Wenn man viele Jahre Familien-Urlaub in Italien macht, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, auch dort einmal ärztliche Hilfe zu benötigen. Eine Entzündung, ein gebrochener Arm oder Zeh – auch ein „deutscher Arzt“ vor Ort überweist einen dann gerne an das nächste Krankenhaus, genauer: die Notaufnahme. Pronto soccorso heißt sie und ist für Ausländer die einfachste, nebenbei auch billigste, weil kostenfreie Möglichkeit einer medizinischen Behandlung. So war es jedenfalls noch vor zehn Jahren. Dabei muss es nicht einmal ein Notfall sein. Nicht einmal ein Fall muss es sein. Manche Einheimische habe ich in Verdacht, aus ganz anderen Gründen in den Pronto soccorso zu kommen. Oder warum sonst bringen sie Picknickkörbe und die ganze Sippe mit? Wie zu einem Vergnügen, einem Schauspiel oder einer Oper. Wie in die Arena di Verona.
Ich weiß nicht, ob es immer noch so ist: In jenem Krankenhaus, das wir leider etwas zu oft aufsuchen mussten, beginnt die Notaufnahme für gehfähige Besucher zunächst in einer Halle. Man meldet sich an und sucht sich einen Platz. Soweit wie in Deutschland. Doch in diesem Pronto soccorso sind die Sitzplätze des Wartebereichs nicht unterteilt, es gibt keine Nischen, Pflanzen, Spielecken oder kleine Tische. In dieser Halle sind alle Sitzreihen nach vorne gerichtet, wie in einem Kino oder Theater, nur nicht so bequem. Ganz vorne ist ein abgesperrter Bereich, eine kahle Wand mit einer Uhr, weiter links eine schwere Schwingtür, die immer wieder aufgeht, um Patienten aufzunehmen, meist ruft eine Ärztin oder ein Arzt den Namen auf, woraufhin oft eine ganze Gruppe aufspringt und mit Kinderwagen, Rollstuhl und was auch immer die Behandlungszone betritt, oft schnatternd und gestikulierend, die älteren Frauen fast immer ganz in schwarz, mit Tüchern über dem Kopf, als ginge es schon um den Tod und nicht mehr um das Leben. Sie alle verschwinden hinter der Tür, während von hinten weitere Menschen, ganze Horden, ihre Plätze einnehmen.
Dann geschieht etwas. Blaue Reflexe flackern über die Wand. Wenig später öffnet sich rechts eine deckenhohe Schiebetür nach draußen, gibt den Blick auf einen Rettungswagen frei. Dann rollt eine Notfalltrage herein, geschoben von drei Sanitätern mit Mundschutz, einer von ihnen hält eine Infusionsflasche hoch, die über einen Schlauch mit dem armen Menschen auf der Trage verbunden ist, den man aber nicht sieht, weil er in einen roten Rettungssack verpackt ist. Ein Raunen geht durch die Schar der Wartenden, wir sitzen inzwischen in der dritten Reihe, verfolgen gebannt, wie sich die Schwingtür links öffnet, ein Arzt in OP-Montur mit Haube , aber ohne Mundschutz erscheint, der mich an eine „Samenzelle“ in Woody Allens „Sex“-Film erinnert, nur sein Gesicht schaut heraus, seine Miene gar nicht besorgt, eher schalkhaft, mit großen Augen, sicher eine optische Täuschung. Hinter uns klatscht jemand in die Hände, einige machen es nach, für einen Moment klingt es, als wollten die Wartenden applaudieren. Ich blicke mich um, sehe in ernste Gesichter. Natürlich täusche ich mich auch jetzt. Die Tür schließt sich. Ruhe kehrt ein, gedämpfte Stimmen, wie in Ehrfurcht. Die „Bühne“ liegt still da, nur der Zeiger der Uhr ist in Bewegung.
Hinter mir raschelt es, und nur Sekunden später rieche ich Rosmarin, Oregano, Knoblauch, den Duft von Hefegebackenem und Gegrilltem. Mein Magen knurrt. Wie viel lieber wäre ich jetzt in unserem Ristorante oben auf dem Berg, mit dem Blick auf das Tal und das Meer am Horizont. Weit und breit kein Automat, nicht einmal Getränke gibt es im Pronto soccorso. Kein Wunder, dass alle etwas dabei haben; sie verstehen einfach zu leben, die Italiener.
Unser Sohn wird quengelig, sein Gesicht ist rot von Fieber. Meine Frau seufzt. Sicher würden wir jetzt noch länger warten müssen. Und es ist verhext: Wieder öffnet sich die rechte Schiebetür, wieder steht ein Rettungswagen da, diesmal ohne Blaulicht. Ganz ruhig schieben die Sanitäter die Fahrtrage vorbei. Weitere Menschen folgen ihnen von draußen, sie wirken wie Angehörige und können unmöglich mitgefahren sein, aber vielleicht sind sie dem Rettungswagen gefolgt bis zur Noteinfahrt. Das ganze Ensemble verschwindet wie eine andächtige Prozession hinter der Schwingtür.
Im Publikum rumort es. Alle reden durcheinander, aufgeregt, nervös. „E morto“, höre ich. „Povera cosa“, „Santa madre di Dio …“ Sicher bekreuzigen sich einige, küssen ihre Finger, ihr Kreuz am Rosenkranz, ich will es gar nicht sehen. Derweil geht das Rascheln unvermindert weiter, das Knuspern, verhaltenes Räuspern, ein Kind lacht und verstummt abrupt, wird wohl „zum Schweigen gebracht“. Weil es anfängt zu dämmern, gehen vorne die Lichter an, weiter hinten bleibt es jedoch dunkel. Ob sie Kerzen mitgebracht haben? Eher wohl ihre Handys, die schimmern auch, wenigstens solange, wie vorne nichts Neues passiert.
Wie aus dem Nichts ertönt Musik, schöne Musik. Die Bühne ist plötzlich in blaues Licht getaucht, in das sich filigrane, sanft gestrichene Geigentöne einweben. Die Uhr ist nach rechts gerutscht und viel größer jetzt. Davor sitzt eine dunkle Gestalt. Ein Lichtspalt fällt auf sie, wird breiter, kommt von der Tür, die jetzt keine Schwingtür mehr ist und durch die jetzt der Schatten einer Frau erscheint, die ins blaue Licht tritt und ein rotes Kleid trägt. Sie geht nicht auf die Gestalt, einen alten Mann, zu, sondern hadert. Und jetzt erkenne ich auch die Melodie: die Ouvertüre von „La traviata“.
Unser Sohn ist eingeschlafen, zwischen uns liegend, den Kopf auf dem Schoß meiner Frau. Sie lächelt mir zu, greift über ihn hinweg nach meiner Hand. Wie schön sie ist! Dieser Glanz in ihren Augen. Wo kommt er her? Hinter uns haben sie tatsächlich Kerzen angezündet und sehen gebannt nach vorne; auch in ihren Augen, alten wie jungen, glitzert es. Sie weinen, sind ergriffen. Ich weiß: Wenn die Ouvertüre endet und der Gesang beginnt, wird wieder Leben in sie kommen. Das Rascheln und Knuspern wird weitergehen, aber immer innehalten, um einer Arie zu lauschen, die sie dann umso lauter feiern mit „Brava“ und „Bravo“ und für alle mit „Bravi“, viel lauter auf ihren billigen Plätzen als unten im Parkett, wo die Reichen sitzen, die Eitlen und wahrhaft Betuchten in ihren Zegna-Anzügen, den Kleidern von Gucci und Prada, steif und beherrscht, sich oft noch nicht erheben, wenn die Tribüne schon vor Begeisterung lodert, oben burleskes Leben, unten todernste Erstarrung, allenfalls höflicher Applaus mit funkelnden Juwelen, die nicht klimpern – schon bei den legendären Beatles-Konzerten nicht.
Wie von Ferne höre ich unseren Familiennamen. Etwas ungewohnt betont, aber erkennbar. Wir brauchen einen Moment, dann dürfen auch wir hinter der Schwingtür verschwinden.