Schweres Herz

Sie haben sich alle zurückgezogen. Seit Tagen – oder sind es Wochen? Eine gefühlte Ewigkeit hat der Besitzer des Herzens keinen Gast mehr zu sehen bekommen. Nur noch seine Frau ist an seiner Seite. Oder auch nicht. Sie hat sich verändert. Schleichend. Erst wich sie seinen Küssen aus, dann selbst kleinsten Berührungen, am Ende auch seiner puren Anwesenheit. Er zog es irgendwann vor, in der Lobby zu übernachten. Auf diese Weise ist er eigentlich nur noch im Dienst. Einen Portier hat er ja nicht mehr und auch das restliche Personal hat er irgendwann wegschicken müssen. Es gab ja nichts mehr zu tun. Auch nicht für ihn. Was machte er also hier? Ein wenig putzen, hier und da etwas reparieren, eine kaputte Glühbirne austauschen. Wollte seine Frau nicht renovieren? Warum liegt sie seit Tagen in ihrem Bett? Nur noch für Essen schleicht sie wie ein Schatten in die Küche, meistens erst spätnachmittags, eine Mahlzeit reicht ihr, eine kalte, ohne großen Aufwand, ohne sich auch nur eine Minute länger als nötig dort aufzuhalten – dort, wo sie ihm begegnen könnte.

Er meidet sie jetzt auch. Dabei versteht er immer noch nicht, warum sie ihm aus dem Weg geht. Als sie noch mit ihm sprach, sagte sie mal, dass er ihr nicht böse sein solle, es habe nichts mit ihm zu tun. Aber mit was dann? Oder wem? Die Frage schwebt ohne Antwort zwischen ihnen. Manchmal wird er wütend; auch für ihn ist die Situation nicht einfach. Er hat Verantwortung für das Ganze. Gewiss, sein Herz ist anders als alle anderen Hotels. Anders als viele dort draußen hat sein Herz nicht schließen müssen. Seine Gäste genießen Wohnrecht auf Lebenszeit. Das hat ihn schon oft in Bedrängnis gebracht. Denn die Zahl der Zimmer ist begrenzt, sein Herz kann nicht erweitert werden. Die Aussagen der Sachverständigen sind eindeutig. Im Gegenteil: Er müsse ein wachsames Auge haben und beizeiten eingreifen, denn der Zahn der Zeit nage an allem. Nur nicht an den Gästen, will es ihm scheinen. Warum sind sie nicht dankbarer? Warum haben sie sich ohne Ausnahme zurückgezogen, sich eingeigelt? Von denen, die dort draußen nicht existieren können, versteht er es ja. Seine Nachtschattengewächse, Untoten gleich und doch überaus lebendig, wenn er sie besucht. Wenn … Sollte er das vielleicht tun? Andererseits fürchtet er, dass er sie anstecken könnte. Er, der als einziger rauskommt und sieht, wie sich die Welt verändert.

Wem das Leben nichts mehr anhaben kann, weiß er indes. Und er ist immer wieder erstaunt, dass diese Frau in seinem Herzen ist, als lebte sie noch. Um die Mitte der achtziger Jahre stand sie plötzlich vor ihm. Eine Ausnahmeerscheinung. Er war wie vom Donner gerührt, ahnte aber noch nicht, dass ihre Beziehung ein fortwährender Sturm werden würde. Sie hat ihn geprägt wie keine andere. Dafür hat sie von ihm genommen, was immer sie wollte. Wenn er ehrlich war, ging es ihm nicht anders. Du tust mir gut, sagte sie oft, wenn er in ihr war, sie ihn sich noch tiefer einverleibte, was ihn nur noch härter werden ließ, ihn verrückt machte, unter den Küssen ihrer vollen Lippen, die so fordernd und besitzergreifend waren wie die, die ihn unten umschlossen, sich öffneten und wieder umfingen. Und wenn er sich endlich heiß in ihr ergoß, am ganzen Körper schwitzend, erschien es ihm eine unfassbar betörende Weile, als würde er sich voll und ganz hingeben. Doch immer wenn das Beben nachließ, auch ihres, das oft zeitgleich oder nur wenig später einsetzte, ihn würgte, heiß und feucht, eruptiv und plötzlich loslassend, erschlaffend wie er selbst, strich kalter Hauch über ihre Körper und katapultierte die Beiden wieder in die Welt um sie herum, mit all ihrer Nüchternheit und Schwerkraft. Sie tat ihm gut. Ohne sie wäre er nicht der, der er ist. Jetzt, als er an all das denkt, überkommt ihn Verlangen. Und wie er sich in den Schritt fasst, durchaus schmerzhaft die pralle Ausbuchtung seiner Hose spürt, steht er vor der Tür – vor ihrer Tür.

Er muss nicht klopfen. Sie würde ihn nicht hereinbitten. Sie würde gar nichts tun. Auch jetzt sieht sie ihn nur an. Sah sie wirklich so aus? Waren ihre Augen so schwarz, ihr Mund so groß? War sie selbst so groß, dass sie ihn schon sitzend fast überragt? Oder spielt ihm seine Phantasie einen Streich? Er blickt an sich herunter, erschrickt, als er die nackte Haut sieht, ein blutroter, fast glühender Dolch ragt heraus, glänzend und zuckend. Im nächsten Moment ist er verdeckt, umhüllt von einer Hand. Er sieht an ihr entlang, dem Arm, ihrem nackten Körper, den Brüsten, dem kräftigen Hals, auf ihre glänzenden Lippen, die sich öffnen, ihre Augen, die geweiteten Pupillen, umgeben von rotglühender Haut wie Magma. Sie zieht an ihm, sanft und kräftig zugleich, schon ist er ihr nahe, riecht den Duft ihres Parfums, die Blumen des Bösen, und es ist, als hätte sie ihn nie verlassen. Ein Sog erfasst ihn, Gegenwehr zwecklos.

Er schreckt auf. Noch immer steht er vor ihrer Tür. Der Gang ist in das fahle Licht der Notbeleuchtung getaucht. Er sieht kaum etwas, aber er spürt es kühl und feucht in seiner Unterhose. Er schämt sich. Was, wenn ihn jemand beobachtet hat? Hat sich die Tür dort nicht bewegt? Das Zimmer der Herzdame – hat sie ihn ertappt? Ist sie eifersüchtig, weil er mit ihr eine unglaublich schöne Zeit, aber keine erotische Beziehung hatte? Keine körperliche jedenfalls… Gefühle sind immer ehrlich, nur die Art wie wir mit ihnen umgehen, sie zulassen oder verbergen, sie bekennen oder verschweigen, macht den Unterschied. Er war ehrlich zu beiden Frauen, bei der einen war es am Ende schmerzhaft, bei der anderen nie – nur ihr Tod, auch nach Jahren der Trennung… Wer sagt, dass Gefühle gleichbleiben? Können sie denn nicht verderben, verschimmeln, verschwinden? Ist das bei seiner Frau passiert? Er blickt auf, sieht den warmen Schimmer aus der Lobby wie den milden Schein der untergehenden Sonne. Wie gern wäre er jetzt am Meer. Nicht allein, sondern mit seiner Frau. Der Besitzer des Herzens braucht das. Er braucht Nähe, Kontakt, Leben. Wie eigentlich jeder Mensch. Es knackt im Gebälk, als der Schatten erscheint. Er steht reglos im Türrahmen zur Lobby. Vorsichtig geht der Besitzer auf die vertraute Silhouette zu. Seine Frau hebt langsam den Kopf, ihr Blick streift seinen Schritt, er schämt sich wieder, sie schüttelt den Kopf, lächelt aber, und streckt ihre Arme aus.

(Eine weitere „Herzgeschichte“ – Fortsetzung von „Voll das Herz„, „Friedvolles Herz“, „Herzdame“ und Eine Seele im Herzen.)

©Martin Bensen