Normal-Null

„Es ist wie es ist. Nicht zu ändern. Trotzdem…“ Mein Vater sieht an mir vorbei ins Licht. Die Gardine vor dem festverriegelten Fenster ist beiseite gezogen, doch viel gibt der Blick nicht her: eine belebte Straße, dessen Geräusche aber nur ganz leise zu vernehmen sind, dahinter Bäume mit frischen, aber schon angegrauten Blättern. Ich habe mich mit dem Rücken zum Fenster gesetzt, in den „Ausguck“-Sessel, den ich in Richtung meines Vaters gedreht habe.
Erstmals darf ich wieder auf sein Zimmer, muss nicht mehr in den Aufenthaltsraum, hinter Plexiglas, der mich fatal an einen Besucherraum in einem Gefängnis erinnert. Ich trage Schutzkleidung, Einweghandschuhe, Gesichtsmaske, eher zum Schutz meines Vaters als zu meinem. Genau weiß ich es gar nicht. Ich bin nicht undankbar dafür, fühle mich in sicherer Distanz, ungefährdet und ungefährlich. Das Gegenlicht macht mich außerdem unkenntlich. Vor dem Licht des Fensters bin ich nur eine Silhouette, ein Schattenriss. Mein Vater sitzt in einiger Entfernung an seinem Tisch. Aber nicht in dem bereitgestellten Rollstuhl, sondern auf einem gewöhnlichen Sitzmöbel. Ob er es auch so hält, wenn er allein ist? Hier, in seinem Zimmer, nimmt er jetzt alle Mahlzeiten ein, anders als bis vor ein paar Wochen, als das gemeinschaftliche Essen noch großgeschrieben wurde – als ihm mancher Mitbewohner noch gehörig auf die Nerven ging. Ein Haufen Verrückter sei das, sie könnten ja nichts dafür, aber er wisse eigentlich nicht, was er in dieser Irrenanstalt zu suchen habe. Sätze wie diese endeten regelmäßig in der Sackgasse, machten den baldigen Abschied klamm, stellten am Ende den ganzen Besuch in Frage. Meine Frau begleitet mich deshalb schon lange nicht mehr.

Diesmal sagt er nichts dergleichen. Er schweigt wieder. Noch mehr als sonst. Ist das jetzt seine Art der Anklage? Sein stiller Protest, unaufdringlich und dadurch erst wirkungsvoll? Ich weiß, dass seine Mitmenschen, die anderen Heimbewohner, ihm zusetzen. Ihre Penetranz, manche Grenzüberschreitung oder auch nur ihre unbedarfte Anwesenheit, von er sich nicht ablenken kann, über die er, der gebildete Schöngeist, nicht hinwegsehen kann. Und jetzt? Seit Wochen sitzt er in „Einzelhaft“. Gewiss, er braucht sie alle nicht. Auch seine Freunde sind lange schon Vergangenheit, niemand außer mir besucht ihn noch. Hat er sie nicht alle vertrieben und schon zuvor immer auf Abstand gehalten? Nicht nur, dass mit dem Tod meiner Mutter der soziale Kitt bröckelte – ein ums andere Mal ergriff zunehmender Altersstarrsinn Besitz von ihm, vergiftete nach und nach jede gesellige Runde, ließ seine sozialen Kontakte absterben wie eine vertrocknende Wiese. Die wenigen treuen Freunde, genau zwei an der Zahl, servierte er endgültig ab, als er vor drei Jahren in dieses Heim zog, eine überraschende, aber unumstößliche Entscheidung, die er wegen seiner körperlichen Gebrechen als alternativlos betrachtete, für deren Folgen er sich gleichwohl schämte. Ich war klug genug, ihn nie danach zu fragen, geschweige denn, ihn zu alten oder neuen Sozialkontakten zu ermuntern. Seine Leute seien ja nun fast alle tot, hat er neulich noch gesagt, beiläufig, so wie meine Großmutter, die jede Todesanzeige scheinbar ungerührt, beinahe bestätigend zur Kenntnis nahm, als sei jede von ihnen ein Jahresring des eigenen absterbenden Lebensbaumes.

Er sei Einsamkeit gewohnt. Das Leben habe ihm viel geschenkt, das meiste davon aber nach der Reihe wieder kassiert. „Manche machen mehr aus ihrem Kredit“, hat er oft gesagt und mich, seinen einzigen Sohn, dabei angeblickt, als gehörte gerade ich zu seinen Verlusten – für ihn weniger eine emotionale als vielmehr buchhalterische Betrachtungsweise. Dabei hat er, der stets disziplinierte Gymnasiallehrer für Deutsch und Latein, mich nur wie einen Schüler behandelt, mich zwar studieren lassen, ansonsten aber zu nichts ermutigt, weder getadelt noch gelobt. Keine Ahnung, ob ich es ihm recht gemacht habe mit einer ordentlichen Anstellung, die mir zwar ein bescheidenes, aber auskömmliches Leben ermöglichte, wenn auch nicht die gewünschte Erfüllung brachte: Meine Ehe blieb kinderlos und ist heute zudem leidenschaftslos. Ein Leben nach Plan, ohne Höhen und Tiefen, aber auch ohne Ecken und Kanten. Das habe ich von ihm. Wie er sehe ich die Dinge meist nüchtern, was nicht automatisch sachlich heißt, eher eben frei von Emotionen. Mit solchen tun wir uns beide schwer, anders als meine Mutter, die wenig gebildet, aber klug war – und umso leidenschaftlicher. Sie schaffte es immer wieder, uns aus unserem hirnschweren Grau zu zerren und wenigstens vorübergehend so etwas Albernes wie Spaß zu empfinden. Sie fehlt mir. Schon so lange. Mein Vater nicht.

Fehle ich ihm? Gerade jetzt, wo ich ihn wochenlang nicht besuchen konnte, ihn nur ein paarmal angerufen habe, die einzige Möglichkeit der Kontaktaufnahme, weil er nie im digitalen Zeitalter angekommen ist. Unnahbar war er dann, wie ein Beamter einer Behörde, wie immer eigentlich. Auch heute, bei meinem ersten Besuch seit Wochen, wage ich nicht, ihn zu fragen. Wenn ich ehrlich bin, interessiert es mich auch nicht. Und wenn, dann auf eine eher allgemeine Weise, zum Beleg für etwas, das ich in diesen Tagen gelesen habe. Dabei ging es um „Kollateralschäden“ der Corona-Krise, darum, was die strengen Beschränkungen mit alten und gefährdeten Menschen macht, im besonderen mit denen in Alten- und Pflegeheimen. Sofern wir uns nicht hinter unseren Zeitungsseiten verbarrikadierten, blickte mich meine Frau beim Frühstück – der einzigen Gelegenheit ansatzweiser Kommunikation – zweifelnd an, wenn ich vorgab, schon auch etwas in Sorge zu sein um meinen Vater. Sie fragte nicht, ob es mir etwas ausmachte, ihn nicht sehen zu können. Erst recht wollte sie nicht wissen, wie es meinem Vater geht. Eigentlich interessierte es mich auch nicht, jedenfalls nicht aus einem Impuls aufrichtiger Fürsorge oder gar Sorge heraus.

Diese Augen werden nie weinen. Sie tun nur so. Immer schon wirkten sie wässrig, vielleicht wegen ihrer blassblauen Iris, der milchigen Augäpfel, seiner bereits in jungen Jahren vorhandenen Tränensäcke. Von Schülern seines Unterrichts weiß ich, dass sie meinen Vater fürchteten, umso mehr, je ruhiger er wurde und je glitzernder seine Augen, kurz bevor irgendetwas Unheilvolles folgte, eine Sanktion oder ein unvermittelter, lauter Stockschlag auf das Pult. Geschlagen hat er nie jemanden, auch mich nicht. Seine Waffe war stets die Ungnade. Er ließ sie einen direkt spüren, indem er den Delinquenten mit schneidender Nichtachtung strafte, mit eisigem Schweigen und stählerner Miene, unerbittlich, oft tagelang, bis der Sühne genüge getan war. Am Ende wusste ich eigentlich nie, was so schlimm daran war. Auch sonst warf er ja nicht mit Güte oder gar Liebe um sich. Lediglich meiner Mutter gegenüber konnte sein Gesichtsausdruck weich werden, zwar weit entfernt von dem, was ich aus Filmen über den Ausdruck von Liebe zwischen Mann und Frau lernte, aber immerhin so viel, dass es bemerkenswert war. Trotzdem sah ich ihn auch an ihrem Grab nicht weinen.

Wo sonst hätte mein Vater mir nah sein können als am Grab meiner Mutter, seiner Frau. War er aber nicht. War es nie zuvor und nie später. Bis heute. Jetzt sieht er mit seinen wässrigen Augen an mir vorbei, durch mich hindurch, ins Nirgendwo. Eines der unzähligen Wörter mit N, die mir noch immer wehtun. Wie viele Hefte, Bücher, Bänke habe ich mit diesem Buchstaben verunziert, mir den Tadel meines Klassenlehrers, das Unverständnis meines Vaters eingehandelt? Nomen est omen, wie der Lateiner sagt, aber warum muss dieser vierzehnte Buchstabe des Alphabets ausgerechnet Initial meinens Vor- und Nachnamens sein? Alliteration des Spotts, Abkürzung eines noch Namenlosen: Norbert Noll – Nomen nominandum, kurz N.N. Meine Mutter lachte nur, als ich schließlich begriff, was mir mein Vater mit seiner Namenswahl angetan hat – er selbst heißt Albert. Wenigstens einen zweiten Vornamen hätten sie mir gönnen können, doch auch diese Klage lächelte meine Mutter weg. Der Name sei pure Poesie pflichtete sie meinem Vater bei. Meine Mitschüler sahen das anders, erst recht, als meine Initialen erstmals in einem noch vorläufigen Stundenplan auftauchten und natürlich nicht mich meinten, sondern besagte Abkürzung für einen noch einzusetzenden Lehrernamen. Norbert Noll, eine Nullnummer, Normal-Null in Erdkunde, Genotyp N/N in Biologie, immerhin etwas Gesundes, die natürliche Zahl N in Mathe, das Element N für Stickstoff in Chemie, das Neutrum in deutscher Grammatik. Verzweifelt versuchte ich solchen Reduktionen und den Niederungen der vielen negativen Wörter zu entgehen, stattdessen positive mit N zu finden. Anfangs brüllte ich sie dem Spott derer entgegen, die unermüdlich immer neue Bezeichnungen anstelle meines Vornamens nominierten: Nackedei, Nasenficker, Nippellutscher oder auch Dr. No No – eine Übermacht nichtswürdiger Wörter und Namen, eine niemals versiegende Kakophonie der Niedertracht.

N wie Nähe – sie empfand ich nur zu meiner Mutter, am Anfang auch zu meiner Frau. N muss abnehmen, damit A größer wird. A – der Abstand zwischen zwei Menschen. 1,5 Meter, vielleicht besser zwei. Social distancing war mir schon vorher geläufig, nicht erst seit Corona. Selbst zuhause schlafen wir schon lange nicht mehr in einem Bett. Wir schnarchen beide, stören uns gegenseitig. Nähe ist negativ, Distanz gut – je mehr, desto besser und ganz weg sein am besten. Mit den Abstandsregeln habe ich also kein Problem. Wieso jetzt mein Vater? Hat er das gerade wirklich gesagt? „Trotzdem…“ Das Wort hallt noch nach. Hat er mit dem Bein aufgestampft, dem nicht ganz so kaputten? Sei nicht kindisch, denke ich, und meine halb ihn, halb mich. Es hat sich doch überhaupt nichts geändert. Die Zwangspause hat uns sogar gut getan, oder etwa nicht? Mir zweifellos. Soll ich ihn doch noch fragen, wie es ihm geht, nochmal richtig, jedenfalls aufrichtiger als zur Begrüßung? Da hat er sich gleich abgewendet, weil ich ihm bei meinem Eintreten zu nahe kam, erst zwischen ihm am Tisch und dem Bett vorbei ins Zimmer musste. Keine Gegenfrage, keine Antwort. Nur dieses Schweigen. Dazwischen ein kurzer, nüchterner Vortrag über unsere, nein, über seine Situation, gefolgt von diesem seltsam emotionalen, fast kindlichen „Trotzdem“.

Ich frage ihn nicht. Die Tür geht auf, eine Pflegerin in Schutzkleidung bringt ein Tablett. Das Abendessen. Sind wirklich zwei Stunden vergangen? Die Augen oberhalb ihrer OP-Maske sehen müde aus, nehmen keine Notiz von mir. Als die Tür sich schnell wieder schließt, beginnt mein Vater zu essen. Jetzt wird er erst recht nicht mehr sprechen. Wie früher. Bei Tisch durfte nicht geschwatzt werden, schon gar nicht gelacht. Er hustet, hat sich an seinem Hagebuttentee verschluckt. Ich stehe auf, halte mich gerade noch zurück, auf seinen Rücken zu klopfen. Zu nah. Auch nicht sinnvoll, sogar schädlich, wie mein Vater schon früher dozierte. Ich bin mir nicht sicher, muss an das Abklopfen der Lunge beim Arzt denken. Obwohl ich jetzt dastehe, würdigt mich mein Vater keines Blickes. Er isst. Das Husten hat aufgehört. Auch jetzt höre ich ihn weder schlürfen noch schmatzen, seinen Dritten zum Trotz. Diszipliniert wie früher sitzt er am Tisch, aufrecht und stoisch. Unnahbar. Ich wünsche ihm einen guten Appetit, er nickt. Ich rücke den Sessel wieder zum Fenster und frage ihn, ob er noch etwas braucht, er schüttelt den Kopf. Ich verabschiede mich, sage ihm, dass ich ihn bald wieder besuchen werde. Er wendet sich ab. Das ist neu. Sonst alles wie immer. Alles normal. Normal-Null.

©Martin Bensen