Herzdame

Die Geburtstagsgäste sind schon eine Weile weg, auch seine Familie ist vorhin zu Bett gegangen. Der Besitzer des Herzens will gerade die letzten Gläser in die Küche räumen, als sein Handy brummt. Eine Whatsapp aus einem ihm wohlbekannten Zimmer. Soll er sie einfach ignorieren? Geht nicht, schon hat er gelesen, was die Bewohnerin will, hat sie gesehen, dass er es liest. Mit einem Seufzer bringt er die Sektgläser in die Küche und macht sich auf dem Weg zu besagtem Zimmer. Nur kurz, sagt er sich, er kann die Nachricht nicht einfach ignorieren, eine Überraschung stehe bereit. Überraschend ist aber schon die Nachricht selbst. Nach all den Jahren…

Die Tür ist nur angelehnt, trotzdem klopft er an. Als er nichts hört, öffnet er sie langsam und tritt ein. Im Zimmer ist es dunkel, aber er sieht Kerzenschein auf dem kleinen Balkon, das Licht flackert im leichten Wind des lauen Sommerabends. So tritt der Besitzer durch die sich bauschenden weißen Vorhangfahnen hinaus. Da sitzt sie, in einem eleganten Abendkleid, dessen Farbe sich im schwachen Licht der Kerzen nicht genau bestimmen lässt. Sie schaut auf, hält ihm die Hand entgegen, er nimmt sie, beugt sich zu der Frau herunter, küsst sie links und rechts, freundschaftlich, und setzt sich neben sie auf den zweiten Stuhl. Sie nimmt die Flasche aus dem Kühler und schenkt ihm ein. Champagner! Hat sich nicht lumpen lassen. Ihr Glas ist bereits benutzt, die Wartezeit war wohl doch zu lang. Zu seinen Feiern hat sie sich seit damals nie mehr blicken lassen. Auf dich, sagt sie. Auf uns vielleicht auch, fügt sie leise hinzu und nimmt einen großen Schluck. Der Besitzer nippt nur an dem Glas, stellt es schnell wieder ab, wartet.

Sie räuspert sich, doch ihre Stimme ist immer noch etwas rau, als sie zu sprechen beginnt: „Du hast einmal gefragt, ob wir uns noch haben. Damals habe ich dir nicht gleich geantwortet, nicht weil ich gezweifelt habe, sondern weil deine Frage völlig unsinnig ist. Hallo? Wir sitzen hier in deinem Herzen, endlich, seit langem mal wieder. Du hast stets gewusst, dass ich hier bin, auch wenn du es immer vermieden hast, bei mir vorbeizuschauen. Warum eigentlich? Vor einem Jahr hast du mich versetzt, dabei hatte ich mich so gefreut und gedacht, du freust dich auch. Ich begreife immer noch nicht, warum du damals einfach abgesagt hast, ohne Grund, dich dann auch noch hast verleugnen lassen. Du hättest Angst bekommen, sagtest du – wovor, weiß ich bis heute nicht. Aber lass es, du musst es mir nicht mehr erklären. Ich habe dir so viele Brücken gebaut, aber du bist nicht einmal in die Nähe einer einzigen gekommen. Vieles hat sich verändert, du bist mir fremd geworden, so wie ich dir inzwischen wohl fremd sein werde – du hast es in deinen Briefen angedeutet. Apropos Briefe: wir schreiben uns auch nicht mehr. Und so langsam schwindet das Vertrauen, das ich wieder zu dir aufgebaut habe. Ich weiß einfach nicht mehr, ob du noch der bist, den ich damals, in jenem Sommer unserer Jugend, aber vor allem in den letzten Jahren kennen und schätzen gelernt habe.“

Der Besitzer schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, die Sektgläser klirren bedenklich, kommen aber schnell zur Ruhe. Der laue Sommerwind faucht leise durch die Zweige der alten Kiefern, die eigentlich viel zu nah an dem Gebäude stehen und einigen Gästen die Sicht nehmen, so wie der Bewohnerin hier auf dem Balkon. Nun muss auch der Besitzer sich räuspern, doch seine Stimme klingt fest, als er zu sprechen beginnt: „Die Zeit der Romantik ist vorbei, unser Luftschloss verwaist. Du kennst mich länger als die meisten Menschen in meinem Leben, du bist schon so lange in meinem Herzen und, ja, ich habe dich geliebt. Nicht so, dass ich mein Leben mit dir teilen mochte, das haben wir beide nach diesem einen Sommer schmerzhaft begreifen müssen, nach all den Jahren aber auch immer wieder als Segen betrachtet. Es wäre nicht gutgegangen. Schau dir unsere Familien an, wir leben dafür, jeder für sich. Und nur so konnten wir wieder zusammenkommen, nach so langer Zeit eine ganz andere Beziehung aufbauen, eine, die sogar ganz tief in unsere Herzen vorzudringen vermochte. Und dennoch habe ich zeitweise nicht mehr gewusst, ob sich unsere Beziehung nicht doch noch zu einer echten Lebensbeziehung entwickeln würde. So sehr haben wir in Erinnerungen geschwelgt, einander unserer Verbundenheit versichert, so viele liebe Worte gefunden, uns ein romantisches Luftschloss gebaut. Erst als die bloße Möglichkeit sich immer mehr zu einer realen Gelegenheit formte, ein Treffen in greifbare Nähe rückte – erst da kamen die Fragen. Existenzielle Fragen, verunsichernde, verletzende. Immer seltener wurden unsere Briefe, immer einsilbiger unser Chat, der schließlich verstummte als wir begannen, über uns und unser beider Leben zu urteilen. Da stehen wir nun, sehen uns hier in meinem Herzen. Und. Es. Ist. Nicht. Schön!“

Der Besitzer hat sich zornig geredet, macht Anstalten zu gehen. Doch ihre Hand legt sich auf seinen Arm, beschwichtigend, sanft. Jetzt schaut er ihr zum ersten Mal offen ins Gesicht, ihre Augen glänzen im Kerzenschein, sie lächelt ihn an. Augenblicklich bereut er seine Worte, sie ist immer noch so schön… Und sie kann immer noch seine Gedanken lesen, denn selbst im Halbdunkel erkennt er, dass sie errötet. Ihre Hand wandert seinen Unterarm entlang, er öffnet ihr seine. So sitzen sie, schauen ins Dunkel der Nacht, lauschen dem Wispern des Windes und wissen, dass alles gut ist wie es ist.

(Eine weitere „Herzgeschichte“ – Fortsetzung von „Voll das Herz“ und „Friedvolles Herz“)

©Martin Bensen