„Ich lüge dich nicht an! Wie kommst du überhaupt darauf?“ Er hat das Messer, mit dem er eben noch den edlen Fisch für den Heiligen Abend filetiert hat, in die Spüle geworfen und schaut sie aufgebracht an. Sie hätten nicht schon so viel Wein trinken dürfen. Ein Schlückchen zum Kochen, dazu besinnliche Musik und im Kamin ein prasselndes Feuer – der Abend in ihrer einsamen Hütte hätte eigentlich nicht besser beginnen können.
Nach so vielen Jahreswechseln hier oben in den Bergen hat sich ihre Leidenschaft zwar mehr und mehr auf die kulinarischen Freuden verlagert, doch die Zubereitung ihres Festmahls, der gute Wein und allerlei Verkostungen während des gemeinsamen Kochens haben sie auch heute wieder in einen Sinnesrausch versetzt und sogar erotische Regungen geweckt. Auch diesmal haben sie lachen müssen, als sie sich, einem schönen Ritual folgend, ihren ersten Abend hier oben, in stets tief verschneiten Bergen, abermals neu erzählt haben. Wie sie ihr Festmahl zubereitet, sich gegenseitig mit Zutaten gefüttert, dabei zusehens in eine wahre Orgie gesteigert hatten und vor lauter Lust nicht mehr zum Essen gekommen waren. Am Ende waren sie sich selbst genug gewesen, unersättlich hatten sie sich immer wieder geliebt, bis zum Morgengrauen und gleich nach dem Aufwachen ein weiteres Mal. Als sie sich schließlich aufraffen konnten, hatte bereits der nächste Abend gedämmert, war Weihnachten also schon zur Hälfte vorbei. Nicht die schlechteste Art der Besinnung, hatten sie beide amüsiert festgestellt. Nur vom Essen war kaum noch etwas genießbar gewesen, was ihnen durchaus ein schlechtes Gewissen bereitet hatte, zumal sie damals finanziell längst noch nicht so sorgenfrei gewesen waren wie heute.
Ihre Augen haben gefunkelt, als sie an diesem frühen Abend ihr Gemüsemesser abrupt beiseite gelegt, von hinten seinen Bauch umfasst und ihn zu sich hergedreht hat. Sofort hat auch in ihm das Feuer zu lodern begonnen. Geküsst haben sie sich, erst behutsam, dann immer wilder, so sehr, dass auch er sein Messer zitternd weggelegt und ihr kurzerhand den Pulli über den Kopf gestreift hat. Zitternd vor Erregung hat sie es ihm gleich getan, aber ungleich heftiger, hat mit einem Ruck sein Hemd geöffnet, dass alle Knöpfe wie in Panik weggesprungen sind, doch gerade, als sie seinen nackten Oberkörper über und über mit heißen Küssen bedeckt und sich züngelnd seinem Hals genähert hat, ist plötzlich alles vorbei gewesen. Ohne ihn anzusehen hat sie ihn weggestoßen, sich ihren Pulli geschnappt und ist ins Bad gerannt. Nach einer Schrecksekunde ist er ihr hinterher, hat an der Badezimmertür geklopft und ihren Namen gerufen. Keine Antwort. Was ist geschehen? Nach weiteren vergeblichen Versuchen, hat er schließlich aufgegeben und ist in die Küche zurückgegangen. Gerade als er wie betäubt sein Messer genommen hat, ist sie hinter ihm aufgetaucht, er hat ihr Spiegelbild in der dunklen, von Schnee umrahmten Fensterscheibe gesehen und noch ehe er hat fragen können, ist ein Donnerwetter über ihn hereingebrochen.
Jetzt steht er fröstelnd da, zieht sein lädiertes Hemd über und sieht sie immer noch wütend an. Ihr Blick hat indes von zornig zu traurig gewechselt, ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„Hast du dich mal im Spiegel angesehen, ist dir beim Rasieren gar nichts aufgefallen?“
Jetzt fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Sie hat seinen Fleck am Hals gesehen, eine weinrote Ellipse, wie ein Mund! Er muss lachen, sie kneift die Augen zusammen, stürmt auf ihn zu, er lacht weiter, immer hemmungsloser, immer lauter. Sie ballt ihre Fäuste und will gerade auf ihn einhämmern, da hält er sie, immer noch lauthals lachend, fest und umarmt sie. Doch sie will das nicht. Während sie verzweifelt versucht, sich aus seiner Umklammerung zu lösen und sogar mit ihrem Knie zwischen seine Beine dringt, japst er, will sie trotz seines Lachkrampfes beruhigen. „Liebling… Schatz…“, mehr bekommt er nicht heraus, muss jetzt aber mehr Kraft aufwenden, um seinen Schatz zu bändigen. Dann schafft sie es tatsächlich, ihr Knie in seinen Schritt zu rammen. Augenblicklich bekommt er keine Luft mehr, klappt mit einem letzten erstickten Lacher zusammen und beginnt zu würgen. Sie hat sich losgerissen und betrachtet ihn mit einigem Abstand aus wütend zusammengekniffenen Augen. Mit verschränkten Armen steht sie da, sieht das Gemüsemesser in Griffweite.
Ein übelschmeckender Hass steigt in ihr auf. In letzter Zeit ist es ihr nicht gutgegangen, nichts ist ihr gelungen und ihr Mann, gewiss genauso gestresst wie sie, ist ihm keine Hilfe gewesen. Im Gegenteil: Er hat sich von ihr abgewendet, so hat sie es empfunden. Noch kurz vor ihrem Weihnachtstrip in die Berge, haben sie nebeneinander her gelebt wie ein altes, verbittertes Ehepaar, haben sich immerhin in Ruhe gelassen. Auch im Bett, was sie eigentlich schon wieder bedauert hat, wäre Sex doch immerhin eine schöne Flucht gewesen und vielleicht auch ein Mittel, ihre Beziehung wieder zu beleben. Denn ohne darüber ausdrücklich mit ihm gesprochen zu haben, ist sie sicher gewesen, dass auch er sich nach besseren Zeiten gesehnt und, ebenso wie sie, ihre Zweisamkeit in den Bergen kaum hat erwarten können. Oder doch nicht? Sie zweifelt jetzt daran, zweifelt an ihm. Hat er ihr was vorgemacht? Eigentlich hat sie feine Antennen dafür, aber die Reise hätte nicht besser beginnen können: Wie ausgewechselt ist er gewesen, zuvorkommend wie früher, lieb und gutgelaunt. Sie hat sich wieder beachtet gefühlt und sie hat ihn dafür geliebt – fast wie früher.
Was hat er gemacht, als sie beide vom Alltag zermürbt nicht mehr zusammenfanden? Hat er sich nicht nur von ihr ab-, sondern auch einer anderen Frau zugewendet? Sie ekelt sich plötzlich vor ihm. Davor, wie er sich vor ihr auf dem Boden windet und verzweifelt versucht, wieder auf die Füße zu kommen, dabei schließlich das Brett mit dem Gemüse von der Anrichte reißt. Um ein Haar hätte ihn dabei das schwere Messer erwischt, das mit der Spitze zitternd im Holzboden stecken bleibt. Schade, denkt sie und erschrickt. Hat sie das gerade wirklich gedacht? Die Schmerzenslaute verstummen. Noch immer steht sie reglos da, weiß nicht, wie es weitergehen soll. Ihr Befreiungsschlag, ein Tiefschlag für ihn, ein Stoß nur und alles ist vorbei. Sie weiß jetzt, dass es so ist. Immer noch vor Schmerzen gekrümmt, stemmt er sich mit den Händen hoch und kniet vor ihr wie ein Bettler.
„Tut mir leid“, kommt es leise aus dem Häufchen Elend auf dem Küchenboden. „Tut mir leid, dass ich gelacht habe.“
„Als wenn es nur das wäre.“, sagt sie, entspannt sich etwas. Ein Gefühl der Trauer ist ihrer Wut gewichen.
„Nein, du verstehst mich falsch“, stammelt er. „Es ist nicht, wie du denkst.“
„Oh, da ist er ja, der Standardsatz aus tausend und einem Trennungsdrama!“ ruft sie, weniger höhnisch als resigniert.
„Nein wirklich!“, heult er. „Du tust mir Unrecht! Willst du wissen, wie das Ding auf meinen Hals kommt?“
Ihr erster Impuls ist ein klares Nein, dann stutzt sie. Er ist immer noch wehrlos, soll er doch kommen und es ihr erklären.
„Da bin ich aber mal gespannt. Aber wehe! Du weißt: Ich merke es, wenn du lügst.“
Er erinnert sich vage an eine Verirrung in ihren Anfangsjahren, ein Partyflirt, mehr nicht. Sie hat den Braten gleich gerochen und ihm anschließend die Hölle heiß gemacht wie keine Frau vorher. Er hat gleich alles gestanden, das Wenige, was war, und sie trotz ihrer Sticheleien nur umso heftiger geliebt. Das wiederum hat sie genossen. Sie weiß, wie sie Männer fesselt, den einen an sich bindet, er ist ihr nie wieder untreu gewesen.
„Lass es dir erklären.“, sagt er, noch immer auf dem Boden knieend. Sie blickt ihn von oben herab an, jederzeit bereit, sich für eine Lüge seinerseits zu rächen. Er spürt ihre Entschlossenheit, hat plötzlich Angst. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber das, was aussieht wie ein Knutschfleck, ist in Wirklichkeit eine Brandwunde. Weißt du noch, wie ich mich neulich am Backofen verbrannt habe, als ich das Hühnchen darin wenden wollte? Ich kam mit meiner Hand nur kurz oben an den Rand, schon war es passiert. Hier!“ Er streckt ihr den rechten Handrücken entgegen, die Stelle zwischen Daumen und Zweigefinger, „Du hast den Fleck selber gesehen und mir sogar eine Salbe dafür gegeben.“
Sie erinnert sich daran. Jetzt fällt ihr auch wieder ein, dass der Fleck wie eine Ellipse ausgesehen hat, ein weinroter Kussmund. Weil eine Brandblase ausgeblieben war, hat sich die Verletzung schnell verfärbt, dann hat sie geschuppt und ist schließlich ohne Narbe binnen Tagen verschwunden. Sie wird unsicher, ahnt, dass sie ihm vielleicht Unrecht getan hat, aber noch gibt sie nicht auf.
„Und wo und wie, bitteschön, hast du dich ausgerechnet am Hals verbrannt?“, fragt sie ihn. Er bemerkt, den sanfteren Klang in ihrer Stimme und schöpft Hoffnung.
„Gestern Abend, als wir ankamen, habe ich doch gleich den Kamin angeheizt. Während du dich in die klamme Wolldecke auf dem Sofa gemummelt hast und wenig später eingenickt bist, habe ich meine liebe Not gehabt, Feuer zu machen. Das Holz hatte Schnee abbekommen und war etwas feucht. Immer wieder musste ich die Flammen anfachen. Der Rauch stieg mir in die Augen und als ich vor einem fliegenden Funken zurückschreckte, geriet ich mit meinem Hals an den heißen Schürhaken, den ich kurz zuvor aus dem Feuer gezogen hatte und auf den ich mich in dem Moment abstützte. Verrückt, oder? Ich hatte keine Zeit, die Stelle zu kühlen, wollte unbedingt, dass der Kamin endlich an war. Als das Feuer schließlich brannte, besah ich mir den Fleck und fand auch die Salbe in deinem Kulturbeutel. Wenn du aufmerksam gewesen wärst, hättest du bemerkt, dass sie da lag.“
Stimmt, sie hat die Tube gesehen, diese aber nicht weiter beachtet, weil sie immer noch gefroren und schnell ins Bett gewollt hat. Hinter ihrer Stirn arbeitet es. Er steht endlich auf, kommt langsam auf sie zu. Doch sie will nicht. Nicht mehr. Es ist etwas kaputtgegangen zwischen ihnen, das spürt sie genau. Auch wenn er recht hat und sich alles so zugetragen haben sollte, kann sie nicht mehr zurück. Sie weicht ihm aus und lässt ihn in der Küche stehen. Da beginnt auch er zu verstehen. Nachdenklich stützt er sich mit seinen Händen auf die verschmierte Arbeitsfläche, blickt mit großen Augen ins Leere – verharrt so minutenlang. In der Hütte ist es still geworden. Stille Nacht, denkt er und erinnert sich, wie er das Lied als Kind mit Inbrunst vor dem glitzernden Weihnachtsbaum gesungen hat. Auch diese Zeit kommt nie wieder, denkt er, alles im Leben hört irgendwann auf. Alles hat seine Zeit, hat seine Mutter immer gesagt, Gott hab sie selig.
Aus der Flasche kommt nur noch roter Weinstein. Müde räumt er die Küche auf, schiebt alle Lebensmittel unbesehen von der Anrichte in einen großen schwarzen Plastiksack. Der Schmerz ist immer noch da. Körperlich. Seine Seele dagegen fühlt sich taub an. Traurig schaut er aus dem Fenster, es hat wieder zu schneien begonnen. Er wird die Nacht auf dem Sofa verbringen, selbstverständlich wird er das. In dieser Nacht wird er keinen Schlaf finden. Das kennt er eigentlich – nur nicht auf diese Weise. Zum ersten Mal in seinem Leben wird er in dieser heiligen Nacht einsam wachen. Wird das Kaminfeuer in Gang halten. Wenigstens das.