Onkel Hans zeigt mir die Welt

Mein Onkel Hans war Architekt. Später im Ruhestand wurde er krank. Am Ende hatte er keine Chance und keine Kraft mehr. Onkel Hans war ein lebenslustiger, kultivierter, zugleich allem Kulinarischen zugewandter Mensch, natürlich sah man ihm das auch ein wenig an. Mit seiner feinen Art passte er nicht recht in unsere westfälische Bauernlandschaft. Seine filigrane Brille, seine sanften Gesichtszüge, der Genießermund und das sorgsam frisierte, blonde Haar – der blonde Hans, Hans im Glück, was machte so einer in dieser nach Gülle stinkenden, von Schweinemast dominierten Gegend? In meinem Leben tauchte er auf, als ich etwa vier Jahre alt war. Wir waren zu Besuch in seiner Wohnung, Tante Maria war auch da. Die Beiden waren in Hochzeitsvorbereitungen, und ich sollte ihr Blumenkind sein. Aber erst einmal wolle er mir die Welt zeigen, sagte Onkel Hans mit einem Augenzwinkern. Ich ahnte nichts Böses.


„Na, willst du mal das Meer sehen?“, fragte er, als ich an der Wand im Flur stand und zu den gerahmten Schwarzweißfotos hochblickte.
„Au ja!“
„Dann pass mal auf!“ Onkel Hans stellte sich hinter mich, presste seine Handteller links und rechts gegen meinen Kopf und stemmte mich auf diese Weise in die Höhe. Ich weiß noch, wie der Schmerz durch meinen Hals fuhr und ich zum Glück reflexartig seine Handgelenke umfasste, mich daran noch höher zog wie bei einem Klimmzug, das Bild an der Wand nun auf Augenhöhe, um wie in einem Fahrstuhl wieder zu Boden zu sausen. Immerhin ließ mich mein Onkel nicht fallen.

Das Erlebnis verstörte mich. Auf der Hochzeit war ich ein miserables Blumenkind. Beim Betreten der Kirche glitt mir das Körbchen mit den Blüten aus der Hand. Ich schämte mich, fühlte mich wie gelähmt, einige Leute blickten mich böse an. Später musste ich die schwere Hochzeitskerze halten, doch immer geriet sie mir schräg, sodass heißes Wachs heruntertropfte, auch als wir für den Fotografen posieren mussten, was so lange dauerte, dass ich zu weinen anfing und damit meine Qualen nur noch weiter hinauszögerte; schließlich war ein Hochzeitsfoto nicht irgendein Foto. Trotzdem mochte ich Tante Maria und Onkel Hans. Und sie mochten mich wohl auch.

Ab und zu zeigte er mir seine Entwürfe. Auch den für das Haus, das er bald für Tante Maria und sich bauen wollte. Als Architekt zeichnete er nicht nur Gebäude, sondern auch Bäume und Figuren, die Menschen sein sollten, aber aussahen wie schlanke Brummkreisel; sie hatten keine richtigen Köpfe und keine Füße und schienen deshalb leicht über dem Boden zu schweben. Auf der Zeichnung für sein Haus schwebten gleich vier Figuren, zwei von ihnen waren kleiner. Das seien seine Kinder, schmunzelte er, noch seien sie im Himmel und schauten zu uns herab.
„War ich auch mal da oben?“, fragte ich ihn und blickte zum Fenster. „Und können die Kinder durch das Dach kucken?“
Onkel Hans grinste nur und zog an seiner Pfeife. Ich roch den Rauch gerne. Er war süß wie Vanille. Ich mochte Vanillepudding. Damals noch.

Den einzigen Urlaub meiner Kindheit am Meer machte meine Familie mit Tante Maria und Onkel Hans. Ganz früh am Morgen fuhren wir los und waren schon vor Mittag in Scheveningen, an der holländischen Nordseeküste. Damals war ich bereits älter und hatte inzwischen zwei Cousinen, ein Cousin war noch im Bauch von Tante Maria. Ich konnte gerade schwimmen und sprang deshalb gleich ins Meer. Onkel Hans kam lieber mit, denn die Wellen waren ziemlich hoch. Ein ums andere Mal geriet ich bei meinen Versuchen, auf den Wellen an den Strand zu gleiten, unter Wasser und wurde zu Boden gedrückt. Ich schluckte so viel Salzwasser, dass mir nachher schlecht war. Onkel Hans machte es besser, juchzend rollte er sich zu einer Kugel zusammen, sobald eine Welle anrollte und als sie ihn überspült hatte, sprang er hoch, kicherte wie ein Kind und das Spiel begann von vorne. Den Rest meiner Übelkeit besorgte die heiße Sommersonne und der fehlende Sonnenschutz. Wir alle bekamen einen Sonnenbrand, meine Tante die Lippen voller Herpesbläschen, und ich zusätzlich einen Sonnenstich. Obwohl mir schlecht war, aß ich einen großen Becher Vanillepudding aus dem Supermarkt – das Weitere war unabwendbar, das Geräusch der Entladung wie eine Lautmalerei des Pudding-Markennamens.

Zum Glück ging es mir besser, als wir anderntags im benachbarten Katwijk essen waren. Über eine Stunde mussten wir an der Bar warten, obwohl Onkel Hans reserviert hatte. Andere Gäste hatten nicht so viel Geduld und wechselten „nach unten“ in die einfachere Pizzeria. Doch Onkel Hans wollte oben bleiben. Schließlich war es soweit, wir wurden „gesetzt“. Hochnäsige Kellner reichten uns Menükarten, Onkel Hans eine Weinkarte. Meinen Eltern fiel beim Anblick der Preise die Kinnlade runter. Onkel Hans grinste mit einem spitzen Mündchen, schnalzte vergnügt mit der Zunge und bestellte großzügig für Tante Maria, meine beiden Cousinen und sich ein Essen in drei Gängen, dazu eine Flasche Wein, zweimal Saft und gleich zwei Flaschen Mineralwasser für den ganzen Tisch. Immerhin bekamen meine Brüder und ich Schnitzel mit Pommes und Limo, meine Eltern begnügten sich mit weniger. Onkel Hans ließ es sich schmecken, orderte noch „een beetje van de saus“, oh ja, er konnte Holländisch, nicht nur Plattdeutsch, was zwar ähnlich klang und an der Grenze, wo er wohnte, noch verstanden wurde, hier aber eher nicht. Der eilfertige Kellner gab, während er uns mit einer Hand auf dem Rücken und mit streng zusammengekniffenen Lippen bediente, seltsame Laute von sich, so etwas wie einen unterdrückten Husten, der aber wie ein ständiges dumpfes Klopfen aus seiner Brust klang und sich irgendwie anhörte, als tadelte er sich oder uns in einem fort. Ein Tick sei das, sagte Onkel Hans, oder etwas mit seiner Gesundheit, vielleicht habe er ein Loch in der Lunge, eine Kriegsverletzung, gottseidank sei er höflich zu uns, was längst nicht alle Holländer seien, denn wir Deutsche hätten schließlich Krieg gegen sie gemacht, nein nicht die Erwachsenen am Tisch, die seien schließlich noch Kinder gewesen damals – „eine schlimme Zeit“. Das sagte auch meine Oma immer, wenn sie vom Krieg erzählte, wenn auch längst nicht alles.

Später, als ich zusammen mit einem Freund Gitarre spielte und sang, durften wir Onkel Hans in seinem Tonstudio besuchen, das er sich in seinem Keller eingerichtet hatte. Anders als unser Keller, in dem vor allem Einmachgläser, Kartoffeln und Getränke lagerten, war der von ihm trocken, wohnlich und vollgestopft mit Technik: eine große Bandmaschine, ein Mischpult mit 16 Spuren, etliche hochwertige Mikrofone auf Ständern. Wir nahmen einige Songs auf, er mischte sie ab, wie immer seine Pfeife schmauchend – wir unsere Selbstgedrehten. Bald war der ganze Raum voller Rauch. Ob wir auch „Dope“ hätten, fragte er beiläufig, während er an den Reglern zog und drehte. Zu gerne hätte ich ihm welches angeboten, so sehr freute ich mich über seine kumpelhafte Art, seine Toleranz, auch jetzt wieder, aber wir waren Schisser, wagten es nicht einmal, Haschisch übers Venn, über die „grüne Grenze“ zu schmuggeln, was im Winter besonders einfach war, wenn die sumpfigen Teiche zugefroren waren und man auf Schlittschuhen auch noch schnell unterwegs war. Leider kannte sich auch der Grenzschutz mit dieser Art des Wintersports aus.

Manchmal stellte ich mir Onkel Hans bedröhnt vor, etwa in der Kirche, wenn er an den Mikrofonständern schraubte, sie so positionierte, dass er den ganzen großen Kirchenchor schon vor Ort bestens abgemischt aufnehmen konnte, sah ihn förmlich vor mir, wie er mit geröteten Augen hinter seinem Mischpult saß, vielleicht noch einmal zu einem Mikro wieselte, um es noch etwas besser einzustellen. Wieso besorgte er sich den Stoff nicht einfach selbst, so wie den billigen Kaffee, den meine Eltern auch ganz nah an der Grenze kauften, die preisgünstigere Tankfüllung inklusive. Onkel Hans würde man an der Grenze mit Sicherheit durchwinken, dem Drogenhund sogar noch eins auf die Schnauze geben, wenn er je von Weitem anschlüge, dann könnte er uns gleich was mitbringen, dann würde hier in seinem Studio ein anderer Nebel wabern.

Auf seiner Beerdigung kein Wort über all das, über Onkel Hans, wie ich ihn in Erinnerung habe, über ihn als liebenswerten Menschen. Wenn schon, hätte ich, sein Neffe, eine Rede halten müssen, vielleicht hätte sie Tante Maria sogar zum Lachen gebracht, seine inzwischen längst erwachsenen zwei Töchter, seinen Sohn, meine Eltern, meine beiden Brüder. Die bestimmt. Den Pfarrer sicher nicht, der hatte es nur von Gott und Gnade und dem Geschenk des Lebens wie des Todes, der Heilsgewissheit für alle, die an den einen wahren Gott glauben. Ich stellte mir vor, wie ich mir als Kind vorgestellt hätte, wie Onkel Hans vom Himmel herab sähe, durch das Dach des Gebetssaals hindurch. Jetzt als Erwachsener, stellte ich mir vor, wie er, statt den langweiligen Worten des Priesters zu lauschen, im Himmel lieber noch „een beetje van der saus“ bestellt und auf unser Wohl anstößt.

Auf meiner Beerdigung wird kein Pfarrer sprechen, vielleicht mein Freund, der evangelische Geistliche. Ich bin aus der katholischen Kirche ausgetreten. Gar nicht mal so lange her. Nicht, weil ich nicht mehr an Gott glaube, sondern weil ich die Kirche mit allem, was in ihrem Namen geschehen ist, als gottverlassen ansehe.
Mit Onkel Hans habe ich mich darüber nie unterhalten, auch wenn ich die Gespräche mit ihm immer genossen habe, seine sich mit kurzen, stotternden „Ähs“ anbahnenden Wortfindungen, seinen hintersinnigen Humor, mit dem er auch politischen Streit umschiffte, seine mitunter schlüpfrigen Witze, die bei meiner Tante Maria ein errötendes Abwinken und ein tadelnd gehauchtes „Hans!“ provozierten.

Doch, ich bin ganz sicher: Mein Onkel Hans hat mir die Welt gezeigt. Eine freundliche, tolerante Welt. Wir hatten einige Sessions zusammen – nur einen Joint haben wir leider nie miteinander geraucht.

©Martin Bensen