Eine Bewegung wie ein Lidschlag. Da war was. Ein Schatten im Augenwinkel. Schnell. Flüchtig. Er schaut zur Seite. Nichts. Natürlich ist da nichts. Der Besitzer des Herzens glaubt nicht an Übersinnliches. Dabei hat er mitunter durchaus den Eindruck, dass es in seinem Herzen spukt. Jetzt, beim spätabendlichen Glas Rotwein, ist es ihm egal. Der Tag ist einfach nur anstrengend gewesen. Obwohl der Hotelier heute niemanden wegen Vollauslastung abweisen musste, was ihm stets in der Seele wehtat. Immer wieder verirren sich Gäste hierher, oft am späten Abend oder sogar in der Nacht. Dann betteln sie übermüdet um eine Übernachtung, weil die nächste Unterkunft doch zu weit wäre. Nicht selten stellt er dann Notbetten ins Nebenzimmer des Restaurants, die die Gestrandeten nur allzu gern bereit sind anzunehmen. Denn das Herz ist so gut wie immer ausgebucht, die meisten Hotelgäste wohnen seit Jahren bei ihm. Und ausgerechnet diese treuen Bewohner haben ihm heute das Leben schwer gemacht. Dem einen war es zu kalt, der anderen schmeckte das Abendessen nicht und der nächsten war die Matratze plötzlich zu hart. Gewiss, sie alle haben mit der Zeit ihre Schrullen entwickelt, doch an diesem Tag schienen sie sich gegen ihn, ihren Gastgeber, verschworen zu haben. So viel schlechte Laune auf einmal verkraftet selbst der gutmütigste Mensch nicht.
Da sitzt er nun rechtschaffen müde am Kamin, dessen Feuer, ebenso wie er, kurz davor ist einzuschlafen. Gerade schenkt sich der Besitzer des Herzens einen letzten Gute-Nacht-Schluck ein, da nimmt er wieder diese schnelle Bewegung wahr, diesmal auf der anderen Seite der Lobby. Sein Personal ist längst im Feierabend, seine Frau schläft bereits, sie muss morgen früh raus. Alles Quatsch, denkt der Besitzer und leert sein Glas in einem Zug.
„Alles Quatsch?“ Eine männliche Stimme vom Sofa nebenan. Der Besitzer zuckt zusammen, blickt erschrocken auf die hohe Lehne. Ehe er aufstehen kann, um nachzusehen, erhebt sich eine Gestalt aus dem Ledersofa und kommt auf seine Sitzgruppe zu. Der Besitzer des Herzens ist perplex. Wie kommt dieser Mann hierher? Er hat doch längst abgeschlossen, alle Rolläden heruntergelassen. Wie jeden Abend.
„Haben Sie dort schon die ganze Zeit gesessen?“, fragt der Hotelier mit zittriger Stimme. Der Fremde setzt sich in den Sessel neben ihm.
„Ist das wichtig?“, fragt der Mann zurück. Erst jetzt sieht der Besitzer, dass die Konturen des Sessels durch den Körper des Fremden hindurchscheinen. Wer oder was ist das? Der Besitzer des Herzens ist wie gelähmt. Panik steigt in ihm auf. Hat er es nicht immer schon geahnt? Sein ganzes bisheriges Leben hat er den Gedanken an so etwas beiseite gewischt, für alles gab es am Ende immer eine plausible, natürliche Erklärung. Und doch: Mit welchem Recht kann er annehmen, dass es so etwas wie Übersinnliches nicht gibt? Was ist denn das überhaupt? Und was ist das andere, die Wirklichkeit. Was ist wirklich, was unwirklich?
Der Besitzer starrt das Wesen im Sessel fassungslos an. Der Mann dort drüben ist nicht lebendig, denkt er, er kann kein normaler Mensch sein. Ist er ein Geist?
„Meinetwegen“, sagt der Geist und lächelt dünn. „Jedenfalls nimmt mich endlich mal jemand wahr.“ Er streicht sich durch sein dünnes Haar. Alles an ihm ist dünn, alles ist transparent. Seine Gestalt ist schemenhaft und doch in wesentlichen Merkmalen zu erkennen. Und sie ist augenscheinlich hübsch, blond, athletisch. Wie die eines Engels.
„Kein Engel. Alles, nur das nicht.“, sagt der Mann. Seine Stimme klingt so dünn wie seine Erscheinung wirkt.
„Können Sie… Können Sie meine Gedanken lesen?“, fragt der Hotelier heiser. Der Mann winkt ab.
„Ist das denn wichtig?“, wiederholt er abermals seine Frage.
„Ich finde schon!“, ruft der Besitzer mit entgleisender Stimme. „Ich kenne Sie doch gar nicht! Ach was, nein, nein… Ich weiß ja gar nicht, wer oder was Sie überhaupt sind!“
„Nicht wichtig“, stellt sein Besucher mit ruhiger Stimme fest.
„Dann… dann lassen Sie mich doch in Ruhe!“ Der Besitzer ist jetzt ungehalten. „Ich will Sie nicht sehen! Ich geh jetzt ins Bett und morgen lache ich über meinen seltsamen Traum… “ Der Hotelier springt auf.
„Sitzenbleiben!“ Die Stimme klingt jetzt erstaunlich fest. Auch die Gestalt nimmt an Stofflichkeit zu. Jetzt sitzt ein sympathischer, altmodisch, aber gut gekleideter Mann in dem Sessel. Der Besitzer des Herzens plumpst erschrocken auf sein Polster zurück und starrt den Fremden wortlos an.
„Das hätten wir ja mal geklärt“, fährt der Mann fort, greift nach dem Glas und der Rotweinflasche auf dem Tisch und schenkt sich ein.
„Erstaunlich? Ja, vielleicht. Nein, eher nicht. Nicht für den Besitzer des Herzens. Sie haben mich ja hereingelassen. Sie sehen mich, also bin ich. Und das ist gut so.“ Der Mann prostet dem Hotelier zu und nimmt einen großen Schluck.
„Also, von Wein verstehen Sie was, das muss ich sagen. Über Ihre Herzensangelegenheiten müssen wir noch mal reden. Ein anderes Mal.“ Der Fremde trinkt erneut, schnalzt mit der Zunge und schmeckt dem guten Tropfen mit nachdenklicher Miene nach. Dann stellt er das Glas und die Flasche zurück auf den Tisch, lehnt sich zurück und faltet die Hände wie zum Gebet. Der Besitzer ist immer noch unfähig, sich zu rühren. Wie gebannt schaut er den Mann an.
„Wissen Sie“, sagt dieser mit angenehm sonorer Stimme, „es ist lange her, dass ich so etwas genießen konnte. Vor meinem Tod war nur noch Quälerei, kraftzehrende Entbehrung, unendlicher Schmerz. Wenn Sie mich fragen, war das schon vorher kein Leben mehr. Alles roch lange zuvor nach Tod. Es ist absurd: Ich, der Totgeweihte, verlor die Angst in demselben Maße wie sie bei meinen Liebsten, den Lebendigen, zunahm. Wirklich schlimm war aber: Jeder, der mich sah, erschrak. So wie Sie hier und jetzt, obwohl ich doch wieder wie das blühene Leben aussehe. Wir Menschen sind schwach: verdrängen den Tod, solange und wann immer es geht, aber wenn wir in seine Augen sehen, erschrecken wir buchstäblich zu Tode – und bestrafen damit den Totgeweihten, aber noch Lebenden. Als ob ich es nicht bemerkt hätte. Ich verstand sie ja, die Verzagten, die Mitleidenden um mich herum. Und doch tat es unsäglich weh. Von den vielen, die mich nicht mehr sehen wollten, gar nicht zu reden… “
Der Besitzer des Herzens kommt langsam zu sich. Die Worte des Fremden rühren ihn. Was ist dieser Schreck in der Abendstunde gegen das Schicksal dieses Mannes? Was ist mit dieser Seele? Warum erscheint sie mir hier? Was will sie von mir?
„Ein Herz“, nimmt der Mann die Gedanken des Besitzers auf. „Das ist doch das Herz hier, oder?“
„Ja, das ist das Hotel Herz.“ Der Gastgeber hat seine Stimme wiedergefunden. Der Tag musste ja kommen, an dem er seine Namensfindung bereuen würde.
„Nein! Tun Sie das nicht! Sie haben alles richtig gemacht. Die Außenwelt der Innenwelt der Außenwelt, in Abwandlung eines bekannten Buchtitels. Am Ende werden Sie verstehen, was ich meine.“
„Verraten Sie es mir!“ Die Augen des Besitzers funkeln nun beinahe angriffslustig. Der Mann neben ihm macht ihn neugierig. Der schaut ihn offenherzig an. Ein Lächeln umspielt seine Lippen.
„Sie haben es doch längst erraten. Ein Hotel mit Namen ‚Herz’…. Nichts im Leben passiert einfach so. Alles hat einen Sinn. Auch das Sterben. Das war der größte Moment, ein Triumph im Angesicht des Todes, freuen Sie sich darauf: Wenn wir sterben, beginnt die Welt erst zu leben. Erst dann begreifen wir, was das ist: die Welt. Das Leben. Warum wir da sind. Es klingt widersinnig, aber mit dem Tod beginnt das wahre Leben. Es ist wie das Erwachen aus einem Traum. Schopenhauer… “ Der Mann hält inne, dann macht er eine wegwerfende Handbewegung und lacht. „Es ist verrückt, ich weiß alles – und ich weiß nichts. Ich kann es nicht in Worte fassen. Nicht einmal jetzt, wo ich nur noch Seele bin. Jeder Mensch muss es selbst erfahren. Wir werden geboren, um die Welt zu entdecken. Die einen mehr, die anderen weniger. Wirklich durchdringen wir sie aber erst, wenn wir sterben. Dann ist sie klein und überwunden.“
Der Besitzer denkt über die Worte des Mannes nach. Dieser erhebt sich jetzt.
„Ich bin ein Narr!“, ruft er laut. Für einen kurzen Moment befürchtet der Besitzer, dass der Fremde das Haus aufweckt. Der Mann scheint ebenfalls zu horchen. Schließlich hebt er die Hand wie zum Gruße. „Nichts für ungut. Schlafen Sie wohl. Morgen wird alles ein Traum gewesen sein, so wie Sie es sich wünschen.“
Der Hotelier steht ebenfalls auf. „Nein, bitte, gehen Sie jetzt nicht! Wann hab ich es denn mal mit einem Toten zu tun, noch dazu mit einem so interessanten? Bitte bleiben Sie! Erzählen Sie weiter!“
Im nächsten Moment ist der Mann verschwunden. Einfach aufgelöst. Enttäuscht sinkt der Besitzer in seinen Sessel zurück. Ein stechender Schmerz erfüllt seine Brust, Angst steigt in ihm hoch. Nein, noch nicht. Noch ist es nicht so weit. Das spürt er. Er will jetzt nur noch eines: in sein Bett. Aber müde ist er nicht. Sein Herz ist unruhig. Sein Herz? Welches Herz?
(Eine weitere „Herzgeschichte“ – Fortsetzung von „Voll das Herz„, „Friedvolles Herz“ und „Herzdame„)