nur ab läuft leer
So wie alles und noch mehr

Wer lädt mich wieder auf
Die Welt die nur mit dir
Die beste aller möglichen
Nun jedoch unmöglich ist

©Martin Bensen

Am Abgrund

Wenn er je einen Freund hatte, dann ihn. Ein Lichtblick unter den grauen Gestalten der Nachtschicht. Dabei war ein Job bei der Post nicht das schlechteste, zumal für einen Studenten wie Gabriel. Zehn Stunden die Woche reichten ihm für sein Budget. Allein sechs davon arbeitete er zwischen Mitternacht und Montagfrüh. Richtig zur Sache ging es nur in der ersten und in der letzten Stunde: erst Pakete in die Rollwägen mit den Postleitzahlen, später im Betriebshof alles in die gelben Transporter. Zwischen Hektik und Hektik lagen fast vier Stunden Leerlauf, die die Männer im kargen, neonhellen und überheizten Pausenraum verbrachten. Zeit, die sich endlos dehnte – bis Daniel auftauchte. Daniel, sein einziger Freund in diesen leeren Nächten. Damals ahnte Gabriel nicht, was mit ihm geschehen, was Daniels Geschenk auslösen würde – Jahrzehnte später, als ihm dieses seltsame Buch wieder in die Hände fiel. Weiterlesen