Alter Mann

Die Stadtbahn ist schon wieder zu voll. Viel zu voll für diese Zeit – für diese Zeiten. Da nützen auch keine Masken. Wie gut, dass ich bereits geimpft bin. Prio 2, Risikogruppe – die Zipperlein eben. Noch bin ich keine sechzig. Ein Jahr bleibt mir noch. Ein weiteres verlorenes Jahr? Ich gebe zu: Dieser runde Geburtstag ist eine Bank, eine Schlachtbank. Mit sechzig ist man alt. In zehn Monaten werde ich ein alter Mann sein. Endgültig. Unabänderlich. Die Grauzone bekommt ein neues Mitglied. Sieh dir das Gruselkabinett doch an: Wie Zombies sitzen sie da, stumm, ausdruckslos, ihre schlaffen Leiber nur in Bewegung durch die ruckelnde Bahn. Die Masken verbergen nur wenig von dem Elend. Die Bahn hält. Niemand steigt aus, eine alte Frau drängt herein. Meine Chance!
Sofort stehe ich auf, ignoriere den kurzen Stich in der Bandscheibe, und biete ihr meinen Platz an. Ich überrage sie um zwei Köpfe, will mich unwillkürlich kleiner machen, buckle auf die Frau zu, sehe in ihr makellos geschminktes Gesicht, das mir jetzt gar nicht so alt vorkommt, das umrahmt ist von sorgsam frisiertem grauem Haar, welches auf die Schultern ihres augenscheinlich teuren Kostüms fällt, und während ich mich frage, was diese attraktive Frau in dieser Bahn des Grauens macht, verzieht sich der schöne Mund zu einem spöttischen Grinsen – und für einen einzigen zischend geflüsterten Satz:
„Wenn Sie sich nicht sofort wieder setzen, ramme ich Ihnen meine Handtasche in die Eier!“
Die anfahrende Bahn schleudert mich nach hinten, lässt mich hart auf den Sitz zurückprallen. Wieder das Stechen im Lendenwirbelbereich. Noch mehr schmerzen aber die Worte dieser Frau. Dabei wollte ich nur höflich sein. Wollte ich das wirklich? Die Schamesröte steigt mir ins Gesicht. Verstohlen blicke ich an der Frau vorbei, sehe die schwankenden Körper, die ausdruckslosen Gesichter, als wäre nichts geschehen. Die anderen Fahrgäste scheinen nichts mitbekommen zu haben. Und wenn schon? Immerhin habe ich noch Eier. Und nicht nur das: Meine Libido kann sich immer noch sehen lassen. Meine Antennen für schöne Frauen fahren nach wie vor zuverlässig aus. Trotzig blicke ich die Frau an. Sie sieht kühl zur Seite. Ihr Profil hat etwas Hartes, Gebieterisches. Ich mag das an Frauen. Und gleichzeitig suche ich doch nach Spuren des einstigen Mädchens in ihnen, etwas Liebliches, Versöhnliches. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich mich noch nie entscheiden, wie eine für mich passende Frau sein sollte. Bis heute nicht. Bis heute habe ich keine Partnerin – jedenfalls keine, die ich lange an meiner Seite ertragen könnte. Mittlerweile ist es wohl umgekehrt, das ist mir schon klar, aber es verletzt mich, selbst dann, wenn ich bereits eine Frustflasche Wein intus habe, den Hosenstall noch offen, das zerknüllte Küchenkrepp neben mir auf dem Sofa, den aufkeimenden Kater im Hirn, den schlechten Geschmack im trockenen Mund, mich ekelnd vor mir selbst.
Diese Frau hat recht. Wie stolz sie dort steht, wie selbstbewusst. Wie konnte ich mich nur so irren? Was um alles in der Welt hat mich auch nur eine Sekunde glauben lassen, dass so jemand etwas von mir wollen könnte – wenn auch nur meinen Platz – oder dass ich ihr behilflich sein könnte; meine Absicht war ja eine andere … Ich Idiot! Ist nicht genau das ein Zeichen fortgeschrittenen Alters: die Egozentrik, der Starrsinn, die eigene, kleine Welt? Mit zwanzig stand sie mir noch offen, machte mich unsicher zwar, aber ich war neugierig, wissbegierig, nun gut, auch etwas geltungssüchtig, aber immer auf der Suche nach Befriedigung, voller Lust und Glücksgefühle, süchtig nach Sex und dabei selber sexy, charmant, eloquent, anderen Menschen zugetan, wenn auch manchmal zum Schein und aus durchaus niederen Motiven. Wann hat sich diese lebensbejahende Lust verloren? Mit dreißig schon? Das war auch so ein runder Scheißgeburtstag. Traue keinem über dreißig, echote es aus den Tiefen meiner Erinnerung, eigentlich ein Slogan vor meiner Jugend, der Wahlspruch der Studentenbewegung, oh sorry, „Studierende“ heißt es ja jetzt. Ach Mann, sollen die Jungen gendern, dafür bin ich zu sprachverwöhnt, vielleicht auch tatsächlich zu alt. Ein alter, weißer Mann.
Wie straff sie ist! Ihr ganzer Körper wirkt drahtig, ihre Haltung diszipliniert und kerzengerade. Nun gut, sie ist nicht sehr groß, eher ein laufender Meter, jedenfalls längst nicht so ein Riese wie ich, der sich einst schlaksig zu den meist kleineren Zeitgenossen hinunterbeugte, mit einem unansehnlichen Geierhals, einem Buckel, der irgendwann blieb. Mag sein, dass die Körperhaltung auch der Softie-Welle geschuldet war, jener Strömung, gemäß der es Männern angeblich gut anstand, Gefühle zu zeigen, auch mal zu weinen, sich bescheiden zu geben, so wie die wahren Helden: Jesus, Gandhi, Quai Chang Caine. Also gut, der erste war ja eigentlich Gott und der letzte nur eine fiktive Figur, die immerhin Kung Fu konnte, wenn es darauf ankam. Ist am Ende nicht genau so ein Charakter bei den Frauen angesehen: der Kämpfer, der harte Mann, vielleicht sogar der rücksichtslose Macho? Sagt das heute noch jemand?
Ich richte mich auf, setze mich so aufrecht hin wie möglich. Es tut sogar meinem Kreuz gut. Wozu der Krampf? Ich sollte meinen Stolz einfach mal fahren lassen. Schließlich bin ich wohl der ältere von uns beiden. Ich schätze die Frau auf etwa fünfzig, aber so genau kann man das ja gar nicht mehr sagen. Die Frauen heutzutage sind tougher und sie bleiben irgendwie länger jung. Die meisten, die arrivierten und gebildeten zumal, arbeiten hart an sich, das weiß ich von meinen Kolleginnen; sie tun es mit Yoga, Pilates, Gym und was weiß ich. Und sie sind, anders als die Mütter unserer Generation, echte Vorbilder: Schon die Mädchen überflügeln die Jungen heute bei weitem, achten schon auf die wichtigen Dinge des Lebens, während ihre Altersgenossen meines Geschlechts sich noch wie präpubertäre Einzeller verhalten und offenkundig nur zwei Zustände kennen: on/off. Was machen die alle im Lockdown?
Ich will hier raus! Noch bin ich nicht an meinem Ziel, aber vielleicht tut etwas Gehen gut. Immer in Bewegung bleiben, das ist jetzt wichtiger denn je. Ich treibe eindeutig zu wenig Sport. Ach was, überhaupt keinen. Ist ja auch blöd jetzt. Mein Fitnesscenter hat schon so lange zu. Aber davor war ich eigentlich auch nicht oft da. Immer war was. Und oft war ich müde. Abgeschlafft bin ich, abgetakelt, abgewrackt.
Die Bahn bremst, ich stehe auf, ziehe mich an der Haltestange hoch. Die Frau blickt mich an, aber obwohl sie deutlich kleiner ist als ich, wirkt sie wie auf Augenhöhe, mindestens. Schnell wende ich mich in die andere Richtung, drängele mich durch den Pulk zum anderen Ausgang, stoße irgendwo an, wie so oft, wenn die Bahn bremst. Zwei junge Männer betrachten mich mitleidig.
„Ej, machsch ma langsam, alter Mann?!“
Auch mein Sprung nach draußen missglückt, das Geländer der Haltestelle drückt sich hart in die Magengegend, sodass mir kurz die Luft wegbleibt.
„Kann man Ihnen helfen, junger Mann?“ Eine alte Frau – eine wirklich alte Frau – blickt besorgt in meine Richtung.
Den „jungen Mann“ kann sie sich irgendwo hinstecken. Ich flüchte mit schnellen Schritten in Richtung Wald. Mist, warum steige ich gerade hier aus? Wie höhnisches Lachen klingt das Poltern und Quietschen der Räder auf den Schienen, als sich die Bahn in Bewegung setzt, Anlauf nimmt auf die Anhöhe. Ich hasse es, bergauf zu gehen. Mein Urlaub führt mich nicht von ungefähr regelmäßig ans Meer. Wobei ich mich eigentlich nicht gern in der Sonne bräune. Der wahre Grund ist mein Bauchansatz, für den ich mich schäme und der dann leider weiß bleibt – wie passend für Speck. Wie ich mich hasse!
Warum lässt du dich so gehen, alter Mann? Disziplin war noch nie meine Stärke. Kein Wunder, dass ich jedes Jahr ein wenig zugelegt habe, erst recht, nachdem ich vor zwanzig Jahren mit dem Rauchen aufgehört habe, meine einzige Großtat in Sachen Disziplin, die ich allerdings auf fatale Weise kompensiert habe. Nein, nicht mit Sport; das orale Bedürfnis ist mir ständig in die Quere gekommen, hat schließlich auf der ganzen Linie gesiegt. Manchmal denke ich, ich sollte wieder rauchen, aber der Zug ist abgefahren. Außerdem habe ich ja nicht geraucht, um schlank zu bleiben. Damals war ich es einfach, allen Heißhungerattacken zum Trotz. Damals habe ich aber auch mit allen Sinnen gelebt. Damals – das Keyword der Kriegsgeneration, eisernes Kreuz, altes Eisen, alter Mann.
Wütend stampfe ich los, komme schon bald außer Atem. Jogger begegnen mir, einer deutlich älter als ich, wie leichtfüßig, wie schlank! Einmal mehr hasse ich mich, vergifte mich noch an diesem miesen Gefühl, an dessen Ende doch nur Frust steht. Und weiterer Hass auf die anderen. Auf die durchtrainierten Läufer, die Radfahrerin mit dem seligen Lächeln, bestimmt eine dieser Naturtanten, die bei Tagesanbruch auf dem von Morgentau feuchten Rasen tanzt. Früher konnte ich über sowas lachen. Früher – auch so ein Signalwort. Alter Mann!
Es dämmert bereits, als ich meinen Autoschlüssel hervorfingere, ihn natürlich fallen lasse, um beim Bücken einen alten Bekannten zu begrüßen: den Schmerz. Ab nach Hause jetzt. Alles ist besser, als in diesen Zeiten unterwegs zu sein, erst recht mit der Stadtbahn. Vielleicht sollte ich mir doch die horrenden Parkgebühren in der Innenstadt gönnen. So arm bin ich nicht, dass ich es mir nicht leisten könnte. Allenfalls zu geizig. Und eigentlich auch etwas in Sorge, nämlich soziophob zu werden, nur noch einsam und virtuell unterwegs zu sein. Diese Seuche treibt einen ja geradezu in die Isolation – in meinem Fall ins Einsiedlerdasein. Du wirst seltsam, alter Mann!
Seltsam war immer der alte Nachbar meiner Kindheit. Meine Eltern haben ihn so bezeichnet. Das passiere, wenn man allein bleibe, da werde man im Alter eben seltsam. Schlimmer noch: Gerade deswegen würde keiner mehr was mit so einem zu tun haben wollen. Mag stimmen. Meine Eltern sind jedenfalls alt. Und nicht seltsam. Haben höchstens einige Eigenheiten stärker entwickelt, an denen sie sich abarbeiten – die sie sich aber immer noch verzeihen können, weil sie sich haben. Ich habe niemanden zum Verzeihen. Nicht mal mich selbst.
Frustriert drehe ich den Schlüssel herum, schalte auf R und lasse den Wagen rollen. Hinten ein lauter Knall. Ich trete auf die Bremse, blicke über die Schulter. Eine Hand hat gegen die Heckscheibe geschlagen, klebt dort immer noch. Ich öffne das Fahrertürfenster. Alkoholdunst schlägt mir entgegen.
„Alter, was für ein Depp!“ ruft ein junger Mann mit Käppi.
„Gib deinen Lappen ab, alter Mann!“, schallt es von hinten.
Gelächter ertönt, wird langsam leiser. Ich warte noch etwas, sehe mehrmals nach, ob hinten frei ist und fahre endlich das Auto aus der Parklücke. Gerade als ich duchstarten will, klopft jemand an die Scheibe der Beifahrertür. Eine Hand winkt, macht eine kurbelnde Bewegung. Ich öffne das Fenster, schreie genervt „WAS?!“
„Na na na, hatten sie keine Kinderstube?“ Ein greiser Kopf mit Schiebermütze reckt sich herein; selbst im Dämmerlicht erkenne ich die vielen Runzeln und Warzen. „Lassen Sie sich was gesagt sein: Man muss wissen, wann man aufhört.“
„Was zum Teufel meinen Sie?“ Meine Stimme überschlägt sich, mein Herz rast vor Wut.
„Na, das Autofahren. Ich bin froh, dass ich nicht mehr muss. Schönen Abend noch!“
Jetzt reicht es mir. Völlig von Sinnen drücke ich die Hupe und gebe Gas. Im Rückspiegel sehe ich, wie der alte Mann den Kopf schüttelt und die Faust nach mir reckt.
Ja, alter Mann, reg du dich nur auf …

©Martin Bensen