Friedvolles Herz

Sie ist fort. Von einer Reise in die Sonne nicht zurückgekehrt. Die Nachricht erreicht den Besitzer während der besinnlichen Tage. Im Herzen herrscht beinahe gespenstische Ruhe, die Gäste haben sich auf ihre Zimmer zurückgezogen oder sind aufgebrochen, um Verwandte und Freunde zu besuchen. Weihnachten, das weiß der Besitzer aus langjähriger Erfahrung, Weihnachten ist eine friedliche Zeit für sein Herz, eine Zeit für die Familie, erst recht, wenn alle wieder beisammen sind. Einen Tag vor Heiligabend ist seine älteste Tochter von einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt zurückgekehrt. Schon am Tag nach Weihnachten würde sie wieder aufbrechen und nach Norden fahren, sie braucht das Herz hier immer weniger.

Nachdenklich betrachtet der Besitzer die große, festlich geschmückte Tanne in der Lobby. Kein einziger Gast ist hier, der Portier hat frei bekommen, es gibt gerade nichts zu tun. Ebenso das Küchenpersonal, die Gäste wissen, dass sie sich anderweitig versorgen müssen. Dafür kocht die Familie selber, nur für sich, ganz entspannt und ohne großen Aufwand. Sie ist sich selbst genug, genießt die weihnachtliche Stille und das Beisammensein. Jetzt sind alle rechtschaffen müde und der Reihe nach zu Bett gegangen, nur der Hausherr sitzt mit einem letzten Glas Rotwein im Ledersessel, den Lichterglanz in seinen Augen und die Gedanken bei der Nachricht der Frau. Sie habe jemanden kennengelernt, müsse sich jetzt neu sortieren, doch die Wahrscheinlichkeit sei nicht sehr groß, dass sie in sein Herz zurückkehre. Für einen kurzen Überraschungsmoment hat sein Schlagen ausgesetzt, um schon im nächsten einen kleinen Freudenhüpfer zu machen. Dem Besitzer ist immer klar gewesen, dass die junge Frau, die hier eines späten Abends gestrandet war, nicht für immer bleiben würde. Wie sehr hatte er sich angestrengt, ihr schließlich doch noch einen Platz anbieten können, wohl wissend, dass ihr Aufenthalt das Leben komplizierter machen würde.

Vorbei. Das ging jetzt schnell, denkt er und muss lächeln. Er hatte es gespürt und schon als sie sich ohne viele Worte verabschiedet hatte, gewusst, dass diese Reise alles verändern würde. Und in den wenigen Wochen ihrer Abwesenheit hatte eine friedliche Gelassenheit das ganze Herz erfasst. Die Gäste mochten es auf die vorweihnachtliche Stimmung schieben, die kurzen grauen und ungemütlichen Tage, die zu keiner Aktivität, sondern im Gegenteil dazu führten, dass sich alle früh in ihre behaglichen Zimmer zurückzogen. Für den Besitzer hat es noch einiges zu tun gegeben, doch am Ende erfüllte auch ihn eine fast kindliche Vorfreude auf Weihnachten und eine ganz und gar friedliche Stimmung. Da, wo sie hingereist ist, wollte er an diesen besonderen Tagen nicht sein. Andererseits hat er aber auch alles, ist kein Suchender mehr.

Der Duft des schweren Rotweins mischt sich auf faszinierende Weise mit dem würzigen Harzgeruch des imposanten Tannenbaums. Noch immer lächelt der Besitzer, schüttelt leicht den Kopf. Er sieht noch vor sich, wie sie an jenem Abend schließlich glücklich in seinem Restaurant gesessen und er sich in diese wunderbaren Augen verliebt hat. Es sollte noch einige magische Momente geben. Er hat sie genossen, sie haben ihn stets beflügelt, ihn fröhlich gemacht und ihm Kraft gegeben. Nie hat er daran gedacht, dass sie ihn aus der Bahn werfen könnten. Haben sie auch nicht. Sie beide haben sich geschätzt, sich viel erzählt und dann doch ein schlechtes Gewissen gehabt. Endlich, denkt er, bringt sie alles ins Gleichgewicht, in eine stabile Beziehung, auch auf ihrer Seite. Er muss keine Scheu mehr haben, ihr etwas vorzuleben, das sie nicht hat, sich aber so sehr ersehnt. Wie oft hat sie es formuliert, ihre Sehnsucht nach der einen Liebe oft so verstörend offen ausgesprochen, dass sein ganzes Herz erzitterte. Beide haben sie sich zur Ordnung gerufen, sind sich tagelang aus dem Weg gegangen. Und wenn sie sich getroffen haben, waren sie stets bemüht, nur über die ganz alltäglichen Dinge zu sprechen. Zu dieser Zeit waren die magischen Momente schon Geschichte, hat sie allenfalls noch die Erinnerung daran mit Wärme erfüllt.

Er leert sein noch ziemlich volles Glas in einem langen Zug. Zeit, zu Bett zu gehen. Seelenfrieden. Dieses seltsame Wort, das man eher dem Lebensende oder gar den Toten zueignet, kommt ihm in den Sinn. Sie hat ihn nun wohl, denn die Sehnsucht scheint ein Ziel gefunden zu haben, eine Erfüllung, eine zweite Seele, die so wie keine dritte zu ihrer passen möge. Er wünscht es ihr, gönnt ihr von Herzen dieses Weihnachtswunder. Und dieses gute Gefühl, dass sie endlich angekommen sein möge, erfüllt auch ihn mit großer Zufriedenheit. Seelenfrieden, denkt er, dieses Wort passt jetzt auch zu seiner Gemütslage. Er stellt sein Glas ab, geht zur Tür und drückt den Schalter. Wo vorher Lichterglanz war, glimmt jetzt nur noch die Notbeleuchtung mit dem eilig rennenden grünen Strichmännchen. Nein, eilig hat er es nicht, muss vor nichts und niemandem davonlaufen. Er freut sich auf sein Bett, auf die vertrauten und so besänftigenden Atemzüge neben ihm. Alles ist gut. Alles wird gut.

(Fortsetzung von „Voll das Herz“ – an anderer Stelle in diesem Theater… )

 

 

©Martin Bensen