Als Jakob Wecker pünktlich um Mitternacht von seiner einsamen Kneipentour zurückkommt und nur noch in sein Bett fallen will, sieht er sich selbst schon darin liegen. Aber nichts Lebendiges scheint an seinem Ebenbild zu sein, weshalb er nicht allzu sehr erschrickt, sich gleichwohl wundert, wie er oder der, welcher eine exakte Kopie seiner selbst ist, dort zu liegen gekommen ist. „Liegen“ ist wohl der falsche Ausdruck: Das, was unter der gelüfteten Daunendecke im Licht der Nachttischlampe zum Vorschein kommt, wirkt wie eine Folie, ein lebensgroßes Foto, eher schwarzweiß als farbig, mit der Kontur eines Körpers, eben seines Körpers.
Jemand hat sich einen Scherz erlaubt. Aber wer? Er lebt allein, hat keine Angehörigen mehr und niemand hat Zugang zu seiner kleinen Wohnung. Der Alkohol, denkt er, eine Halluzination. Hat er nicht mit seinem Thekennachbarn über alte Partys gesprochen und darüber herzlich gelacht, über die Partykeller der 70er Jahre, über diese Tür mit dem lebensgroßen „Bravo-Starschnitt“ von Mark Spitz, nur in Badehose und mit sieben Olympia-Goldmedaillen behängt? Hatte er damals, als Jugendlicher, nicht schon gedacht, dass ein Starschnitt bei aller Verehrung auch eine verräterische Seite hat, etwa die, dass Mark Spitz, der großartige, nur mit knappgeschnittener Stars-and-Stripes-Badehose bekleidete Gold-Schwimmer mit dem markanten Schnäuzer, ganz schön klein ist, jedenfalls kleiner als er, der Schlaks von fast zwei Metern? War ihm das nicht lächerlich vorgekommen? Musste das nicht lächerlich sein, weil die Mädchen nur Augen für den Fotokerl hatten und nicht für ihn? Damals hatte er nur gefühlt, was später mehr und mehr Erkenntnis wurde und seinen Neid vollends besiegte: dass exzessives Ablichten, ständige Hochglanz-Präsenz und der ganze Rummel um Stars und Idole diese regelrecht abnutzten, verblassen und stumpf werden ließen, zu bloßen Abziehbildern ohne Wert, jedenfalls in seinen Augen. Das ging so weit, dass er davon überzeugt war, dass jeder übermenschlich inszenierte Publikumsliebling nicht nur seine Seele, sondern auch sein Leben verkauft, dass die bloßen Abbilder, die ganzen erfundenen Geschichten, sich nicht nur von jeglicher Wahrheit lösen, sondern die wahren Menschen, die sie davor noch waren, quasi ersetzen. Jeder, der aus diesem Teufelskreis ausbrechen will, wird von den Medien erst skandalisiert und dramatisiert und dann gefressen, existiert auf diese Weise also nicht mehr, medial und real, Fälle von Suizid inklusive.
Über diese Gedanken steht Jakob Wecker immer noch unschlüssig an seinem Bett, was ihm jetzt lächerlich vorkommt.
„Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch?“, beginnt er, einem Erinnerungsimpuls folgend, zu singen. Was hat er sich immer geärgert, wenn sie in der Schule die deutsche Fassung des französischen Kanons sangen und alle hämisch auf ihn starrten, die Zeigefinger in seine Richtung rieben, ihn so verspotteten, als ob er was für seinen Vornamen könnte. Was tut er hier? Er bricht ab, will nach dieser seltsamen Fotofolie greifen, als diese wie von einem Windstoß nach oben wirbelt, in Wellenbewegungen senkrecht auf die Füße kommt und erstarrt. Stabil und fest steht sie da, aber nicht plastisch, sondern zweidimensional, und genauso groß wie er. Er versucht noch einige Male, sie zu fassen, doch sie biegt sich einfach durch, weicht seinen tapsigen Greifattacken auf eine leichte, fast anmutige Art aus. Es wirkt, als tanze sie, und er muss an eine Ballettaufführung denken, daran, wie leicht die Tänzerin von ihrem Partner gehoben in der Höhe schwebt, als wäre sie eine Pappmaché-Figur.
Erst jetzt schaut er genau in das Gesicht seines Alter-Egos. Er kann sich nicht erinnern, einmal so abgelichtet worden zu sein, überhaupt existieren nur wenige Fotos von ihm und auf fast allen sieht er unglücklich aus. Sein Ebenbild nicht. Lächelt es nicht sogar? Oder lacht es ihn gar aus? Kurz denkt er daran, das helle Deckenlicht anzuschalten, lässt es dann doch, weil ihn eine bleierne Müdigkeit befällt.
Mach doch, was du willst, du Abziehbild, denkt er und legt sich so eilig in sein Bett, als fürchte er, die Folie könne ihm zuvorkommen. Doch sie verharrt reglos in der Nähe des Fensters. Als er das Licht löscht, scheint fahles Mondlicht durch die Vorhänge – und auch durch die luzide Gestalt hindurch. Jakob hat noch nie Angst vor Geistern gehabt, auch nicht als Kind. Er ist Realist, hält sich an Stoffliches und Handfestes, an Zahlen. Was nicht logisch und be-greifbar ist, existiert nicht.
Der da auch nicht, denkt er, die da, das da …
Als der Morgen graut, wacht er kurz auf, erinnert sich sofort an die seltsame Begegnung, lässt seinen Blick durch das Zimmer schweifen, sieht erwartungsgemäß nur das Zimmer und alle vertrauten Dinge, wischt den seltsamen Traum beiseite und schläft wieder ein. Eine helle Frühlingssonne weckt ihn später. Bis auf einen leichten Kopfschmerz fühlt er sich fit. Wie eigentlich immer nach Alkohol. Obwohl er nur selten ausgeht, was er auch nur tut, um vor sich selbst nicht als soziophober Außenseiter zu gelten, kann er viel vertragen. Jetzt freut er sich auf einen großen Pott Kaffee.
„Das dachte ich mir.“
Wer spricht denn da? Jakob sieht seine Lieblingstasse auf dem Küchentisch stehen. Es dampft aus ihr. Er riecht den Duft von frischgebrühtem Kaffee, sieht das rote Licht der Kaffeemaschine, die beschlagene Glaskanne mit der zweiten Portion, genauso, wie er es gewohnt ist und wie er es jeden Morgen handhabt, zwei Tassen Kaffee und das Leben kann beginnen. Oder vielmehr der Trott. Sein Job beim Finanzamt ist eintönig, aber er liebt Zahlen, fragt nicht nach den Schicksalen dahinter, die Menschen sind ihm egal. Auch seine Kollegen hält er auf Distanz, die meisten sind ohnehin wie er: lichtscheue Gestalten, die in Bürozellen sitzen und sich hinter Computerbildschirmen verschanzen wie früher hinter Aktenbergen. Jetzt hat er es noch besser, jetzt ist Homeoffice angesagt, wegen Corona. Das ist ihm ganz recht, er muss nicht raus, wenn er nicht will, und er kann sich die Zeit einteilen, wie es ihm passt, Hauptsache, die Dinge werden termingerecht bearbeitet, da ist er penibel.
„Also war ich so frei“, kommt es vom Tisch.
Ist da nicht …? Tatsächlich! Ein dünner Faden vor dem Fenster, auf dem Stuhl gegenüber von seinem Platz, der dampfenden Kaffeetasse, ein Faden, der nicht von der Decke hängt, sondern auf dem Stuhl sitzt. Jakob geht auf den Tisch zu, aus dem Faden wird ein Profil, aus dem Profil eine flache Gestalt. Da sitzt er, natürlich nicht er, sondern sein zweidimensionales Ebenbild, ein Fotoschnitt, lebensgroß, mit exakt seinem Morgenmantel – oder vielmehr der Abbildung davon. Und jetzt kann dieses Gespenst auch noch sprechen, Kaffee machen? Fassungslos plumpst Jakob auf seinen Stuhl. Er riecht das Bohnenaroma, spürt die Wärme der Sonne auf seiner Haut, die kühle Oberfläche des Resopaltisches, alles ist real – dieser 2D-Jakob auch?
„So real wie du“, sagt 2D-Jakob.
Seine Stimme, seine nüchterne Art zu sprechen – das ist Jakob Wecker. Sogar die Lippen bewegen sich, wenn auch eher wie die holografischen 3D-Bildchen aus seiner Kindheit, die man hin- und herschwenken musste, um den plastischen Effekt zu sehen.
„Oder so irreal wie du.“
„Aber …“ Mehr bekommt Jakob nicht heraus. Surreal kommt ihm in den Sinn, das Bild mit den zerfließenden Uhren von Dalí.
Im folgenden erklärt ihm 2D-Jakob, was passiert ist. Mit wachsender Unruhe vernimmt Jakob, dass etwas im Gange sei, dass die Welt nicht mehr jene sei, die er zu kennen glaube, die ohnehin lächerlich begrenzte seines Daseins, dass selbst seine geliebten Zahlen keine Sicherheit gäben, weil es in Wahrheit tausende Dimensionen gebe und ebenso viele Gesetzmäßigkeiten, dass er seinen Kaffee trinken könne, dies aber unwesentlich sei, wie eigentlich alles, wie er – wie Jakob Wecker selbst.
Unwesentlich. Das sperrige Wort hämmert sich in seinen Verstand. Im nächsten Moment findet er sich in seinem Bett wieder, erst erschrocken, dann erleichtert. Ist das alles doch nur ein Traum gewesen, ein völlig verrückter, surrealer Traum? Es ist hell, er will aufstehen, er zerfließt.