Das hatte doch alles keinen Sinn. Trotzig wie ein Kind blieb er stehen und stampfte mit dem rechten Fuß auf. Er war verzweifelt. Egal in welche Richtung er ging: der Weg endete früher oder später im Nichts. Oder vielmehr im Dickicht eines dunklen Waldes. Nirgendwo war auch nur der Ansatz eines Lichts zu erkennen. Überall nur tiefe, schwarze Nacht. Wurde es noch mal irgendwann hell?
Er musste zurück. Sein Koffer stand noch am Bahnhof und er wollte nicht riskieren, dass der auch noch weg war. Andererseits hielt er die Gefahr eines Diebstahls für nicht allzu groß, denn seit er an dem weit und breit einzigen Gebäude abgesetzt worden war, hatte er keine Menschenseele gesehen. Es war ein Fehler gewesen, hier auszusteigen. Aber der Mann, der ihn freundlicherweise aufgelesen hatte, war so überzeugend gewesen. „Ich bringe Sie zum nächsten Bahnhof, das wird das Beste sein.“, hatte er gesagt und ihn damit augenblicklich beruhigt. Bis auf ein kurzes Adieu beim Abschied hatte der Mann nichts mehr gesagt. Sein Passagier hatte ihn auch nichts gefragt. Zu dankbar war er gewesen, dass er nicht länger an der einsamen Straße stehen musste – dass überhaupt dieses Auto vorbeigekommen war. Seltsam, er konnte sich jetzt überhaupt nicht mehr daran erinnern, wie sein Retter ausgesehen hatte, dafür hatte er den eigentümlichen Geruch vom Wageninneren noch in der Nase. So ähnlich hatte es immer im Auto eines Onkels, dem einzigen Bauern in der Familie, gerochen – nach Schweinestall, nach Jauche und irgendwie auch nach Schwefel. Am Ende war er froh gewesen, als er an dem kleinen Bahnhof aussteigen und wieder frische Luft atmen konnte.
Warum hat mich der Fahrer ausgerechnet hier abgesetzt? Wäre es nicht besser gewesen, mit zu ihm nach Hause zu fahren, um von da aus alles zu regeln? Hätte er auch nur geahnt, was er wenig später erkennen sollte, hätte er darauf gedrungen. Jetzt war es zu spät. Nicht nur dass der Bahnhof gar kein Bahnhof mehr war – das Gebäude mit den vergitterten Fenstern war fest verschlossen und wirkte verlassen wie eine Ruine – auch die beiden Gleise sahen selbst im Dunkeln so aus, als wären sie vor Jahren das letzte Mal befahren worden. Weil ihm dieser Gedanke keine Ruhe gelassen hatte, war er extra die Bahnsteigkante hinabgestiegen, um die Schienen mit der Taschenlampe seines Handys zu untersuchen. Er erschrak, als er die dicke Rostschicht sah, noch dazu die wuchernden Sträucher zwischen den Schwellen. Hier würde kein Zug vorbeikommen, nicht heute, nicht morgen, sondern nie mehr. Der zweite Schreck ließ nicht lange auf sich warten: Das Licht ging aus, der Akku war leer. Wie konnte nur alles so schief gehen? Er war verzweifelt. Jetzt war es ihm nicht einmal mehr möglich zu telefonieren. Wahrscheinlich wäre es das ohnehin nicht gewesen, tröstete er sich, zumindest in der Nähe des Gebäudes hatte er vergeblich versucht, seine Frau anzurufen. Sein Handy hatte kein Netz angezeigt, auch nicht im weiteren Umkreis bis zum Wald. Und weiter mochte er einfach nicht gehen.
Wie erwartet stand der Koffer noch da, wo er ihn abgestellt hatte. Zu gern hätte er jetzt eine Bank zum Ausruhen gehabt, doch offenbar waren auch die nicht mehr nötig gewesen und abmontiert worden. Seufzend schob er seinen Koffer gegen die Wand, legte ihn flach und setzte sich drauf. Es war kalt geworden, Dampfwölkchen kamen aus seinem Mund. Er hauchte in seine Hände und rieb sie gegeneinander. Gut, dass er seine warme Jacke mitgenommen hatte, der Sommer war definitiv vorbei und hier im Mittelgebirge konnten die Nächte bereits ziemlich frisch werden. Dabei kannte er diese Gegend eigentlich nur vom Durchfahren. Um nichts in der Welt hätte er hier leben mögen. Wie oft hatte er mit seiner Frau über die seltsamen Ortsnamen in diesem Teil des Landes gelacht, in the middle of nowhere, da, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Wie froh war er immer, wenn dieser Teil der Reise hinter ihnen lag und es auf Köln zuging. Doch selbst beim stadtnahen Königsforst konnte es noch passieren, dass mitten auf der dreispurigen Autobahn ein kapitales Wildschein stand. Aus dem Wald drangen fremde Laute. Wenn jetzt eine Rotte aus dem Unterholz bräche – er hätte keinen Schutz. Er mochte Wald nicht, er machte ihm Angst, selbst am hellichten Tag war er ihm nicht geheuer. Wenn er ehrlich war, fehlte ihm deshalb auch jetzt der Mut, sich auf den Weg zu machen. Denn dazu hätte er ja in den Wald müssen.
Wie zum Teufel, war er überhaupt hierher gekommen? Das Auto des fremden Helfers war doch bis zu diesem Ort gefahren, also musste es doch eine Straße geben. Er war auch direkt vor dem vermeintlichen Bahnhof ausgestiegen. Und hatte nicht außen am Gebäude eine Laterne gebrannt? Abermals rannte er um das kleine Gebäude herum, er sah eine Laterne, aber sie war nicht mehr als ein kaputter Rest davon. Trotzdem: Eine Straße musste er doch auch ohne Beleuchtung erkennen. Aber egal in welche Richtung er sich wandte, immer begann bald der Wald, nirgendwo war auch nur der Ansatz eines Weges zu erkennen. So angestrengt er jedesmal horchte, nichts deutete auf das vertraute Rauschen einer befahrenen Straße in der Ferne hin, dafür knackte es hier und da im Unterholz. Er bekam es mit der Angst zu tun. Ruhig Blut, ermahnte er sich selbst, denk nach, Junge, es gibt für alles eine Erklärung. Versuch dich genau zu erinnern. Sein Puls beruhigte sich etwas, er ging zum Gebäude zurück und setzte sich wieder auf seinen Koffer. Erschöpft lehnte er den Kopf an die Wand und schloss die Augen.
Wie spät mochte es sein? Die Autopanne hatte ihn so aus dem Konzept gebracht, dass er nicht mehr auf die Zeit geachtet hatte. Wie lange war er unterwegs gewesen? Vielleicht drei, höchstens vier Stunden. Um acht war er losgefahren und selbst da nur langsam vorangekommen, weil immer noch viele Autos unterwegs waren. Als der Verkehr endlich überschaubarer geworden war, was sich zum Glück meistens so ergab, wenn es auf den öden Streckenabschnitt hinter Limburg zuging, hatte er Gas gegeben, um nur wenig später wieder ausgebremst zu werden. Eine Nachtbaustelle zwei Kilometer weiter. Er war der Beschilderung gefolgt und von der Autobahn abgefahren. Erst jetzt, beim genaueren Nachdenken, fiel ihm auf, dass weder vor noch hinter ihm ein Auto auf der Umleitung unterwegs gewesen war. Auch im weiteren Verlauf war er die ganze Zeit allein er auf der hügeligen Landstraße gefahren und kein einziges Mal von entgegenkommenden Scheinwerfern geblendet worden. An einer scharfen Kurve war es schließlich passiert. Ein ohrenbetäubendes Rasseln war von vorne gekommen, hatte ihn reaktionsschnell auf die Bremse treten lassen. Sein Wagen war kurz ins Schlingern geraten und schließlich seitlich gegen einen Baum geprallt. Das war keine Panne gewesen, er hatte einen Unfall gehabt…
Langsam sah er wieder alles vor sich. Hatte er überhaupt das Warndreieck aufgestellt? Doch, das hatte er. Mehr noch: Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass er nicht verletzt war, hatte er versucht, den Motor wieder zu starten und wenigstens die Warnblinker anzumachen, doch die Elektrik war tot. Als er ausgestiegen war, hatte er den erbärmlichen Zustand seines Autos gesehen. Er besaß es noch nicht lange, es war sein ganzer Stolz – gewesen. Wie sehr hatte er sich auf jede Fahrt gefreut und so war ihm auch der Termin in Köln äußerst gelegen gekommen. Dabei war er wirklich äußerst kurzfristig angesetzt worden. Von einer absoluten Deadline hatte sein Kunde gesprochen, ihn damit aber nicht übermäßig nervös gemacht. Adrenalin war sein Freund. Jetzt erinnerte er sich wieder: Er wollte es auf der Straße so richtig krachen lassen und vor dem Termin am Vormittag noch ganz in Ruhe im Hotel übernachten. Deadline – wie lächerlich sich seine Kunden auf den letzten Metern immer aufmantelten, dachte er. Glaubten sie etwa, sie hätten es mit einem Amateur zu tun? Wütend trat er das Gaspedal durch. Wo er nur konnte, ließ er den Kompressor röhren. Wie schon die Tage zuvor, selbst im Stadtverkehr. Wie hatte er die erbosten Gesichter im Rückspiegel genossen. Sollten sie doch ihr sauertöpfisches Leben führen, wie sie mochten, wenn sie ihn nur in Ruhe ließen mit ihrem Gefasel von Feinstaub und Umweltbelastung. Er konnte es schon lange nicht mehr hören. Alter, du schweifst ab, denk lieber nach, wie du hier wegkommst! Wie lange war er eigentlich mit seinem Rollkoffer die Straße entlanggelaufen, nachdem er gefühlt über eine Stunde an der Unfallstelle gewartet hatte, ohne dass in der ganzen Zeit auch nur ein Auto vorbeigekommen war? Jedenfalls hatte er es kaum glauben können, als von hinten endlich Licht kam.
Todesmutig hatte er sich auf die Straße gestellt, immerhin geistesgegenwärtig das Display seines Handys angemacht und das Gerät hektisch geschwenkt. Das Auto war aber gar nicht schnell gewesen. Fast hatte es so geschienen, als wäre es eigens für ihn hier aufgetaucht, langsam ausrollend war es vor ihm stehen geblieben. Während er noch verwirrt im Lichtkegel der Scheinwerfer gestanden hatte, war die Beifahrertür aufgegangen. Als er zum Fahrer hineingesehen hatte, hatte dieser ihm mit einem Kopfnicken bedeutet, den Koffer auf die Rückbank zu legen. Wie dankbar er gewesen war über den schweigsamen Mann, an dessen Aussehen er sich auch jetzt noch nicht erinnern konnte. Selbst die Fahrt blieb seltsam nebulös. Nur dass es zu einem Bahnhof gehen sollte, daran erinnerte er sich. Es wäre „das Beste“, genau diese Worte hatte der Unbekannte gewählt. Jetzt kamen sie ihm vor wie Hohn. Da hatte ihn aber jemand gründlich verarscht. Fast hätte er laut gelacht, doch dann packte ihn die Wut. „Mit mir nicht!“, brüllte er in die Nacht. Für einen kurzen Moment herrschte Stille, dann schrie ein Kauz. Sofort musste er an seine Oma denken, sie hatte sich immer gefürchtet, wenn sie den untrüglichen Laut dieses Vogels hörte, den sie – wie schon ihre Vorfahren – mit „Komm mit“ übersetzte, als Ruf des Todes, der sie holen wollte. Wie sie an sowas und zugleich ebenso fromm wie gottesfürchtig an den Allmächtigen glauben konnte, war ihm stets ein Rätsel geblieben.
„Komm mit!“ Er stutzte. Na, klar, das war es! Wie konnte er nur so blöd sein? Die Schienen! Warum war er nicht gleich darauf gekommen? Er würde einfach auf ihnen von hier fortgehen, sie hatten ja auch früher irgendwohin geführt. Und dass ihn auf der Strecke ein Zug überraschen würde, war ja nach Lage der Dinge höchst unwahrscheinlich. Allerdings musste er sich für eine Richtung entscheiden. Abermals versuchte er, links und rechts einen Lichtschein zu erkennen. Es musste doch irgendwo dort hinten, hüben wie drüben, einen Ort geben? Erst vor kurzem hatte er wieder von der allgegenwärtigen Lichtverschmutzung und den Folgen für alle Lebewesen gelesen. Davon konnte hier keine Rede sein, so weit er auch blickte, war alles schwarz wie die Nacht. Auch vom Himmel her kam kein Licht, dicke Wolken verdeckten die Sterne, die hier draußen gewiss hell gestrahlt hätten. Musste nicht endlich der Morgen grauen? Wieso war es so lange dunkel? Egal, er hatte jetzt einen Plan. Seinen Koffer konnte er getrost zurücklassen, an diesen „Bahnhof“ würde sich niemand verirren, und wenn schon. Inzwischen war ihm alles egal, Hauptsache, er kam von hier weg. Welche Richtung also? Einer plötzlichen Eingebung folgend, beschloss er, mit dem Wind zu gehen, steckte dazu kurz seinen rechten Zeigefinger in den Mund und reckte ihn in die Höhe. Alter Pfadfindertrick. Er spürte einen ganz zarten, kühlen Hauch von links, somit war klar, dass er nach rechts gehen würde. Ohne zu Zögern marschierte er los.
Der Weg war beschwerlicher als gedacht. Manches Gesträuch nahm die gesamte Spurweite der Schienen ein und war nicht nur knöchelhoch, sondern reichte ihm bis zum Bauch. Seitlich der Eisenstränge begann bereits der Wald – auch das ein untrügliches Zeichen dafür, dass hier schon lange kein Zug mehr verkehrte und die Natur Terrain zurückerobert hatte. Die meisten Büsche hatten zu allem Überfluss noch Dornen – es war, als hätte sich alles gegen ihn verschworen. Je länger er ging, sich immer wieder durch Dornengestrüpp kämpfen musste, desto müder wurde er. Seine Hose war überall eingerissen, er spürte warme Feuchtigkeit an seinen Beinen, wusste, dass er blutete. Auch seine Hände hatten tiefe, bereits verkrustete Kratzer bekommen. Seine Schritte wurden immer langsamer, seine Zuversicht schwand. Links und rechts der Wald, nicht eine einzige Wiese, nicht eine noch so schmale Lichtung. Wie sehr sehnte er sich nach Licht, nach Wärme. Merkwürdig war nur, dass er gar nicht fror. Schwitzen musste er hingegen auch nicht. Und hätte er nicht längst Durst haben müssen und Hunger? Was ging hier vor? Was passierte mit ihm?
Abermals rief der Kauz. Er schien ihn zu begleiten. Oder führte er ihn gar? Die Schienen krümmten sich zu einer Kurve. Hoffnung keimte in ihm auf, er spürte, wie er wieder an Kraft gewann. Wie zur Bestätigung wurde die Strecke plötzlich passabler, immer weniger dieser widerborstigen Pflanzen versperrten ihm den Weg, bald waren sie ganz verschwunden. Täuschte er sich oder waren die Schienen hier auch anders? Sie sahen wie frisch befahren aus, sie glänzten beinahe. Verwundert blickte er hoch. Licht! Kaum wahrnehmbar schimmerte es in der Ferne. Aber nicht am Horizont, sondern von einem winzigen Punkt her, ganz schwach. Er wartete einen Moment. Nein, der Lichtpunkt blieb, wo er war, kein Zug also. Im Auslauf der Kurve, erkannte er, was da vorne war: Die Schienen verschwanden in einen Tunnel, er hob sich nur wenig von der schwarzen Nacht ab. Noch immer graute kein Morgen. Dabei war er sich sicher, dass viele Stunden vergangen waren. Immer mehr schien ihm alles, was passierte, nicht mehr real zu sein. Träumte er am Ende alles nur? Der Tunnel kam näher. Kam er näher, nicht er selbst dem Tunnel? Ein Sog erfasste ihn. Schwärzer als die Nacht klaffte die Mündung vor ihm auf, im nächsten Moment tauchte er in die Röhre ein. Dort hinten war Licht, es wurde heller, immer heller.