Voll das Herz

Es sind nicht direkt ungebetene Gäste dadrinnen. Aber manche haben sich doch regelrecht eingeschlichen. Man kann ihnen gar nicht böse sein, im Gegenteil, sie haben es weder an Liebenswürdigkeit noch an Entgegenkommen fehlen lassen. Dennoch: Der Portier macht einfach einen verdammt schlechten Job, er weiß schon lange, dass nichts mehr frei ist, selbst die Besenkammer ist doch schon belegt. Bei einigen hätte er mal anklopfen können, nach so vielen Jahren, und nachsehen. Was ist zum Beispiel mit diesem ersten Gast, jener atemberaubenden Frau, die damals mit so viel Charme und Leidenschaft dort eingezogen war, in das größte Gemach? Was hat sie nicht alles angestellt dadrinnen, heftige Beben erzeugt und mit ihrer unersättlichen Liebe am Ende fast alles zu Bruch gehen lassen. Nach langem, schmerzvollen Hin und Her ist sie im hinteren Teil des Ostflügels untergekommen, in einer kleinen, dunklen Kammer, an der das pulsierende Leben schon seit Jahren vorbeizieht. Soll recht sein, die wilden Zeiten sind nicht ohne Spuren geblieben, die Schäden lassen sich bis heute nur mühsam kitten – wenn überhaupt.

Das Ganze hier ist ist sowieso auf Sand gebaut, immer wieder ohne Sachverstand und damit mehr schlecht als recht renoviert worden und alles andere als erdbebensicher. Wenn es ein Fundament mit einem richtigen Keller gäbe, lägen dort sicher auch Leichen. Doch immer noch geht es allen Gästen, selbst den langjährigen, recht gut, viele von ihnen lassen sich sogar regelmäßig in einem der beiden Vorhöfe blicken, wo sie um Brunnen und Beete flanieren und sich kleine Geschichten aus der Vergangenheit erzählen. Das alte Gemäuer kennt all diese Geschichten, aber es saugt sie doch immer aufs neue in sein poröses Mauerwerk auf und es ist, als ob einiges davon wie heilender Mörtel in manchem Riss wirkt, als ob Erinnerungen nicht nur die Wände stabilisieren, sondern auch das große Ganze erst richtig zusammenhalten. Und da, wo sie in ihrer ganzen Fülle nicht mehr aufgenommen werden, gehen sie auf die Reise, mit der Post, den Lieferanten, der Müllabfuhr, verschwinden im Alltag des Lebens.

Der Portier ist unglaublich, hat seine Verantwortung schon wieder abgegeben. Soll sich der Besitzer doch damit herumschlagen: Eine junge Frau hat eingecheckt, sitzt jetzt in der Wartehalle des Westflügels, wo reges Treiben herrscht. Warum hat man sie hier willkommen geheißen, ihr aber trotzdem keinen Zimmerschlüssel ausgehändigt? Nein, die Kammern seien alle fertig, es gebe schlichtweg keine freien mehr. Die Frau fühlt sich betrogen. Sie hat zwar nur leichtes Gepäck dabei, aber sie würde sich gerne frisch machen. Und sie wüsste dann doch gerne, woran sie ist. Ihr wütender Impuls, gleich wieder abzureisen, ist durch zwei Dinge besänftigt worden: Sie hat eine Einladung ins Restaurant erhalten, für ein Abendessen mit freien Getränken ihrer Wahl – auf Kulanz und Kosten des Hauses. Das Hochzeitsmenü sei zwar nicht ganz passend für eine Alleinreisende, aber dennoch vorzüglich, hat es geheißen. Der zweite Grund ist ein ganz profaner: Heute sei es schon zu spät für die Suche nach einem anderen Quartier, es würde sich schon was finden, da sei man sich sicher. Und wenn am Ende in den Privaträumen des Besitzers, so der schon eher kleinlaute Nachsatz…

Jetzt hat der Portier eindeutig seine Kompetenzen überschritten! Der Besitzer ist verärgert und verzweifelt zugleich. So könne es nicht weitergehen, es müsse endlich einmal Inventur gemacht und Ballast über Bord geworfen werden. Tabula rasa! Er hastet planlos die Gänge entlang, wagt es gar nicht erst, irgendwo anzuklopfen. Seine Wohnung hat kein Gästezimmer, seine Familie braucht alle Räume. Wo also soll die junge Dame übernachten? Vielleicht lässt sich irgendwo ein Nachtlager aufschlagen, im Waschraum, im Pausenraum des Personals… Unverrichteter Dinge stiefelt er zurück in die Lobby, doch die Dame sitzt bereits im Restaurant. Da wirkt sie jetzt ganz aufgeräumt, kein Wunder, sie habe schon das dritte Glas Gin Tonic, raunt ihm der Kellner zu. Der Kerzenschein tut ein übriges, eine schöne Frau, denkt der Besitzer, als er sich ihr nähert und schließlich an ihrem Tisch steht. Eine wahrhaft schöne Frau. Sie lächelt und bittet ihn, an ihrem Tisch Platz zu nehmen.

Es tue ihm furchtbar leid, fängt er an, doch sie legt den Finger über ihre sanft geschwungenen Lippen, schaut ihn dabei mit funkelnden, ganz bezaubernden Augen an. Ob man für ihn ein zweites Gedeck auftragen solle, wird er gefragt. Die Antwort bleibt er schuldig, zu fasziniert ist er von dieser Frau, dass er ebenfalls nicht bemerkt, wie der erste Gang des Hochzeitsmenüs für sie beide serviert wird, er blickt sie unentwegt an, greift mechanisch nach Fischmesser und Gabel, spürt den köstlichen Geschmack der Vorspeise auf seiner Zunge, verbindet das nun explodierende Wohlgefühl unmittelbar mit dem Liebreiz der Frau gegenüber. Zwei Flaschen Wein und fünf Gänge weiter ist er ihr hoffnungslos verfallen. Wieso passiert ihm das mit dieser Frau? Es ist doch gar kein Platz mehr frei… Keine Frage, es hat ihn erwischt, er will den neuen Gast nun hier behalten, unter allen Umständen – koste es, was es wolle.

Der Portier hat bereits Feierabend, das Küchen- und Servicepersonal verabschiedet sich gerade, Stille senkt sich über sein Herz. Aber keine Ruhe. Jetzt spürt er das leichte Zittern, ein leises Flimmern aus den Vorhöfen, Boden und Wände geraten beinahe unmerklich ins Wanken, der Puls kommt ein wenig aus dem Tritt. Mit weichen Knien schließt der Besitzer die Außentüren ab, löscht die meisten Lichter und geht verzagten Schrittes zu der Frau ins Restaurant zurück. Es wird einen Platz für sie geben, hier in seinem Herzen, er weiß noch nicht, wo und wie. Er weiß aber, dass es nur so fortbestehen wird.

©Martin Bensen