Wie lange habe ich Rebecca nicht gesehen? Jetzt sitzt sie tatsächlich vor mir. Wir haben uns den stillsten Winkel des Cafés ausgesucht. Frischer Kaffee dampft in unseren Tassen. Doch wir wollen uns nicht den Mund verbrennen. Um ehrlich zu sein: Wir können uns nicht satt sehen aneinander. Dabei müssen sich unsere Blicke noch aneinander gewöhnen, zögernd, fast schüchtern, suchen wir den lieben Menschen aus vergangenen Tagen. Zehn Jahre ist es her, dass Rebecca mich verlassen hat, uns verlassen hat. Jetzt, wo es mich zum Studieren in eine andere Stadt gezogen hat, das unverhoffte Wiedersehen. Ich weiß nicht, ob es Zufall war oder ob sie nach mir gesucht hat. Jedenfalls stand sie plötzlich vor mir, als ich mein Rad aufschließen wollte.
Ihr Atem geht immer noch schnell. Draußen in der Kälte hat sie viele kleine Wölkchen ausgestoßen, als wäre sie gerannt. Vielleicht ist sie das. Eher ist es wohl die Aufregung, auch mein Herz schlägt schneller. Sie nickte nur, als ich ihr vorschlug in dieses Café zu gehen. Auch, als ich uns einen Kaffee bestellte. Jetzt lächelt sie, sieht mir direkt in die Augen. Ihr Blick weitet sich, wird versonnen, ihr Atem beruhigt sich. Dann endlich höre ich ihre Stimme. Die Stimme, die mich so oft in den Schlaf gesungen hat. Mit Liedern aus alten Zeiten, von fernen Orten, voller Wärme und – damals spürte ich, dass da noch etwas war, das ich aber erst heute begreife: Leidenschaft. Sie war immer schöner gewesen als meine Mutter und obwohl ich meine Eltern liebte und immer noch liebe, war mein Gefühl für Rebecca anders. Stärker. Leidenschaftlicher. Musste sie deshalb gehen?
„Ich habe euch verlassen, weil ich es wollte, niemand hat mich gezwungen. Deine Eltern haben mich gebeten zu bleiben. Besonders dein Vater.“
Wie vertraut mir diese Stimme ist. Doch ihre Worte stechen mir ins Herz. Was hatte sie mit meinem Vater? Sie greift nach meiner Hand, ich ziehe sie instinktiv zurück.
„Nicht was du denkst. Ich hatte nichts mit deinem Vater! Haben dir das die Nachbarn erzählt?“ Ihr Blick wirkt enttäuscht, verletzt. Weshalb hatte ich sie so schnell vergessen? Vergessen wollen? Warum war meine Trauer so schnell verflogen, obwohl diese Frau an meiner Seite war, seit ich denken konnte? Gleich nach Rebeccas Verschwinden fing eine neue Lebensphase an. Meine Eltern zogen in eine andere Stadt, alles war neu, zusätzlich begann für mich eine aufrüttelnde, vergessenmachende Pubertät. Bald beschäftigten mich andere Dinge. Und das Leben meinte es gut mit mir: Ich entwickelte mich nicht nur zu einem gutaussehenden jungen Mann, den die Frauen reihenweise begehren – ich hatte auch in der Schule überhaupt keine Probleme. Jetzt studiere ich schon im zweiten Fachsemester Medizin. An Rebecca habe ich in all den Jahren kaum noch gedacht, es gibt auch keine Erinnerungsfotos von ihr, sie war nur noch ein Traumbild, etwas, das nicht real ist. Nicht real sein kann. Erst als sie vor mir stand, kam die Erinnerung zurück. Sie fühlt sich überraschend gut an.
„Danke“, flüstert sie.
„Danke wofür?“ Ich ahne gleichwohl, was sie meint. Dann fällt es mir wieder ein. Wie verzweifelt ich war, wie ich meine Eltern angeschrien, sie unablässig angefleht habe – und wie sie bis heute nichts zu den Umständen von damals gesagt haben. All meine Bemühungen, die Hintergründe von Rebeccas plötzlichem Verschwinden zu erfahren, liefen ins Leere. Spätestens nach dem Umzug erlahmte mein Ehrgeiz in dem Maße, wie meine Eltern mich ablenkten, mich umsorgten und verwöhnten. Und wie ich mich zugleich abnabelte und mir die Welt eroberte. Irgendwann dachte ich nicht mehr an Rebecca. Sie sieht mich traurig an, ich reiche ihr meine Hand, die sie dankbar berührt. Ganz sanft legt sie ihre darüber. Mir wird ganz anders, Wärme durchströmt meinen Körper. Irritiert blicke ich Rebecca an, meine Rebecca, meine große und einzige Liebe.
„Danke“, kommt es jetzt über meine Lippen. „Danke, dass du mich gesucht und gefunden hast.“
„Ich habe dich nicht gesucht.“ Rebecca nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse und verzieht das Gesicht. Ich rühre meine immer noch nicht an. Der Dampf ist längst verschwunden. Sie lächelt wieder. Wie schön sie ist. Wie früher trägt sie ein Kopftuch, wie damals bedeckt es nur den hinteren Teil ihres langen, fast schwarzen Haares. Silberne Fäden schimmern darin. Wie alt mag sie inzwischen sein? Bis zu ihrem Verschwinden war sie immer da. Sie ist jünger als meine Mutter, zwar nicht wesentlich, aber doch so, dass sie mir nie das Gefühl gegeben hat, eine zweite Mutter zu sein. Sie war schon damals eine besondere Frau für mich.
„Das Schicksal hat uns wieder zusammengeführt. Ich nehme an, du glaubst nicht an sowas…“ Sie drückt sanft meine Hand. Wieder habe ich den Impuls, meine zurückzuziehen, doch Rebecca verstärkt ihren Griff. Plötzlich bin ich wieder das Kind und sie meine… Was war sie eigentlich für mich?
„Ich bin dir eine Erklärung schuldig. Du hast ein Recht darauf, alles zu erfahren. So können wir beide unseren Frieden damit machen. Bist du bereit dazu?“ Sie lässt meine Hand los, kramt in ihrer bunten Umhängetasche, die ich jetzt erst wahrnehme. Sie zieht eine Mappe hervor, öffnet sie. Es ist ein kleines Fotoalbum. Sie schiebt es mir hin. Ich rücke die volle Tasse endgültig beiseite und öffne das Album. Das Bild haut mich um. Es zeigt die junge Rebecca halbnackt. An ihrer Brust liegt ein Bündel, augenscheinlich ein Säugling.
„Das“, Rebecca deutet auf das Bild, „bist du. Ich war deine Amme.“
Ich starre sie an, meine Gedanken überschlagen sich. Amme! Was zum Teufel ist eine Amme? Gibt es so etwas überhaupt noch? Ich krame in meinem Gedächtnis nach, will zu meinem Handy greifen. Heißt das, Rebecca hat mich…
„Deine Mutter hatte eine schwere Geburt mit dir, kurzzeitig schwebte sie in Lebensgefahr. Bestimmt hat sie dir auch das nie erzählt.“ Rebecca nimmt wieder meine Hand. Mir wird leicht schwindlig. Komm, mein Schatz, komm in meine Arme! Vertraute Worte wie ein Echo aus einer anderen Zeit. Rebeccas Worte. Ich sehe sie, wie sie in die Hocke geht, ihre Arme ausbreitet, sehe mich, wie ich auf sie zurenne, in ihre Arme, wie sie meinen kleinen Körper umschließen, mich hochheben. Ich springe auf, sie hält es jetzt auch nicht mehr auf ihrem Stuhl, wieder breitet sie ihre Arme aus, sie umschließen mich, doch jetzt hebe ich sie hoch – wie leicht sie ist – halte sie fest. So verharren wir kurz, dann lasse ich sie herunter, ziehe sie zu mir auf die Bank, auf der ich saß, halte sie umarmt, sie nimmt ihr Seidentuch ab, umschlingt unsere Hände damit, lehnt ihren Kopf an meine Schulter und beginnt zu erzählen. Erzähl mir eine Geschichte, Rebecca…
Es waren einmal zwei werdende Mütter. Die eine wohlhabend und glücklich verheiratet, die andere vom Leben gebeutelt und enttäuscht. Sie kannten sich nicht, doch beide führte das Schicksal zusammen. Bereits in Wehen lagen sie in demselben Krankenhaus, nur zwei Zimmer voneinander entfernt. Während die eine laut schreiend einen gesunden Jungen zur Welt brachte, erlitt die andere fast zeitgleich eine Totgeburt. Während diese Frau vor Verzweiflung schrie und in gnädigen Schlaf versetzt wurde, fiel jene plötzlich von selbst in ein tiefes Koma. Und während dieser und ihrem Kind fortan der Mann und Vater nicht mehr von der Seite wich, war bei jener niemand, der sich um sie sorgte und ihr totes Kind beweinte. Als sich auch nach zwei Tagen nichts an der Situation änderte, die Ärzte die arme Frau aber langsam auf ihre Entlassung vorbereiteten, wollte es das Schicksal, dass sich die Trauernde und der besorgte Vater im Aufenthaltsraum begegneten. Er hatte den Säugling auf dem Arm, gab ihm gerade das Fläschchen mit Ersatznahrung und sah sie am Fenster stehen. Er sprach sie an und so kamen sie ins Gespräch. Beide weinten, als sie sich einander öffneten. Dann geschah etwas Außergewöhnliches: Die Frau nahm ihm den Säugling ab, setzte sich mit ihm in einen Sessel und während der Vater nur überrascht dastand, öffnete sie ihre Bluse und legte den Kleinen an ihre pralle Brust. Augenblicklich begann er zu saugen. Tränen rannen über das Gesicht der Frau, diesmal vor Glück. Der Vater löste sich aus der Erstarrung und ging vor den beiden in die Knie. Er rang um Fassung, umarmte die Frau mit seinem Kind, bald weinte auch er – dankbar. Als eine Hebamme erkannte, was gerade geschah, eilte sie zu ihrem Chef. Wenig später, als der Säugling schon wieder in den Armen ihres Vaters lag und die Frau auf ihr Zimmer gehen wollte, um sich auf die Entlassung vorzubereiten, bat der leitende Arzt die Frau und den Vater zu sich ins Büro. Er brauchte nur wenig Überzeugungskraft für seinen Vorschlag: Die Frau solle doch bitte bleiben und das Kind versorgen, schließlich sei nichts besser für ein Neugeborenes als Muttermilch, und der Mann solle sich derweil mit ganzer Kraft um die Mutter kümmern, sie brauche jetzt die unbedingte Zuwendung ihres Mannes. Die Frau zögerte, kam sich im ersten Moment vor wie eine Melkkuh, dabei war sie es doch, die ihr Kind verloren hatte und ebenfalls Zuwendung brauchte – wer half schließlich ihr? Doch dann sah sie der Vater so flehend an, dass sie nicht anders konnte. Zudem hatte sie den Kleinen bereits in ihr Herz geschlossen. Daran, dass sie auch ihn wieder verlieren würde, dachte sie in diesem Moment noch nicht. Es kam schließlich auch anders: Die Mutter wachte eine Woche später aus ihrem Koma auf und brauchte noch eine weitere Woche, um ins Leben zurückzufinden. Ihre Rolle als Mutter nahm sie noch viel später an. Wegen der starken Medikamente war sie zum Abstillen verdammt und so trieb Eifersucht sie um, die ihr Mann so gut es ging zu zerstreuen versuchte. Doch viel schlimmer wog, dass sie von sich aus nicht fähig war, eine Bindung zu ihrem Kind aufzubauen. So oft sie es auch in ihren Armen hielt, so wenig wurde es ihr vertraut. Es war, als fehlte die Brücke über die tiefe Schlucht, die sie trennte. Bald erkannte sie, dass ihr Unvermögen, ihren Sohn anzunehmen, weniger von der Eifersucht auf die stillende Frau, als vielmehr von einer düsteren Leere in ihr selbst ausging. Sie würde kein weiteres Kind bekommen können, hatten ihr die Ärzte erklärt. So fühlte sie sich doppelt betrogen. Um jede weitere Mutterschaft und um diese eine, in die sie einfach nicht hineinkam. In dieser schweren Zeit wuchs ihr Mann über sich hinaus. Nicht nur, dass er die Frau in ihr Haus aufnahm, genug Platz war schließlich vorhanden und sie selbst war auch bereit, ihr bisheriges, durchaus kümmerliches Leben hinter sich zu lassen – auch eine schier unbändige Kraft befähigte ihn dazu, die beiden Frauen einander näher zu bringen, indem er die eine behutsam in die Rolle einer Tagesmutter überführte und die andere, seine eigene, zur wahren Mutterrolle zurückfinden ließ, wenn auch zu einer recht abgeklärten. Als Psychologe hatte er gewiss das Rüstzeug dazu, aber ohne seine große Liebe wäre er dazu nicht imstande gewesen. So wuchs das Kind mehr als wohlbehütet auf, verteilte seine Zuneigung völlig unbekümmert und auf die denkbar ehrlichste Weise auf seine Eltern und seine Amme – die Frau namens Rebecca.
Sie hebt ihren Kopf, rückt etwas von mir weg. Ihr Blick ist traurig, sie scheint zu spüren, dass meine Gefühle in Aufruhr sind. Nie wieder werde ich das Kind sein, dass sie nährte und das sie bis heute wohl liebt wie ihren eigenen Sohn. Den Sohn, den sie nie hatte.
„Keine Angst, ich habe in dir nie mein Kind gesehen. Natürlich ist es mir schwergefallen und manchmal habe ich gedacht, ich nehme dich einfach mit, gehe mit dir irgendwohin, wo uns keiner findet. Doch dein Vater war so ein großartiger Mensch. Schon ihm hätte ich das niemals antun können. Aber eigentlich auch deiner Mutter nicht. Sie hat vielleicht mehr gelitten als ich. Ich mag sie, obwohl ich nie wirklich warm mit ihr geworden bin.“
„Was ist passiert?“ So vertraut ich mich hier und jetzt wieder mit Rebecca fühle, so verwirrt bin ich über ihre Geschichte. Warum habe ich die Zeit mit ihr nur so vollständig verdrängt? Warum habe ich Rebecca vergessen? Welches Trauma habe ich erlitten?
„Mach deinen Eltern keine Vorwürfe. Sie wollten dich schützen. Wollen es wohl immer noch. Aber ich glaube, weiter zu schweigen, wird dir schaden. Und wenn du mich dafür hasst, soll es so sein.“ Sie schluckt trocken, sieht zur Theke hinüber.
„Jetzt sag mir endlich, was war!“ Ich kann meine Ungeduld nicht länger zügeln, fühle mich auf unerträgliche Weise bevormundet, spüre, wie Wut in mir hochsteigt.
Die Kellnerin kommt, Rebecca bestellt uns beiden Wasser. Ich nehme es kaum wahr, bin viel zu sehr in meiner Geschichte, die ich endlich ganz erfahren möchte. Sie scheint zu merken, was in mir vorgeht, bittet mich aber noch um einen kurzen Moment Geduld. Sie nimmt ihre Tasche und verschwindet Richtung Toilette. Die Kellnerin bringt zwei Gläser Wasser, fragt, ob ich noch einen Wunsch hätte. Sie ist hübsch, ihre Augen leuchten. Ich lehne höflich ab, winde mich aus ihrem begehrlichen Blick, sodass sie schließlich geht, ihre Schritte klingen lauter als zuvor. Ganz schlechter Zeitpunkt – ich mache mir langsam Sorgen. Was, wenn Rebecca heimlich verschwunden ist? Wenn sie am Ende doch der Mut verlassen hat…? Schon will ich aufstehen, da kommt sie an unseren Platz zurück. Dieser Duft, ich erkenne ihn wieder. Sehe sie vor mir, sie breitet ihre Arme aus, ich renne auf sie zu, pralle mit einer solchen Wucht auf sie, dass wir noch in der Umarmung umfallen. Wir landen in weichem Sand, ich auf ihr, sie wirkt plötzlich so zart, fast zerbrechlich, ihre Augen bekommen einen Ausdruck, den ich noch nie gesehen habe, ihr Mund öffnet sich, aber sie lacht nicht wie sonst, neben uns brandet das Meer, schickt eine Welle bis zu uns, will an uns lecken, als unsere Lippen sich finden und die Welt um mich versinkt.
„Wie lange habe ich geschlafen?“ Ich brauche einen Moment, dann bin ich wach. Rebecca steht am Fenster, sie trägt einen weißen Bademantel. Wie lang ihr Haar ist! Wo ist sie die ganze Zeit gewesen?
„Bist du sicher?“ Sie sieht unverwandt aus dem Fenster. „Wir beide… „
„… sind füreinander bestimmt.“ So sicher wie jetzt war ich mir noch nie. Ich habe sie wiedergefunden, habe sie dem Vergessen entrissen – meine große Liebe. Die Liebe meines Lebens. Wie hohl das klingt, wenn man es nicht selber fühlt. Es gibt keine Worte für das, was ich empfinde, was ich immer schon empfunden habe.
„Als wir das Café verlassen haben, hat die Kellnerin ganz spöttisch geguckt. Die dachte bestimmt, ‚was will der knackige Bursche denn mit der Alten?‘ Kannst du damit umgehen? Du hast doch dein ganzes Leben noch vor dir und sicher passt eine wie die viel besser zu dir. Dass du keine Freundin hast, wundert mich sowieso. Lass uns aufhören, bevor es zu spät ist, wir werden uns nur wehtun.“
Mit einem Satz bin ich bei ihr, sie dreht sich um, sieht zu mir auf. Ich umarme sie, drücke ihren Kopf sanft an meine Brust, halte sie fest. Als wir uns das letzte Mal sahen, war ich fast so groß wie sie. Wir waren beide benommen, als wir den Weg vom Strand zurück ins Hotel mehr rannten als gingen, uns hektisch den Sand aus den Sachen klopften, uns dabei weder ansahen noch etwas sprachen. Sie hatte mich schließlich weggestoßen, sanft, aber entschieden, doch der Kuss war einen kurzen, umwerfenden Moment nicht einseitig gewesen. Wäre er doch nur meinem Verlangen entsprungen. So aber spürte ich, dass etwas zerbrochen war. Ich ging gleich zu Bett, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die sich auf ein gemeinsames Abendessen zum Abschluss unseres Urlaubs am Meer gefreut hatten. Bei diesem Essen beichtete Rebecca ihnen, was vorgefallen war. Mein Vater nahm die Episode mit Humor, er kenne solche Verirrungen, der Junge komme eben in die Pubertät, da sei so etwas normal, in dem Alter würden immer Grenzen überschritten, das gebe sich und bald wolle er weder von seinen Eltern, noch von ihrer… Tante etwas wissen wollen. Meine Mutter schwieg nur und protestierte nicht ganz so laut wie mein Vater, als Rebecca ihre Entscheidung verkündete, die Familie bereits am nächsten Morgen zu verlassen. Sie werde gleich weiterreisen, wohin wisse sie noch nicht, sie werde sich melden und ihre Sachen abholen lassen. Schon beim Frühstück fehlte Rebecca. Meine Eltern gaben vor, es sei sehr spät geworden und sie wolle ausschlafen. Da ahnte ich noch nicht, dass ich sie nicht wiedersehen würde.
„Noch einmal kommst du mir nicht abhanden.“ Langsam ziehe ich sie zurück ins Bett. Sie wehrt sich, doch ich bin stärker als sie. Während wir uns ein weiteres Mal lieben, sehe ich den Strand vor mir. Sehe mich, wie ich die Arme ausbreite, sehe Rebecca lachend auf mich zulaufen, in der Hand das Tuch, das sie um meinen Hals schlingen wird, meine umwerfende Amme.
©Martin Bensen
Manchmal kommt eins zum anderen: in einer Geschichte wie im wirklichen Leben. Eigentlich wollte ich ein echtes „Ammenmärchen“ schreiben, mit der Betonung auf Märchen und naiv in Sachen Liebe. Doch als ich dann nach „Amme“ googelte, war mir die überkommene und doch reale Bedeutung plötzlich wieder bewusst und noch während ich über mein „Märchen“ nachdachte, brachte mich der gewünschte Name meiner Ammenfigur auf eine ganz andere Spur. Wikipedia sagt zur Bedeutung von „Rebecca“: „Der Name stammt aus der Tora: Die Frau Isaaks heißt dort Rebekka (hebr. רבקה Rivkah), mit der Bedeutung ‚die Bestrickende‘ oder ‚die Verbindung Schaffende‘.“ Und so entstand mein ganz anderes Ammenmärchen, das – nomen est omen – selbstverständlich nichts mit irgendwelchen realen Menschen und Begebenheiten, noch mit mir selbst zu tun hat.