Es war ihr Lächeln. Ein Lächeln, das nicht zu den traurigen Augen passte. Sie hatte ihn nur kurz angeblickt. Nein, eigentlich hatte er nur kurz aufgeblickt. Zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, nicht auszurutschen. Gerade an der steilsten Stelle war der geschmolzende Schnee zu einer Eisbahn geworden. Nur mit Mühe und mit Hilfe des verwitterten Handlaufs schaffte er es. Seine Frau hatte für die Wanderung eindeutig das bessere Schuhwerk an, sie war ihm bereits ein ganzes Stück voraus. Als er wieder griffigen Schnee unter den Schuhen hatte, sah er sich um. Die junge Frau mit dem traurigen Lächeln war den Weg mühelos hinauf gelangt und gerade im Begriff, im Wald, aus dem sie gekommen waren, zu verschwinden. Wie seltsam: Der Blick dieser Frau, ihr schwarzes Kleid, der altmodische Kinderwagen aus beigefarbenem Korbgeflecht. Wie aus der Zeit gefallen. Moment mal! Nur ein Kleid? Bei dieser Kälte? Der Kinderwagen – wie schaffte sie es mit ihm durch Eis und Schnee? Und das scheinbar ohne Mühe, fast schien es, als schwebten die Frau und ihr Kinderwagen. Hatte er das wirklich so gesehen? Gerade als er im Begriff war, den abschüssigen, eisglatten Weg wieder hinaufzugehen, rief ihn seine Frau.
Manchmal spielte ihm die Phantasie einen Streich. Schon als Kind hatte er solche „Erscheinungen“. Einmal war er mit seinem kleinen Bruder an der Hand an einem Wegkreuz mit lebensgroßer Christusfigur vorbeigekommen, auf der Wiese dahinter hatten sie die Schafherde gesehen, mitten unter ihnen einen Schäfer mit Hut und schneeweißem Bart. Erst hatte er sich nichts dabei gedacht. Doch als er noch einmal hingesehen hatte, waren da nur noch die Schafe gewesen. Von dem Schäfer keine Spur. Sein Bruder gestand ihm später, nichts dergleichen gesehen zu haben. Beide haben dann nie wieder darüber gesprochen. Und auch wenn er sich immer wieder fragte, ob ihm damals womöglich Gott erschienen war, in Gestalt eben jenes Schäfers, des guten Hirten aus der Bibel, hielt es ihn am Ende nicht in der Kirche. Erst mit Mitte fünfzig war er ausgetreten, nach langem Ringen und immer noch mit reichlich schlechtem Gewissen, aber auch mit einem über die Jahre gewachsenen Groll auf die strenge katholische Erziehung, die ihn so sehr geprägt hatte, und auf die Kirche, die nicht zuletzt durch ihre Skandale alles zerstörte, was er zu glauben bereit gewesen war. Womöglich war auch die Begegnung mit der jungen Frau nur ein weiteres Phantasieprodukt seiner immer noch dem Wunderglauben zugeneigten Seele. Das musste er der Kirche, dieser vorgeblich „alleinseligmachenden“ Instanz, lassen: Sie hatte es selbst im rationalen Zeitalter meisterhaft verstanden, unschuldige Kinderseelen mit dem zu füttern, was sie so sehr ersehnten und – Gipfel der Perfidie – ebensosehr auch fürchteten. Zuckerbrot und Peitsche, Belohnung und Strafe, Himmel und Hölle, mit viel Glück das Fegefeuer – wie soll sich ein Mensch, selbst ein halbswegs aufgeklärter, aus solch einem Kindheitstrauma befreien?
Ob ihm der Teufel begegnet sei, wollte seine Frau wissen, als er sie eingeholt hatte. Etwas in seinem Blick sagte ihr, dass sie besser nicht weiter nachfragte. So trotteten sie schweigend nebeneinander her durch den Schnee. Die Sonne am stahlblauen Himmel, die bezaubernde, tief verschneite Tiroler Berglandschaft und die Anstrengung des unermüdlichen Aufstiegs ließen ihn die seltsame Begegnung allmählich vergessen. Oben auf der Hütte hatten sie andere Themen. Eine leichte Trauer lag über dem Genuss von Jagertee und Topfenstrudel, am nächsten Tag würde seine Frau ihn verlassen. Nein, nicht für immer, aber für den Rest ihres einwöchigen Kurzurlaubs, den sie wegen eines unaufschiebbaren Termins noch einmal hatte verkürzen müssen. Das Taxi zum Flughafen Innsbruck würde sie in aller Frühe abholen, er dagegen würde sich im Bett noch einmal umdrehen, später entspannt frühstücken und in den Tag hineinleben. Er überlegte, ob er sich für die restlichen drei Tage Skier ausleihen sollte. Seine Frau machte sich nichts aus Wintersport, darauf nahm er Rücksicht. Aber jetzt…
Draußen schlugen Autotüren, er spürte noch ihren Abschiedkuss auf seiner Wange, roch ihr Parfum, das er so sehr mochte, nahm ihr Kissen und kuschelte sich schnuppernd hinein. So schlummerte er weiter und träumte sich ihren Abend und die viel zu kurze Nacht zurück, sie liebten sich immer noch wie am ersten Tag. Ganz anders als seine besten Freunde, die nach reichlich Alkohol wahlweise über die Menopausen ihrer Frauen oder über die eigenen Problemchen mit der Aufrichtigkeit ihres besten Stücks heulten. Vielleicht waren auch die Kinder nicht ganz unschuldig an der Erschlaffung oder sogar dem Scheitern der Beziehungen um sie herum, er und seine Frau waren jedenfalls kinderlos und sehr aktive Menschen geblieben. Die helle Wintersonne drang durch den Spalt des Vorhangs, stach ihn in die Nase. Er erwachte mit einem Schreck. Die junge Frau war ihm im Traum erschienen, hatte ihn wieder so angesehen. Wie durchdringend dieser Blick war, wie abgrundtief traurig! Mit zittrigem Finger tippte er auf seine Fitnessuhr, es war bereits nach zehn. Unten wurde jetzt schon das Frühstücksbuffet abgeräumt, sehnten die Frühaufsteher bereits die Jause am Mittag herbei. Er brauchte einen Moment, offenbar war er noch einmal in einen Tiefschlaf gefallen – die Fitness-App bestätigte seine Vermutung. Schließlich schwang er sich aus dem Bett, eine kalte Dusche würde jetzt guttun.
Eine halbe Stunde später war er erfrischt und ausgehfertig. Er hatte beschlossen, außerhalb des Hotels eine Kleinigkeit zu frühstücken. Kaffee gab es zwar auch hier noch, jedoch nicht ohne Begleitung von geschäftigem Treiben und Staubsaugergetöse. Gestern hatte er zu Beginn ihrer Almwanderung ein gemütliches Café mit angeschlossener Pension gesehen. Wenn er ehrlich war, hätte ihm diese für den restlichen Aufenthalt gereicht, aber das Arrangement im Wellness-Hotel hatte sich zum Zeitpunkt des überraschenden Termins schon nicht mehr stornieren lassen.
Das Café war menschenleer, es wirkte dadurch noch größer als von außen her erwartet, aber es war gemütlich. Hier fühlte er sich auf Anhieb wohl. Ohne zu Zögern begab er sich in die Nische eines kleinen Runderkers, vor dessen Fenstern sich der Schnee türmte und dadurch den schönen Ausblick auf die Langlauf-Loipe halb verdeckte. Drinnen gab es bei weitem mehr zu sehen, die Besitzerin – dem Namen nach eine gewisse Erika – hatte Geschmack. Und Geschick: Das viele Holz der alten Einrichtung wirkte mit Hilfe von Stoffbezügen, Beschlägen und Farbanstrichen überraschend modern, nichts atmete mehr den muffigen Geist der alten Zeit, beides war gleich wertvoll und eng miteinander verbunden: die Tradition und die Moderne. Den groben Holztisch, an dem er saß, konnte er sich sogar für seine Wohnung vorstellen.
Das Haus habe ihre Urgroßmutter bauen lassen. Eine ältere Frau in Dirndl war wie aus dem Nichts am Tisch erschienen. Überrascht sah er zu ihr auf. Sie hatte ein freundliches Bauerngesicht, ihre grauen, noch von blonden Strähnen durchzogenen Haare waren zu Zöpfen geflochten und diese wiederum zu einem Kranz gebunden. Erika habe sie geheißen, eine starke Frau sei sie gewesen, so etwas wie die heimliche Ortsvorsteherin, das habe wohl auch auf ihre Nachkommen abgefärbt, das Café mit Pension sei zu allen Zeiten fest in Frauenhand gewesen, seit dreißig Jahren schon in ihrer – was es denn sein dürfe. Fragend und nicht ohne Stolz blickte sie ihren Gast an. Er bestellte einen Kaffee und einen Topfenstrudel mit Schlagobers. Nachdenklich sah er der Besitzerin nach. Sollte er sie nach der jungen Frau mit dem seltsam altertümlichen Kinderwagen fragen? Warum eigentlich nicht? Auch wenn er neugierig wirkte und womöglich aneckte – in drei Tagen würde er weg sein, aus den Augen aus dem Sinn. Und überhaupt: Wer regte sich hier schon über einen dummen Touristen aus Norddeutschland auf. Am Ende bestätigte er ohnehin nur das Vorurteil über die „Piefkes“, was ihm reichlich egal war. Als die Besitzerin mit einem Tablett erschien, fasste er sich also ein Herz.
Und es kam wie erwartet: Kaum hatte er die junge Frau erwähnt, verdüsterte sich die Miene der Café-Besitzerin. Sie schien weniger verärgert als erschrocken zu sein. So fest umklammerte sie das leere Tablett vor ihrem Bauch, dass die Knöchel beider Hände weiß wurden. Erst dachte er, sie würde sich abwenden, doch sie zögerte noch. Dann setzte sie sich auf die Bank ihm gegenüber. Wo er ihr begegnet sei, wollte sie wissen. Als er es ihr sagte, verstärkten sich die Sorgenfalten in ihrem Gesicht. Ob er sie beschreiben könne. Noch während er es tat, knallte sie das Tablett auf den Tisch. Sie wirkte jetzt außer sich. Das habe er nicht gewollt, stammelte er, vielleicht sei sie ja eine Touristin gewesen, vielleicht habe er sich auch getäuscht und seine Phantasie sei mit ihm durchgegangen, vielleicht – Er möge seinen Mund halten, unwirsch brachte sie ihn zum Schweigen, stand auf und kam mit einer Flasche Schnaps und zwei Gläsern zurück. Darauf brauche sie ein Stamperl, ob er auch eins wolle. Unwillkürlich blickte er auf seine Fitnessuhr und schüttelte den Kopf. Sie schenkte sich ein, trank und seufzte schwer. Jetzt solle er einfach zuhören, ob er nicht doch einen Schnaps wolle, er würde ihn brauchen, wenn sie ihm die ganze Geschichte erzählte.
Der Krieg wirkte noch nach, da trat der „weiße Tod“ auf den Plan. Der erste von zwei Lawinenwintern in kurzer Folge traf die Alpen in einem Ausmaß wie zuletzt im 17. Jahrhundert. Der massive Wintereinbruch im Jänner 1951 brachte den Tod über 135 Menschen, 200 Gebäude wurden durch Lawinen zerstört, ganze Regionen waren über Wochen von der Außenwelt abgeschnitten. In diesem Winter kurz nach Kriegsende wurde auch ein junges Bauernpaar von den Schneemassen überrascht. Dessen kleiner Hof lag auf einer Alm, gut eine Stunde Fußmarsch vom Ort entfernt. Was sich im Herbst bereits angedeutet hatte, sollte sich gegen Ende des Jahres mit voller Wucht bestätigen: Nicht nur dass ein Teil der Ernte verloren war, auch der bereits eingefahrene Ertrag fing ohne nachvollziehbaren Grund an zu verrotten. Es sollte noch schlimmer kommen: Eine rätselhafte Seuche erfasst das Vieh, Tier für Tier starb dem jungen Bauern unter seinen Händen weg. In seiner Verzweiflung notschlachtete er zu Beginn des neuen Jahres die letzte noch aufrechte Kuh und brachte so viel Fleisch wie möglich mit einem Handwagen – der Esel hatte ebenfalls das Zeitliche gesegnet – den beschwerlichen Weg hinab ins Tal. Doch im Ort wollte ihm niemand etwas abkaufen. Völlig verzweifelt klopfte er beim Café Erika an. Die Besitzerin hatte Mitleid. Nicht nur, dass sie ihm das Fleisch abnahm und in der Lage war, es in ihrem Eiskeller zu lagern – weil es spät geworden war, ließ sie den verzweifelten Jungen auch umsonst in ihrer Pension übernachten. Am nächsten Tag wolle er Lebensmittel einkaufen, sagte der Bauer, und zurück zu seiner Frau, die er nur äußerst widerstrebend alleingelassen habe, weil sie hochschwanger sei. Die Café-Besitzerin schlug die Hände über den Kopf zusammen. Mit Nachdruck drängte sie den Bauern, gleich in der Frühe schleunigst auf seinen Hof zurückzukehren, um sich und seine Frau mit dem notwendigsten Hab und Gut ins Dorf zu bringen. Man würde schon eine Lösung finden, zumindest eine bessere als dort oben den sicheren Tod zu finden. Doch es sollte anders kommen. Über Nacht hatte heftiger Schneefall eingesetzt, alle Wege waren in kürzester Zeit unpassierbar geworden, bis zum Mittag türmte sich der Schnee fast einen Meter hoch. Als der Bauer erwachte, versuchte er noch verzweifelt, ohne seinen Handwagen den Rückweg anzutreten, um nach den ersten hundert Metern doch nur die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens zu erkennen. Verzweifelt stapfte der junge Mann durch den tiefen Schnee, arbeitete sich von Haus zu Haus vor, flehte überall um Hilfe. Die Frauen weinten mit ihm, die Männer sahen weg und zuckten nur hilflos mit den Schultern. Voller Wut und Schmerz wandte sich der junge Bauer den Bergen zu, um mit dem Mut der Verzweiflung doch noch zu seinem Hof zu gelangen. Alles Rufen der Dorfbewohner half nichts, das Schneegestöber verschluckte ohnehin jeden Laut schon nach wenigen Metern. Sobald der Weg zu seinem Hof einigermaßen passierbar war, etwa zwei Wochen später, machte sich eine Gruppe von Helfern dorthin auf, in der Hoffnung, die Familie noch retten zu können, doch sie fanden das Wohnhaus verlassen vor. Von der jungen Bäuerin und dem von ihr erwarteten Kind fehlte jede Spur, allerdings fanden sich besorgniserregende Hinweise im Gebäudeinneren, das auf die Helfer einen verwahrlosten Eindruck machte. Erst viele Wochen später sollte man rekonstruieren, was höchstwahrscheinlich passiert war: Der Bauer hatte es nicht geschafft, war unterwegs von einer Lawine verschüttet worden. Man fand ihn zur Schneeschmelze im Frühjahr, seine Leiche lag verborgen unter einem Haufen Holz und Geröll. So hatte die junge Frau das Kind selbst zur Welt gebracht und in den ersten Tagen, so gut es ging, ernährt. Da aber alle Kühe tot waren, fehlte Milch, offenbar hatte die Frau versucht, ersatzweise einen dünnen Getreidebrei zu kochen. Sachen für den Säugling, auch eine Wiege und einen Kinderwagen, hatte das junge Paar von den entfernt wohnenden Nachbarn bekommen. Diese hatten das einzig Richtige gemacht: Sie waren noch vor dem verheerenden Wintereinbruch ins Dorf gekommen und bei Verwandten untergekommen. Ebenso wie von der Frau und ihrem Kind fehlte auch von dem Kinderwagen jede Spur. Alles andere, selbst einen dicken Mantel, hatte die Frau zurückgelassen. Doch wohin war sie verschwunden? Das fragten sich die Dorfbewohner bis heute.
Schweigend und mit wachsender Bestürzung hatte er zugehört und währenddessen doch noch zum Schnaps gegriffen. Die Wirtin erhob sich und räumte den Tisch ab. Der Schnaps gehe aufs Haus, sagte sie im Weggehen. Nachdenklich legte ihr einziger Gast einen Schein auf den Tisch. Als er schon bei der Tür war, rief ihn die Wirtin zurück. Sie zeigte ihm ein vergilbtes, gerahmtes Schwarzweißbild, ein Hochzeitsfoto. So glücklich seien sie gewesen, so hoffnungsvoll, dabei habe der Junge kurz zuvor erst die Mutter, dann den Vater verloren, den Hof von heute auf morgen selbst bewirtschaften müssen. Seine Frau habe ihm beigestanden, froh aus der heimlichen Liebe endlich den Bund fürs Leben machen zu können. Die Wirtin schüttelte traurig den Kopf, dann riss sie sich zusammen und ssah ihn streng an. Er solle sich vorsehen und bei Dunkelheit die beleuchteten Wege, erst recht aber das Dorf nicht verlassen. Es habe in all den Jahren immer wieder mysteriöse Vorfälle gegeben, sie halte zwar nichts von Gespenstergeschichten, aber vor ein paar Jahren sei ein Tourist über Nacht spurlos verschwunden. Er versprach, vorsichtig zu sein. Scheinbar glaubte ihm die Wirtin nicht, denn sie hielt ihn weiter fest. Er müsse wissen, dass die Berge nichts verzeihen, wer hier lebe, wisse das und sei demütig, immer in der Hoffnung, nicht in Ungnade zu fallen. Er musste unwillkürlich lachen, sehr zum Missfallen der gutmütgen Frau. Hochmut komme vor dem Fall, das müsse selbst ein Norddeutscher wissen, er sei doch ein solcher, jedenfalls spreche er so, hier in den Bergen gelte die Weisheit gleich doppelt, ob er daran glaube oder nicht, das Schicksal ereile gerade den Ungläubigen. Jetzt war ihm nicht mehr zum Lachen zu Mute, urplötzlich fühlte er sich in seine Kindheit versetzt. Er musste fort von hier. Als hätte sie seine Gedanken erraten, ließ ihn die Wirtin los und scheuchte ihn hinaus.
Draußen atmete er mehrmals tief ein. Das Café kam ihm mit einem Mal düster vor, die Pension wirkte selbst schneebedeckt und im Sonnenlicht glitzernd wie verwunschen. Ein Hexenhaus, dachte er. Ja, die Märchen – auch sie waren ein Teil seiner Kindheit und seiner wundennarbigen, wundergläubigen Seele. So sehr er die Kirche inzwischen verachtete, der Glaube an eine unsterbliche Seele, der weißgott auch anderen Religionen zu eigen ist, erfüllte ihn immer noch mit Hoffnung. Was hatte das alles hier sonst für einen Sinn? Wenn es so etwas also geben soll, wohin geht die Seele? Ist es möglich, dass sie auf Erden bleibt und hier ruhelos nach Erlösung sucht? Ist er der Frau aus der tragischen Geschichte dieser Berglandschaft begegnet? Oder vielmehr ihrem Geist, ihrer Seele? Darüber grübelnd war er an der alten Dorfkirche angelangt. Davor stand ein alter Mann, der ihn mit wässrigen blauen Augen anstarrte. Mit zitterder Hand bekreuzigte er sich, blickte ängstlich an ihm vorbei und beeilte sich, den Ort zu verlassen. Als hätte der Alte den Leibhaftigen gesehen, dachte er. Aber hatte er überhaupt ihn gemeint? Oder war es etwas hinter ihm? Unwillkürlich drehte er sich um, sah aber nur ein Mädchen mit Schulranzen vorbeirennen.
Wie seltsam verlassen der Ort jetzt wirkte. Kein Auto weit und breit. Okay, es war Mittagszeit, die Läden hatten alle geschlossen, die Glocke der Turmuhr schlug. Täuschte er sich oder klang sie wie eine Totenglocke? Langsam wurde ihm unheimlich zumute, trotz seiner Daunenjacke fror er. Schnell machte er sich auf den Weg zurück ins Hotel. Jetzt würde er erst einmal gepflegt in die Sauna gehen und diesen ganzen Unsinn herausschwitzen. Wer weiß, vielleicht blieb danach noch Zeit für eine gepflegte Skiausfahrt in der Nachmittagssonne. Der Weg führte ihn an der Talstation der Karwendelbahn vorbei, wo er sich im Sportgeschäft vorsorglich Skier, Stöcke und Stiefel auslieh. Action gegen trübe Gedanken – das hatte noch immer funktioniert.
Zurück im Hotel nahm er zur Kenntnis, dass die Sauna wegen Wartungsarbeiten vorübergehend geschlossen war. Auch gut, dachte er sich, so würde er eben gleich auf die Piste gehen. Für einen entspannten Ski-Nachmittag mit ausgiebiger Kaffeepause auf der Hütte würde das ziemlich übersichtliche Skigebiet gerade ausreichen. Ursprünglich war er ja gar nicht deswegen hierher gekommen. Zu so später Stunde hatte er eine ganze Bahnkabine für sich. Allein für den Blick auf das Bergpanorama und den See lohnte sich der Aufstieg schon. Oben machte er kurzen Prozess und wählte gleich die Talabfahrt. Er meisterte sie in wenigen Schwüngen, ließ es einfach laufen. Dadurch, dass er immer wieder auf den See blicken konnte, war er nicht allzu überrascht, bereits nach zehn Minuten wieder im Tal zu sein. Wenn das so weiterging, würde er seine Skiausrüstung gleich wieder abgeben oder am nächsten Tag eine andere Region aufsuchen. Zeit für einen Einkehrschwung, sobald er wieder oben war. Etwas weiter nach rechts sollte es eine kleinere Hütte geben. Dafür musste er nur die blaue Piste nehmen und einen Ziehweg. Bloß weg von den Massen. Wo auch immer er von diesem Geheimtipp gelesen hatte, nach längerer Fahrt über einen merkwürdig einsam wirkenden und nachlässig präparierten Ziehweg fand er die Hütte tatsächlich. Sie lag etwas versteckt hinter ein paar Bäumen, schon halb im Schatten. Das, was man nicht wirklich eine Terrasse nennen konnte, war aber noch sonnenbeschienen. Drei Tische zählte er, nur an einem saß ein älterer Mann mit Pfeife, offenbar gehörte er zum Inventar.
Er zögerte nicht lange, schnallte seine Skier ab und setzte sich zu dem Alten an den Tisch, der sich nichts anmerken ließ. Nur ein Zucken seines rechten Auges verriet ein wenig Überraschung. Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, murmelte er etwas in seinen Bart und zeigte in Richtung Eingangstür. Hier gab es keinen Service, man musste drinnen bestellen. Also donnerten seine Skistiefel über die Holzplanken, er öffnete die quietschende Tür. Drinnen war es still, irgendwo tickte eine Uhr, auf dem Tresen stand eine Klingel, er drückte zweimal auf den Knopf. Sekunden später trat eine alte Frau aus der hinteren Tür und warf ihm einen fragenden Blick zu. Ob man noch eine Brettljause und ein Bier bekommen könne, fragte er. Die Frau nickte und bedeutete ihm, Platz zu nehmen. Er wollte gerade wieder nach draußen gehen, da stand der alte Mann in der Tür, deutete mit seiner Pfeife auf das Fenster zur Terrasse, sah ihn aber nicht an. Die Sonne war von dort verschwunden, fast schien es, als dämmerte es bereits. Er schaute auf die Uhr, bis zum Sonnenuntergang waren es noch fast zwei Stunden. Die Berge verzeihen nichts, die Worte der Café-Besitzerin kamen ihm in den Sinn. Nein, das täten sie nicht, hörte er die Alte hinter dem Tresen sagen, wie zum Nachdruck knallte sie den Bierkrug auf den Tresen. Hatte er laut gedacht oder konnte die Wirtin Gedanken lesen? Verwirrt nahm er das Glas und setzte sich an den Tisch. Der Alte verabschiedete sich, er gehörte wohl doch nicht zum Haus. Die Wirtin verschwand hinter der Tür, er hörte sie hantieren, da musste also die Küche sein. Wenig später kam die Alte mit einem Holzbrett heraus, brachte es ihm zusammen mit Besteck und Serviette an den Tisch. Er dankte höflich und machte sich über die reichhaltige Mahlzeit her. Erst jetzt merkte er, wie hungrig er war. Das Essen war köstlich. Leider konnte er es der Wirtin nicht sagen, sie war nirgends zu sehen. Zu gern hätte er auch noch ein weiteres Bier bestellt. Täuschte er sich oder wurde es draußen immer dunkler? Auch in der Wirtsstube. In einer Ecke schimmerte ein rotes Licht, darüber hing ein Kruzifix. Er fühlte sich plötzlich müde, hatte Mühe seine Augen offen zu halten.
Er müsse jetzt gehen! Die Wirtin stand vor seinem Tisch, hatte das Brett und das leere Bierglas in der Hand. Inzwischen brannte Licht in der kleinen Stube, draußen schimmerte es blau. Panik stieg in ihm auf. Wie konnte er hier einschlafen, jetzt würde er kaum noch zurückfinden. Hier könne er jedenfalls nicht bleiben, stellte die Wirtin fest, als hätte sie seine Gedanken erraten. Sie stellte die Sachen auf dem Tresen ab und kam mit einer vergilbten Karte zurück. Ihr von Gicht entstellter Finger deutete auf eine kaum erkennbare Linie. Das sei der einzige Weg zurück, er sei nicht gespurt, aber lawinensicher. Er solle sich vom Wald fern halten, immer an seinem Rand entlang talwärts fahren, dann könne nichts passieren. Er sei doch hoffentlich ein guter Skifahrer? Er bejahte, zahlte und verabschiedete sich. Die Wirtin geleitete ihn zur Tür hinaus, zeigte ihm die Richtung und verschwand wieder in der Hütte. Er hörte, wie sie abschloss, zweimal, dreimal. Endgültig. Noch ehe er in die Bindungen gestiegen war, erlosch im Wirtshaus das Licht. Nur einmal in seinem Leben war er im Dunkeln talwärts gefahren. Damals war er wenigstens nicht allein, seine Freunde und er hatten auf der Hütte die Zeit vergessen und mussten reichlich alkoholisiert den Heimweg antreten. Laut johlend waren sie abgefahren, wie durch ein Wunder kamen alle wohlbehalten im Tal an. Niemand sprach später über die Sache, über ihre Unvernunft und darüber, dass sie sich vor Angst beinahe in die Hose gemacht hatten. Noch war es nicht komplett dunkel geworden, aber Angst hatte er jetzt auch. Eine Scheißangst.
Der tiefe Schnee machte ihm keine Probleme. Wie er es gelernt hatte, setzte er seine Schwünge gleichmäßig, rhythmisch. Bloß nicht anhalten! Immer in der Falllinie bleiben und weg vom Wald. Zwischen den vereinzelt stehenden Bäumen blinkten die ersten Lichter. Jetzt war es nicht mehr weit, den restlichen Weg würde er schaffen, bevor die Dunkelheit ihren schwarzen Schleier vollends über die Landschaft legte. Erleichtert und mit dem Ziel vor Augen arbeitete er sich durch den Schnee. Plötzlich musste er abrupt stoppen, augenblicklich sank er in den Schnee ein. Wie gelähmt starrte er auf die Erscheinung vor ihm. Wie hatte er es vergessen können? Hatte ihn die Wirtin des Cafés nicht eindringlich gewarnt? Kalter Schweiß drang durch die Poren seiner Haut. Obwohl es jetzt fast dunkel war, erkannte er die junge Frau, spürte er, wie sie ihn ansah, während er weiter im Schnee versank. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren, das wusste er, und dennoch versuchte er reflexartig zu fliehen. Seine verzweifelten Bewegungen ließen ihn noch etwas tiefer sinken, bald stand er bis zu den Oberschenkeln im Schnee, seine Skier offenbar immer noch an den Füßen. Die Frau zog etwas hinter einem Baum hervor. Der Kinderwagen! Er schien nicht einzusinken, im Gegenteil: er schwebte oberhalb der Schneedecke, genauso wie die Frau selbst. Nein, das, was er da sah, war nichts Reales. Aber was war es dann? Was sie von ihm wolle, schrie er mit schriller, sich vor Verzweiflung überschlagender Stimme. Die Gestalt vor ihm antwortete nicht. Stattdessen beugte sie sich über den Kinderwagen und griff hinein. Was sie herausnahm, war nichts Lebendiges, sie hielt ein schmutziges, offenbar blutbeflecktes Bündel in den Armen. Ein schwaches Licht ging von ihm aus, erhellte ihr Gesicht, ihre Augen, die ihn unentwegt ansahen. Diesen Ausdruck würde er nie vergessen – wenn er überhaupt noch Zeit hatte zu vergessen…
Schmerz, Trauer, Anklage – Gefühle von unfassbarer Intensität überrollten ihn wie eine Lawine. Er erstarrte vor diesem Schicksal. Er ahnte, was mit dieser Frau geschehen war, sah jetzt klar vor Augen, wie sie sich im dichten Schneetreiben, den Kinderwagen hinter sich herziehend und nur mit einem dünnen Umhang bekleidet, den Abhang hinunter quälte, nur langsam vorankommend, immer wieder einsinkend, wie sie zurücksah und mit schreckgeweiteten Augen erkannte, was auf sie zukam, wie sie im nächsten Moment von Schneemassen erfasst, unter ihnen begraben und mit der Lawine Richtung Tal geschleudert wurde. Kurz war noch ein Teil des Kinderwagens zu sehen, der schließlich auch im eisigen Geröll verschwand. So musste es wohl gewesen sein. Noch immer sah ihn die Frau an, doch etwas schien ihren Blick verändert zu haben. Ein Hoffnungsschimmer glimmte darin auf. Mit einem Mal schloss sie die Augen, ihre Gestalt, der Kinderwagen, alles wurde plötzlich blass, durchsichtig, schließlich war dort, wo eben noch die Erscheinung gewesen war, nichts als tief verschneite Landschaft, der glitzernde Schnee ohne jede Spur. Glitzernd? Erst jetzt bemerkte er, dass der Mond aufgegangen war, er tauchte die Landschaft in blaues Licht, ließ ihn weiter blicken als zuvor. So würde er den Rest der Strecke locker schaffen. Langsam, aber stetig arbeitete er sich aus dem Tiefschnee heraus, fand seine Bretter noch an den Füßen und trat damit den Schnee um sich herum fest. Bald hatte er sich befreit und eine Art Rampe geformt. Mit einem Schwung nach vorn, setzte er sich wieder in Bewegung. Wie gut, dass er regelmäßig ins Fitnesstraining ging…
Im Hotel ging er gleich auf sein Zimmer. Der Schlaf, in den er wenig später sank, war tief und traumlos. Am nächsten Morgen begab er sich gleich zum Café Erika. Diesmal saßen ein paar Gäste da. Sie störten ihn nicht, denn er zog die überraschte Wirtin kurzerhand in die Küche, schloss die Tür und begann gleich, auf sie einzureden. Kaum dass er seine Schilderung beendet hatte, griff sie zum Telefon und keine halbe Stunde später stand ein Bergrettungsteam mit allerhand Gerät, mehreren Motorschlitten und Lawinenhunden vor der Pension. Der Chef der kleinen Truppe besah sich seinen Skianzug, nickte und bat ihn, seine Kollegen und ihn zu der Stelle zu führen, wo er, nun ja, er wisse schon. Da er insgeheim darauf gehofft hatte, zögerte er keinen Moment. Sie mussten nur seiner Spur vom Abend folgen und so fanden sie das Loch im Schnee auf Anhieb. Bei Tag wirkte alles völlig harmlos und auch die Retter versicherten ihm, alles richtig gemacht zu haben. Allerdings habe er auch Glück gehabt, denn hier bestehe immer noch eine latente Lawinengefahr. Der Chef drängte sein Team, die Umgebung möglichst vorsichtig abzusuchen. Sie wüssten ja, wonach sie suchten, sagte er. Ob die Hunde nach all den Jahren noch Witterung aufnähmen, sei allerdings fraglich. In dem Moment ertönte ein Jaulen, dann aufgeregtes Gebell und Geschrei. Etwa fünfzig Meter weiter, beugten sich die Männer über eine Stelle im Schnee. Als er sie mit dem Anführer erreichte, war die Aufregung groß, einer der Hunde war in eine Felsspalte unter dem Schnee gestürzt, allen Rufen zum Trotz war dort unten aber nichts zu hören. Das Team beschloss, einen der Männer abzuseilen, vorsichtshalber mit Maske und Sauerstoff. Immer mehr Seil mussten die Helfer nachgeben, endlich stoppte der Zug. Im Funkgerät des Chefs knackte es: Der Hund sei leider tot, aber da gäbe es noch was…
Sie heiße ebenfalls Erika, Frauenpower halt. Mit einem selbstbewussten Lächeln schenkte ihm die Wirtin des Cafés von dem Marillenschnaps nach, dem angeblich besten von ganz Tirol, selbstverständlich aus eigener Brennerei. Sie saßen wieder in der gemütlichen Nische des Lokals, das offiziell geschlossen hatte. Natürlich müsse man noch die Untersuchungen abwarten, aber alle seien überzeugt, dass es sich bei den geborgenen Überresten um die seit 68 Jahren vermisste Bäuerin und ihren Neugeborenen handle. Womöglich hatte das Kind schon nicht mehr gelebt, als sich die Mutter verzweifelt, vielleicht sogar mit Absicht, in das eisige Schneegestöber gestürzt habe. Womöglich, sie sah ihn verschwörerisch an, habe ihr Mann sie zu sich gerufen. Gar nicht weit entfernt, etwas unterhalb der jetzt erst entdeckten Höhle, habe man damals nämlich den jungen Bauern gefunden. Das Schicksal habe es wohl nicht gewollt, dass die Familie wenigstens im Tode vereint sein würde. Und vielleicht, die Wirtin wurde nachdenklich, wäre das Geheimnis besser nie aufgedeckt worden. Grimmig blickte sie zum Kruzifix in der Ecke. Er registrierte es mit Verwunderung. Dann fiel ihm wieder die Hütte ein, in der er die Zeit vergessen hatte. Die Wirtin hörte seine Schilderung mit wachsender Sorge, griff schließlich nach seiner Hand. Was auch immer er dort erlebt habe, es könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Außer der bekannten Alpin-Skihütte gebe es in dem Skigebiet keine weitere, jedenfalls keine, auf die seine Beschreibung zutraf. Im Gegenteil: Alles spreche dafür, dass sich dort, wo er glaubte gewesen zu sein, der Hof des unglückseligen Bauernpaars befunden hatte. Aber heute stehe da nicht einmal mehr eine Ruine. Er starrte sie mit offenem Mund an.
Gerade als die Wirtin ihm nachschenken wollte, erklang ein Gong. Die alte Frau erhob sich schwerfällig und schlurfte zur Tür. Die Stimme draußen kam ihm bekannt vor. Er eilte herüber – geradewegs in die Arme seiner Frau. Als hätten sie sich ewig nicht gesehen, fielen sie sich um den Hals. Die Wirtin ließ sie und zog sich zurück. Lange standen sie so da, hielten sie sich aneinander fest. Keiner sagte ein Wort, keiner wagte es, die Umklammerung zu lösen. Solange sie eins waren, konnte nichts und niemand sie trennen. Solange sie in Liebe vereint waren, fühlten sie sich sicher vor dem Schicksal der Welt.