An die Mauer

„Wasser marsch“, sagt mein Freund. Und: „Ahhh …“
Wir stehen an der alten, mondbeschienenen Friedhofsmauer, die helle Glocke der Kirchturmuhr hat dreimal geschlagen; es ist wieder spät geworden. Wir haben das Wasser nicht mehr halten können, die nächstbeste Stelle gesucht. Wie immer nach unserer Kneipentour sind wir ganz schön besoffen. Ein Spaziergang würde uns jetzt gut tun, haben wir uns gesagt. Nur ein paar hundert Meter weiter beginnt schon der Wald. Ein besserer Ort für sowas. Aber der Druck war zu groß. Ausgerechnet die Friedhofsmauer. Durch meinen Nebel steigt Scham auf. Ich beginne zu schwanken.

Wie seltsam. Ich hasse dieses Stehpinkeln in Reihe, es blockiert mich eigentlich selbst dann, wenn ich ganz alleine an der Rinne oder am Urinal stehe. Zu groß ist die Furcht, es könne in jedem Moment jemand reinkommen. Wäre ein Klosett besetzt, ginge gleich gar nichts. Obwohl ich Druck habe, obwohl die Blase bis zum Bersten gefüllt ist. Idiot, schelte ich mich jedesmal, was es natürlich nicht besser macht. Wie habe ich eigentlich die Bundeswehrzeit durchgestanden?

Heute läufts. Nun gut, mein Freund ist mir vertraut. Wir haben uns durch den Abend gelacht, uns königlich amüsiert. In den meisten Momenten jedenfalls. Wie immer. Wie selten. Leider bleibt uns nicht mehr so viel Zeit wie noch im Studium. Jetzt, da unser Berufsleben gerade Fahrt aufgenommen hat, haben wir nur noch Arbeit, viel Arbeit. Wir fallen abends müde ins Sofa, holen uns spätestens bei den „Tagesthemen“ die erste Runde Schlaf. Er hat mir gestanden, dass es ihm genauso geht. Irgendwie schämen wir uns dafür. Wir sind doch noch so jung. Aber man lutscht uns aus. Wir wollen es ja so. Unsere Frauen arbeiten auch, genauso hart sogar, denn wir haben alle gute Jobs bekommen, aber irgendwas machen sie anders. Besser.
Unsere Frauen waren es, die uns zum „Zug durch die Gemeinde“ ermuntert haben. Warum wohl? Mein Freund hat die Stirn gerunzelt, einen tiefen Schluck genommen, und eine Weile nichts mehr gesagt. Wir schämen uns. Auch darüber. Niemals hätten wir uns unser Herz ausgeschüttet, uns eingestanden, dass die berufliche Potenz nun mal zu Lasten der sexuellen geht. Niemals hätte der eine den anderen gefragt, wie oft noch … Nur vage Andeutungen, beredtes Schweigen. Schamvolle Stille. Ob unsere Frauen über sowas reden – über uns Männer?

Für die anderen Typen in der Studentenkneipe sind wir schon die „Alten“, schlimmstenfalls hält man uns für Dozenten, die man wenn nicht kennen, so doch meiden sollte. Wie jetzt uns. An unserem Tisch wäre noch Platz. Beim vierten Bier werde ich melancholisch. Mein Freund grinst nur.
„Willst du jetzt noch da stehen, wo die erst sind? Nochmal den ganzen Mist durchkauen, sich mit den Wichsern von Profs anlegen, um jeden Credit betteln. Oh no, wir sind sooo viel weiter, mein Lieber. Darauf trinken wir!“ Er hebt das Glas, lässt es aber gleich wieder sinken.

Schweigend kämpfen wir uns durch unsere düstere Phase, lassen das Bier darüber fast schal werden. Ich muss an mein Studium denken. Meine Magisterarbeit behandelt die Geschichte unserer Stadt zu Beginn des Nationalsozialismus. Sie analysiert, wie vor allem die jungen Menschen nach Perspektive verlangten, wie einer nach dem anderen eine bekam, neuen Mut, Kraft und Stärke, Kameradschaft und Zusammenhalt. Andere verschwanden spurlos, retteten sich im besten Fall durch Flucht. Warum habe ich in den Archiven nur so wenig über Mädchen und Frauen gefunden? Sind wir letztlich immer noch so? Sind es wieder nur die Männer, die von einer neuen Ordnung träumen, an ihren Stammtischen, im Netz und auf Demos. Ja, aber eher alte Männer, oft gescheitert und vom Leben enttäuscht. Oder unsicher und orientierungslos, oft ordnungsliebend, nach einer Form der Gerechtigkeit strebend, die von oben kommt, von einem Führer, der das Gezänk und die Unfähigkeit der Parteien beendet, das ewige Gerede, dem nun endlich Taten folgen müssten – eine sehr große, nämlich Schluss zu machen mit dem Liberalismus, der das deutsche Volk so versaut.

Einmal, noch während der Studienzeit, sind wir aus Jux in eine schwülwarme Tabledance-Bar gestolpert, haben zehn Euro für zehn „Dollar“ bezahlt, von denen wir uns gerade ein Getränk kaufen konnten, was uns schon argwöhnisch ausgegeben wurde. Die „Tänzerinnen“ auf dem Hufeisen der Bar aber wollten Cash, harte Währung, Scheine – die wir nicht mehr hatten. Wir büßten dafür: Immer wieder knallte der Absatz einer besonders drallen Frau auf den schweren, mit Granit ausgelegten Tresen vor uns. Tritte wie Schüsse. Unwillkürlich hielt ich mir die Ohren zu, während mein Freund seelenruhig dasaß und mit rotweinschweren Lidern ins Leere starrte. Neben ihm eine Traube von Menschen, ein dicker Mann und mindestens fünf Frauen um ihn herum. Er zeigte es uns. Aus einem Geldbündel zog er immer wieder Scheine, Zwanziger, Fünfziger, sogar einen Hunderter. Die strapsige Frau funkelte mich an, stampfte vor zu dem Dicken, beugte sich zu ihm herab, als dieser einen gefalteten Schein in den Mund nahm wie eine Zigarette und der „Tänzerin“ in den tiefen Ausschnitt steckte, dabei ihren dicken Busen küsste, während seine Nase in den engen Schlitz zwischen den Brüsten eindrang, als sei sie sein Penis. Wie die Nase eines Mannes, so sein Johannes, hörte ich meinen ordinären Onkel aus Kindheitstagen sagen. Das Harem des Dicken johlte verzückt. Ich hatte genug gesehen, weckte meinen Freund, der tatsächlich eingeschlafen war, und wir machten, dass wir fortkamen.

Immerhin sind wir heute beim Bier geblieben. Die Shots haben sich in Grenzen gehalten. Das lässt uns zwar mächtig strullen, aber nicht kraftlos werden. Wir werden die paar Kilometer noch durchstehen.
„Oder sollen wir unsere Frauen anrufen?“ Mein Freund blickt nicht einmal zur Seite.
Unsere Mauerbestrahlung endet fast gleichzeitig. Wir tropfen ab, verpacken sie wieder und ziehen unsere Reißverschlüsse hoch. Pinkelsynchron, Synchronpinkeln. Choreografie alternder Männer. Verdammt, wir sind jung! Mit uns muss gerechnet werden! Wir können die Welt aus den Angeln heben. Ein Stück weiter links an der Mauer blinkt ein Messingschild im gelben Laternenlicht. Ich muss es nicht lesen, denn schlagartig fällt mir wieder ein, was hier vor vielen Jahren passiert ist – als die Friedhofsmauer auf das brutalste entweiht wurde. Und auch wenn unsere Aktion gerade eben Pipifax dagegen ist, schäme ich mich jetzt noch mehr.

Was denn sei, will mein Freund wissen. Ich kann zunächst nicht anworten. Erst als wir schon tief im Wald sind und schon nahe unserer Siedlung, platzt es aus mir heraus, geradewegs in den Schluckauf meines Wegbegleiters. Wie habe ich das nur vergessen können. All das, was ich in meiner Magisterarbeit ausgebreitet habe, mündete am Ende genau darin: Selbst als der Krieg schon verloren war, sichtbar für alle, waren es genau die Jungen, die vor dem Nichts standen, den Glauben verloren, für den sie überhaupt gelebt hatten, für den sie in einem letzten trotzigen Aufbäumen immer noch kämpften – gegen die, die es besser wussten, die eigenen Landsleute. Eben an dieser Friedhofsmauer starben die letzten Deutschen – „Deserteure, Defästisten, Vaterlandsverräter“. An die Wand gestellt und aus kurzer Distanz erschossen, in dem Glauben, auch jetzt noch das Richtige zu tun. Man ließ die Leichen liegen, gab einzelnen zuckenden, stöhnenden Körpern noch einen Kopfschuss. Wo die Toten heute begraben sind, weiß keiner. Nicht auf diesem Friedhof jedenfalls.
„Feuer!“, schallte es in jener Nacht an jener Mauer, so sicher wie das Amen in der Kirche. Schweigend verabschieden wir uns.

©Martin Bensen