Montpellier

(Ein Kapitel aus meinem neuen Romanprojekt,
das in den Achtzigern spielt)

»Warum hast du denn nicht angerufen, du Heiopei?« Rike trägt ihr Herz auf der Zunge wie viele aus dem Ruhrpott. Heiopei (ungefähr: Dummkopf oder Trottel) ist ein typischer Ausdruck von da. Rike benutzt ihn oft und gerne, und Tom hat gleich heimatliche Gefühle. Sie will ihn gar nicht loslassen, ihr Kopf liegt an seiner Brust, sein Rucksack zu seinen Füßen.
Sie stehen unter der hellen, nackten Glühbirne in der Wohnküche ihrer WG, halten sich in den Armen, als ob es nie eine »Sendepause« zwischen ihnen gegeben hätte und ein bisschen auch, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Er hat sie vermisst, ihr spitzbübisches Lächeln, ihren frechen Blick, ihre offenherzige Art, die ihm bei ihrer ersten Begegnung gleich aufgefallen sind. Das war im Oktober 1982. 

Sie haben in einem Pulk von Erstsemestern vor dem Sprechzimmer des Dozenten gestanden, da hat Tom noch einen Vollbart gehabt, aber eben auch kurze Haare vom gerade erst beendeten Wehrdienst. Er hat ganz vorne gestanden, mit dem Rücken zur Tür, sie weiter hinten, ihre Blicke haben sich immer wieder getroffen. Tom hat die meisten Studenten überragt, die sich alle für das Heine-Proseminar anmelden wollten. Sie hat gelacht, als die Tür nachgegeben hat und ihn fast zu Fall gebracht hätte.
Er hat nach der Anmeldung auf sie gewartet. Sie hat sich darüber gefreut. Sie sind auf einen Kaffee in den Kakaobunker gegangen, haben sich gleich gut verstanden. Beim nächsten Mal ist sein Bart ab gewesen, ihr hat das gefallen. So »nackt« könne sie ihn besser von den anderen Kommilitonen unterscheiden, hat sie gefeixt, und beide haben sich über bärtige Bärchen und grün-alternative Mausezähne mokiert, sich später im Seminar gegenübergesessen und größte Mühe gehabt, sich nicht anzusehen und ihren Lachreiz zu unterdrücken – Rike und Tom auf einer Wellenlänge.

Sie hat sich verändert, ihre Haare sind länger, blonder, das Lächeln, mit dem sie ihn empfängt, ist schüchtern, aber irgendwie freier. Überhaupt wirkt sie reifer auf ihn. Aber vielleicht täuscht er sich auch, weil sich alles hier fremd anfühlt, die Gerüche, die ein bisschen orientalisch anmuten, die Geräusche, Rufe, die er nicht versteht, die ihm auch nicht französisch vorkommen, die Gassen der Altstadt, in denen er sich orientieren musste. Zuletzt, auf sich allein gestellt, hat er sich ganz passabel geschlagen, den Weg fast traumwandlerisch gefunden, aber die anstrengende Reise hat ihn geschlaucht, er hat Hunger und Durst, ist todmüde.
»Eh voilà! Enfin, l’ami allemand est arrivé!« Eine junge Frau in einem pinkfarbenen Kunstpelz-Mantel steht in der Tür und grinst die beiden an, die sich wie ertappt voneinander lösen. Beide lachen verlegen.
»Das ist Nadja, meine Mitbewohnerin«, sagt Rike.
»Bon soir, je suis Tom«, sagt Tom.
Nadja grinst noch frecher. Dazu passt ihr zu einem Pinsel hochgestecktes schwarzes Haar, sie trägt lilafarbene Strümpfe und türkisfarbene Stiefeletten. Auf Tom wirkt sie wie eine Künstlerin.
Wie süß sie lächelt mit ihren Grübchen, den freundlich funkelnden blauen Augen. Aber sie wirkt etwas abgedreht. Ein bisschen wie »Betty Blue« aus dem französischen Film.
Sie gibt ihm die Hand. »Keine Angst, wir können deutsch sprechen, ich komme aus Heidelberg.«
Jetzt bemerkt er ihre leichte Dialektfärbung. Die erinnert ihn an Wolle, den arbeitslosen Metzger aus der Doesbecker Nachbarschaft, der so gerne in ihrer Band mitgemacht hätte, den sie auf Abstand gehalten und irgendwie auch ausgenutzt haben. Tom schüttelt den Anflug von schlechtem Gewissen ab. »Freut mich!«
Nadja knallt ihre Jutetasche auf die Steinplatte des Spültisches, packt ein Baguette, zwei Dosen geschälte Tomaten, Zwiebeln und einen Bund Karotten aus.»Ich hoffe, du magst Spaghetti Bolognese. Dauert aber noch n bissel. Ich bin leider in der Uni aufgehalten worden.«
»Ich wusste ja nicht, wann du kommst«, sagt Rike mit einem entschuldigenden Achselzucken Richtung Tom. »Sonst hätte ich auch was einkaufen können.«
»Oh Mist«, sagt Nadja. »Ich bin en Schlambammbl! Ich hab das Fleisch vergessen. Jetzt hat die Boucherie natürlich zu. Planänderung: Spaghetti Napoli! Geht auch schneller.«
Rike und Nadja kichern gleichzeitig los. Tom verzieht nur den Mund. Ihm ist alles recht, sein Magen ist wie ein Schwarzes Loch, bereit, alles zu verschlingen.
»Komm, ich zeig dir dein Zimmer«, sagt Rike. »Nach dem Essen fällste sicher gleich ins Bett, so wie du aussiehst.«
Das Bett ist nur eine Matratze auf dem nackten und ziemlich ramponierten Holzboden. Bis auf eine Kommode und eine Kleiderstange mit Bügeln ist das Zimmer leer. Das einzige Licht kommt von einer Glühbirne an der hohen Decke mit Stuckrahmen. Es riecht nach feuchtem Mörtel und es ist ziemlich kühl.
»Ganz schön schattig hier, wa?« Rike übt sich immer noch im Gedankenlesen. »Hier wohnt eigentlich Sybille, aber sie ist schon seit zig Wochen in Paris. Ihr Vater zahlt trotzdem noch die Miete für ihr Zimmer hier.«
Tom merkt auf. »Ist das die Sybille, die ich mal mitgenommen habe?«
Rike nickt nur, mustert ihn mit wissendem Blick.
»Aber die wollte doch nach Lyon.«
»Sybille ist ein heißer Feger. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber die Männer fliegen total auf sie. Du ja auch, oder?«
»War ja klar, dass das jetzt kommt. Aber stimmt. Ich fand sie ziemlich anziehend. Meine Ex hat das total genervt.«
»Sybille hat sowas angedeutet«, sagt Rike grinsend.
»Ach, das sind alte Geschichten. Ich bin so froh, dass wir uns wiedersehen, dass ich hier in Montpellier bin.«
»Und ich erst. Lass uns mal so richtig reden, wie früher, aber nicht heute Abend, du siehst echt müde aus. Du musst mir unbedingt erzählen, wie es dir in der Zwischenzeit ergangen ist.«
»Deckst du schon mal den Tisch, Rike?«, ruft Nadja aus der Küche.

Die Nudeln schmecken köstlich und sie fallen Tom nur so in den leeren Magen. Er merkt gar nicht, dass die beiden Frauen nur eine Mini-Portion essen und sich darüber amüsieren, mit welchem Heißhunger er die Spaghetti verschlingt. Statt Wasser trinkt er Glas um Glas von dem französischen Rotwein, der ihm so gut schmeckt, wie noch kein anderer zuvor. Am Ende sitzt er einfach nur da, den Mund noch mit Tomatensauce verschmiert, die Augen glasig vom Wein; der Kopf wird ihm so schwer, dass er ständig vornüber kippt und auf die Tischplatte zu knallen droht. Rike und Nadja verhindern Schlimmeres, wischen ihm den Mund ab wie einem kleinen Kind und geleiten den wankenden Tom zu seiner Matratze, wo er in voller Montur augenblicklich einschläft.
»Bonne nuit et fais des beaux rêves«, sagt Nadja lachend und verschwindet wieder Richtung Küche. Rike kniet noch eine Weile vor dem schlafenden Tom. Schließlich erhebt sie sich in einer einzigen geschmeidigen Bewegung. Sie hat früher Ballett getanzt.

Am nächsten Morgen wird er durch ein lautes, schrilles Geräusch geweckt. Erst weiß er nicht, wo er ist. Auf seiner Armbanduhr ist es kurz nach zehn. Er hat Kopfschmerzen und einen üblen Geschmack im Mund. Dann fällt ihm alles wieder ein, die lange Reise, die Ankunft in Montpellier, Rike, Nadja, das Essen – der Wein. Er muss total betrunken gewesen sein. Er erinnert sich nicht, wie er ins Bett gekommen ist, registriert verärgert, dass er noch komplett angezogen ist. Ob es hier eine warme Dusche gibt? Selbst unter der Decke ist ihm kalt. Wieder ertönt das schrille Geräusch, die Türklingel. Jemand klopft an die Tür, ruft etwas, eine Frauenstimme. Mit heftigem Pochen hinter der Stirn steht er auf, knickt leicht weg, fängt sich. Das Klopfen hat aufgehört, im Flur hört er, wie sich Schritte im Treppenhaus entfernen. Er geht in die Küche, in der es noch leicht nach Essen und Alkohol riecht, was er jetzt nicht gut erträgt. Auf dem Küchentisch steht eine Flasche Evian, davor liegt eine Packung Aspirin, außerdem ein Zettel mit Rikes vertrauter Schrift:
Bonjour Tom! Nimm, was du brauchst. Komm doch zum Mittagessen in die Mensa, 13 Uhr. Uniplan ist an der Pinnwand. Rike
Als allererstes packt Tom seinen Rucksack aus, dann putzt er sich gründlich die Zähne und duscht. Er zieht frische Sachen an und fühlt sich gleich wie ein anderer Mensch. In der Küche findet er Kaffeepulver, einen ziemlich ramponierten Espressokocher. Gerade als der Kaffee durch ist und Tom zum finalen Abschuss seines Katers ansetzen will, geht wieder die unsägliche Türklingel, gleich darauf klopft jemand gegen die Tür, diesmal etwas leiser. Es nützt nichts, er öffnet endlich.
Vor ihm steht eine Französin wie aus dem Bilderbuch, jedenfalls in seiner Vorstellung: klein, süß, blondes Haar, Pagenschnitt, rote Lippen, ungefähr sein Alter. Sie verzieht ihre Lippen zu einem breiten Grinsen, entblößt wunderschöne, weiße Zähne.
»Bonjour, mon grand, je peux entrer?«
»Oh, wie unhöflich«, sagt Tom auf Deutsch und tritt zur Seite. »Äh, pardon. Yes. Je, je …« Weiter kommt er nicht.
»Merci«, sagt die schöne Frau, geht einfach in die Küche, legt ihren Mantel über eine Stuhllehne und setzt sich an den Tisch.
»Gabi«, sagt sie mit Betonung auf dem I.
»Tom«, sagt er.
»L’ami de Rike, je sais. Ravie de te rencontrer.«
»Oh, oui …«, sagt er nur, weil er keine Erwiderung darauf kennt.
In der Küche breitet sich Schweigen aus. Durch das geschlossene Fenster dringen gedämpfte Rufe von Kindern, eine Frau scheint zu schimpfen.
Wieso hat er seinen kleinen Langenscheidt nicht mitgenommen, dann könnte er jetzt wenigstens nachschlagen. Er steht vor der Anrichte und weiß nicht, was er sagen soll. Gabi sieht an seiner Hüfte vorbei auf den Kaffeekocher. Idiot, denkt er und fragt sie natürlich.
»Voulez-vous … Est-ce que tu veux du café?«
Gabi nickt anerkennend. »Ah, tu parles bien français! Oui, oui, un café serait parfait…«
Den Rest versteht Tom nicht mehr. Während sie drauflos plappert, geht sie zum Kühlschrank, holt eine Flasche Milch heraus, greift aus dem Regal daneben eine Schale, gießt Milch und Kaffee hinein, nimmt sie mit beiden Händen und trinkt einen Schluck. Über den Rand der Schale sieht sie ihn neugierig an, trinkt weiter und sagt nichts mehr. Er grinst blöd, findet sich wieder zu groß, wäre lieber auf Augenhöhe mit dieser schönen Frau. Er trinkt auch, schluckt hart, wendet den Blick verschämt ab. Sie lächelt, geht mit ihrer Schale an den Tisch zurück. Er setzt sich zu ihr.
»Rike et Nadja ne sont pas là, elles sont …«, versucht er einen weiteren Anlauf zur Konversation.
»Oui, oui. Pas de problème …«
Schon hängt Tom wieder ab. Sie redet in einer Geschwindigkeit, dass er beim besten Willen nichts versteht. Er ahnt, dass selbst ein besseres Schulfranzösisch nicht ausgereicht hätte, um eine Unterhaltung zu führen. Sie verwendet Wörter, die er noch nie gehört hat, immer wieder einen Begriff, der sich wie »trück« anhört. Es ist, als ob sie singt, die Wörter verbinden sich wie Perlen an einer Kette, es scheint ihm, als hörte er einem zauberhaften Gesang zu, einer wunderschönen Musik, die er aber nicht entschlüsseln kann.
»C’est ca!« Gabi sieht ihn an.
Was für schöne Augen! Was hat sie nur gesagt? Hat sie mich etwas gefragt? Was soll ich jetzt sagen?
Das, was er sonst auch immer sagt, zuletzt am Bahnhof in Nîmes: »Pardon, vous, äh, tu peut parler un peu …« Die dritte Unhöflichkeit.
»Un peu plus lentement? Bien sûr, excuse-moi.«
Sie sieht enttäuscht aus. Wieder hängt ihr Schweigen wie ein schwerer Vorhang zwischen ihnen. Draußen ist es jetzt still. Tom ärgert sich, sucht krampfhaft nach Vokabeln, findet keine. Er möchte Gabi gerne nach ihrem Studium fragen und von sich erzählen, davon, wie er zu Rike steht und warum er hier ist. Auf Deutsch kann er gut erzählen und er ist ja alles andere als oberflächlich.
Da sitzt eine schöne Frau und ich kann nicht mit ihr reden, was für ein Jammer! Ob sie vielleicht Englisch …? Dass ich darauf nicht früher gekommen bin!
Er fragt sie.
Aber sie schüttelt nur den Kopf.
Wieder schweigen sie. Plötzlich legt Gabi eine Hand auf seinen Arm, sieht ihm in die Augen, ihm wird ganz anders. Vielleicht ahnt sie, was in ihm vorgeht. Oder kann sie auch Gedanken lesen wie vermutlich Rike? Sie zieht ihre Hand zurück (nein, bitte nicht!), trinkt ihre Schale leer und steht auf. Während sie ihren Mantel anzieht, sagt sie noch etwas, er soll Rike und Nadja wohl grüßen. Schon ist sie zur Tür hinaus.
Er ist sitzengeblieben, zerknirscht und traurig. Ihr »Au Revoir« hängt wie schweres Parfum in der Luft.

»Ey, du Heiopei, wieso biste denn nicht gekommen?« Rike wartet seine Antwort gar nicht ab. »Nachher kommen ein paar Leute. Die wollen dich alle sehen. Ne, Quatsch, das war schon lange geplant. Une petite fête, n’est-ce pas? Nadja und ich fahren gleich noch zum Hypermarché, da müssen wir aber mit Nadjas Auto hin, zu weit, zu viele Sachen zum Schleppen. Willst du mit?«
Natürlich will er.
Der Hypermarché liegt etwas außerhalb und sieht genauso aus wie die Einkaufszentren, die er aus seinen beiden Südfrankreich-Urlauben kennt. Auch hier gibt es eine Pferdefleisch-Theke und eine riesige Auswahl an Weichkäse. Tom nutzt die Gelegenheit, um ein paar Lebensmittel nach seinem Geschmack zu kaufen; er plant, eine Pizza zu machen, das kann er gut. Am Frischeregal steht eine ältere Frau, die schon äußerlich wie eine Deutsche aussieht. Sie hält eine Packung Butter in der Hand, ist sich aber wohl nicht sicher. Sie sieht sich um, entdeckt eine Verkäuferin.
»Ist das Butter?«, fragt sie die Französin. Die guckt nur fragend zurück, deutet mit Gesten an, dass sie die Deutsche nicht versteht. Diese wiederholt ihre Frage, wird dabei immer lauter. Der Klassiker. Als ob es dadurch verständlicher würde. Immerhin spricht sie nicht, als hätte sie ihre eigene Sprache verlernt (»Du mich verstehen?«), sondern sagt nur noch ein paarmal »Butter«, eher zu sich selbst, während sie sich abwendet und nickt wie ein Wackeldackel – wie zur Bestätigung.
Glaube versetzt Berge, denkt Tom, so wird auch aus Scheiße Butter. Er hätte der Frau helfen können, dafür reicht sein Französisch dicke. Stattdessen ist er schadenfroh gewesen, hat es genossen, dass andere Leute noch weniger können als er. Wie billig
»Hallo? Jemand zu Hause?« Rike und ihr frecher Blick. »Auf geht’s! Hoffentlich kriegen wir alles ins Auto.«

Sie sitzen in Nadjas Zimmer, weil es das größte in der Wohnung ist. Und weil Nadja ganz viele Kissen und Decken besitzt, die sie auf dem Boden verteilt hat. Sie haben eine Runde gebildet, fünfzehn Leute insgesamt, darunter Nadjas Freund Markus, den alle nur MarKÜSS rufen, er kommt aus München, Nadja hat ihn hier kennengelernt. Er wirkt nett, sieht ein bisschen aus wie Robert Redford, markant und schön. Tatsächlich sitzt auch ein Robert in der Runde, ein US-Amerikaner, der mit seinen langen schwarzen Locken und dem spitzen Gesicht wiederum wie ein Franzose aussieht. Natürlich wird auch er RoBÄRRR gerufen und nicht Robbett, also englisch. Alle anderen Gäste sind Frauen, durchweg Französinnen. Tom sitzt so, dass er Gabi nicht sehen kann, die ist natürlich auch gekommen, hat sich nichts anmerken lassen, sondern alle mit Bisous begrüßt, auch Tom, was immerhin zeigt, dass sie ihm nicht böse ist. Er schämt sich immer noch.
Mit fortschreitendem Rotwein-Konsum, dessen Wirkung Nadjas Quiches nur wenig bremsen können, werden alle lockerer. Robert unterhält sich sogar auf Englisch mit Tom, will dann aber doch wieder Französisch sprechen, dafür sei er nun mal hier. Rike hat ganz am Anfang übersetzt, als alle was von ihm wissen wollten, damit ist aber schnell Schluss gewesen und Rike will schließlich auch ihren Spaß haben. Immer wieder brechen alle in Gelächter aus, Tom macht gute Miene zum rätselhaften Spiel, glaubt einmal sogar, einen Witz zu verstehen, ein anderes Mal gucken ihn alle beim Lachen an, auch Rike, die aber nicht verrät, ob und wie sie sich über ihn lustig gemacht haben. Er will in sein Zimmer, doch da liegen Nadja und Marküss und knutschen. Ob er eine Runde um den Block drehen soll?
Gerade hat Tom seine Jacke an, da kommt Gabi aus dem Zimmer. Sie sagt etwas von »Idee« und »formidable«, zieht sich ihren Mantel an und sieht ihn auffordernd an. Tom öffnet die Tür, überlässt ihr galant den Vortritt. Draußen sind die engen Gassen in orangefarbenes Licht getaucht. Schon in seinem ersten Urlaub ist ihm die Vorliebe der Franzosen für warmes Licht aufgefallen, die gelben Scheinwerfer der Autos, das Licht der Lampen, die wie die Laterne an seinem Elternhaus in Doesbeck an den Wänden der meist dreistöckigen Häuser befestigt sind. Die Läden sind jetzt alle geschlossen, wirken dadurch merkwürdig leblos, so wie die Gassen selbst, das spiegelnde Pflaster, das alte, sandsteinfarbene Gemäuer mit seinem fast sakralen Geruch, im Sommer mehr als jetzt, wo ihn der kalte Wind wegfegt.
Gabi hat ihren Mantelkragen hochgeschlagen, hält ihn vorne fest und geht schweigend neben ihm. Plötzlich hebt sie den Finger. Nun hört auch Tom die Musik. Sie kommen durch einen Torbogen auf einen kleinen Platz mit einer Kirche. Zwei Frauen stehen vor dem Portal, eine spielt Musette, die andere Saxophon. Die Zahl der Zuhörer hält sich in Grenzen, aber die wenigen, die bei der Kälte ausharren, haben Spaß, wärmen sich mit Tanzen auf oder klatschen im Takt.
Was für ein Kitsch, das reinste Klischee, denkt Tom mit hochgezogenen Schultern, die Hände in den Jackentaschen. Da nimmt Gabi seinen Arm, animiert ihn zum Mittanzen. Er wippt mit seinem Fuß, während sie zu tanzen beginnt und sich bei ihm noch fester unterhakt. Sie lacht, haut ihm mit ihrer anderen Hand gegen den Oberarm.
Sie hat ja recht, sagt sich Tom und fällt in ihren Rhythmus ein.
Es ist das letzte Stück. Die Saxophonistin geht mit ihrer Baskenmütze (wieder so ein Klischee) ins applaudierende Publikum. Natürlich lässt sich Tom nicht lumpen, wirft alle Münzen aus seiner Hosentasche hinein. Die Frau macht einen Knicks und Gabi lacht. Immer noch untergehakt, zieht sie ihn mit sich fort. Unversehens landen sie wieder vor dem Haus von Rike und Nadja. Hier lässt sie ihn los, geht durch die alte Holztür hinein, ist viel schneller als er im zweiten Stock und schon durch die geöffnete Tür in der Wohnung. Als wäre nichts gewesen, setzt sie sich wieder dazu, trinkt den Rest aus ihrem Glas und schließt die Reihen.
Es IST nichts gewesen, denkt Tom, während er unschlüssig im Türrahmen stehen bleibt. Die Anderen beachten ihn nicht, Augen und Ohren sind auf eine dunkelhaarige Frau mit langen Locken gerichtet, die ihn an die Schauspielerin aus »Vollmondnächte« von Eric Rohmer erinnert, dieselbe affektierte Attitüde, das grazile Getue, ein endloser Monolog, er weiß noch nicht, worum es gerade geht, wahrscheinlich nur darum, was sie gut findet oder auch nicht.
Seelen-Striptease, murmelt er verächtlich und sieht in seinem Zimmer nach. Es ist leer.

Gegen elf Uhr wacht er auf, findet sich wieder angezogen vor, hat wieder den schlechten Geschmack ungeputzter Zähne auf der Zunge. Er ist froh, dass niemand neben ihm liegt. Gestern Abend hat er sich gewünscht, Gabi wäre einfach zu ihm gekommen. Zugetraut hätte er es ihr, vielleicht hat sie es sogar probiert, ist dann zurückgeschreckt, weil er bereits geschlafen hat …
Als er nach dem Duschen in die Küche kommt, sitzt Rike schon da, betrachtet ihn belustigt. Beim Kaffee zieht sie ihn wegen Gabi auf, erzählt ihm fast beiläufig, dass sie Deutsch studiert und eigentlich auch ganz passabel spricht. Jetzt versteht er gar nichts mehr. Rike schon. Gabi sei zwar sehr süß, aber auch eine ziemliche Göre. Von allen Freundinnen sei sie die anstrengendste, aber man könne alles von ihr haben.
Es klingelt. Nadja ist schon an der Tür, halbnackt, nur mit einem dünnen Hemd bekleidet. Gleich darauf kommt der Besuch durch die Küchentür, aber wie! Mit dem Kopf voran, den er dann nach oben reckt und damit fast die Deckenleuchte berührt. Der junge Mann ist nicht nur groß, sondern ein Riese, dabei aber ein Strich in der Landschaft. Zwei Meter und achtzehn, sei er, und nein, er spiele nicht Basketball und die Luft da oben sei vorzüglich. Tom versteht aus eigener Erfahrung, warum er so patzig ist, reicht ihm die Hand und stellt sich vor. Er heiße Goliath, sagt der Große, was natürlich ein bitterer Scherz ist. Er heiße Gustl, eigentlich August, aber wenigstens der Name mache ihn etwas kleiner. Er komme aus München. Ein Freund von Markus, sagt Nadja, und wie auf Kommando stößt dieser dazu und umarmt seinen Freund, was unfreiwillig komisch aussieht, obwohl auch Markus fast einsneunzig groß ist.

Weil Nadja und Rike in die Uni müssen, macht Markus mit Gustl und Tom einen Ausflug in die Camargue. Nur mit Mühe passt Gustl in Nadjas nagelneuen R5. Er muss wohl oder übel auf die Rückbank, so wie Tom auf seiner Hinreise im Fiat der beiden Lesben, nur viel beengter. Markus und Tom können die Sitze leider auch nicht weiter vorschieben und so leidet Gustl still vor sich hin, während sich Markus und Tom bestens unterhalten.
In der Camargue machen die drei Jungs einen ausgedehnten Spaziergang. Die Sonne scheint, taucht die Landschaft in erstes frühlingshaftes Licht, dazu weht immer noch der kalte Wind und raschelt in den Kräuter- und Lavendelbüschen. So sehr sie auch Ausschau halten, Flamingos sehen sie nicht. Dafür mindestens zwanzig Schimmel, die in aller Ruhe einen langen, geraden Weg auf einen Bauernhof zu traben.
Nach Arles fahren sie nicht, was Tom bedauert; er hat sich in einem Seminar mit den Briefen Vincent van Goghs an seinen Bruder Theo beschäftigt, in denen Vincent vom Licht des Südens schwärmt. Vor bald hundert Jahren entstanden hier seine berühmtesten Bilder: die Sternennacht über der Rhône, die Caféterrasse am Abend, Das Nachtcafé.
„Das wäre was für einen anderen Tag“, sagt Markus. Er will auf dem Rückweg unbedingt noch in Aigues-Mortes vorbei, was übersetzt »tote Wasser« heiße. Gustl und Tom machen sich über den Namen lustig, flachsen über »Die toten Augen von London«, einen alten Edgar-Wallace-Film. Markus erzählt, dass die Stadt eigentlich eine alte Festung sei, eine der größten noch erhaltenen, er sei total gespannt darauf. Sie fahren eine schönere Route als auf dem Weg in die Camargue, vorbei an Feldern, Wiesen und Seen, die in der Sonne glitzern.
»Ach, komm«, sagt Markus, lässt die Abzweigung nach Aigues-Mortes rechts liegen und fährt weiter Richtung Saintes-Maries-de-la-Mer. Die Farben der Landschaft wechseln von Grün-Grau zu Gelb-Braun. Sie steuern auf einen Ort direkt am Meer zu, einem tiefblauen Meer. Der Kontrast könnte schöner nicht sein, Tom muss an Rollo denken, sein Bruder hätte die Szenerie bestimmt gemalt. So wie van Gogh. Markus fährt bis zum Strand vor. Sie haben die Qual der Wahl: Meer oder Stadt, viel Zeit haben sie nicht und aufteilen wollen sie sich auch nicht. Markus und Gustl bleiben lieber etwas am Strand. Das Meer ist ruhig, die Sonne wärmt schon ganz ordentlich, aber der Wind ist hier noch ruppiger. Tom blickt etwas sehnsüchtig zum Ort hinüber.
»Die Kirche da drüben heißt auch Notre-Dame, ist aber nicht so groß wie die in Paris und sieht ein bisschen wie ne Festung aus«, sagt Markus, der Toms Blicken gefolgt ist. »Notre-Dame-de-la-Mer. Da pilgern zweimal im Jahr Gläubige hin. Marienkult. Aber ein besonderer. Gemeint sind hier nämlich zwei heilige Frauen mit dem Namen Maria, nicht die Mutter Gottes. Neben den beiden Saintes Maries gibt’s auch noch eine Sara, die Schutzheilige der Gitans – Zigeuner.«
Tom muss an Lupo denken, den Förderer seiner Rockband, der als Einziger weit und breit Gitanes geraucht hat. Er vermisst den Duft seiner französischen Zigaretten. Eigentlich vermisst er noch viel mehr von damals, als sie Musik gemacht und einfach gelebt und Spaß gehabt haben, ohne Zweck und Ziel, nur im Hier und Jetzt. Tränen steigen ihm in die Augen. Er weiß, dass er die Dinge endlich anpacken muss. Und er spürt, dass ein Leben mit Judith genau das sein könnte, was er so ersehnt: eine neue Ära, ein anderes, spannendes Leben.
Markus legt einen Arm um ihn.
Was für ein feinfühliger Mensch er doch ist. Keine Entschuldigung nötig, keine Ausrede über Sand in den Augen. 

Sie fahren nach Aigues-Mortes, parken an der alten Festungsmauer und betreten die alte Stadt durch das Tor im Südwesten. Augenblicklich sind sie in einem Netz von engen Gassen gefangen, Tom muss an einen Irrgarten denken, nur dass dieser hier aus altem Gemäuer besteht. Die Häuser sind kleiner als in der Altstadt von Montpellier, die Gassen noch enger. Sie gelangen bald an einen rechteckigen Platz und erst hier wird Tom wieder bewusst, dass sie mit Gustl eine Attraktion an ihrer Seite haben. Einige Jugendliche glotzen erst zu ihnen herüber, dann stieben sie in alle Richtungen davon. Keine Minute später kommen von allen Seiten Menschen auf den Platz. Alle starren auf die drei Touristen, die zwei Großen und den noch Größeren.
»Weg!«, zischt Gustl und steuert auf die nächstbeste Gasse mit den wenigsten Leuten zu. Markus und Tom folgen ihm perplex, sehen, wie eine alte Frau mit Kopftuch Gustl an den Arm fasst. Er windet sich aus ihrem Griff, beginnt zu rennen, ungelenk und mit weit ausladenden Schritten. Tom muss an ein Emu denken und unwillkürlich grinsen. Endlich sind sie weit genug weg, um durchatmen zu können. Markus entdeckt weiter hinten ein Bistro.
»Ich dachte immer, ich müsste unter meiner Länge leiden, aber das hier …« Tom bricht den Satz ab. Was sind seine Erfahrungen mit Hänseleien schon gegen das, was gerade passiert ist?
Gustl nippt an seinem Glas Rotwein. Alles an dem Kerl ist lang und dünn und irgendwie hölzern. Sie sitzen im hintersten Eck des Lokals. Die wenigen Gäste und auch das Personal nimmt keine Notiz von ihnen.
»Warte nur ab, bis Gustl nicht nur der Größte unter den langen Menschen, sondern auch unter den Astrophysikern ist. Er ist nämlich auf dem Sprung nach Harvard«, sagt Markus mit bedeutungsvoller Miene.
»Harvard?« Tom sieht Gustl überrascht an, seine leuchtenden Augen, die Denkerstirn. „Echt?“
»Naja, das ist schon super«, sagt Gustl bescheiden. »Aber so gesehen, habe ich ja auch einen entscheidenden Vorteil: Ich bin den Sternen immer etwas näher als andere Menschen.«

Später, als sie gutgelaunt und im Zickzack durch die Gassen zum Auto zurückgehen – immer der Sonne nach, Richtung Südwest – passieren sie gerade einen Laden, als durch die Markise ein kleiner, alter Mann heraustritt, direkt vor Gustls Füße. Er geht ihm gerade einmal bis zum Gürtel. Den Anblick wird Tom nie wieder vergessen: Der Alte starrt erst auf Gustls Hosenstall, dann wandert sein fassungsloser Blick höher und höher, den Kopf im steifen Nacken steht er vor dem großen Mann, zuckt erschrocken zusammen, wendet sich abrupt ab. Obwohl er nur flüstert, hört Tom, wie der Alte kopfschüttelnd »Ce n’est pas vrai« sagt und in seinem Laden verschwindet. Diesmal müssen sie alle lachen.

Es wird ein schöner Abend zu fünft in der Wohnung. Sie trinken den von der Fete übriggebliebenen Wein, essen selbstgemachte Pizza von Tom, lachen viel und sind am Ende doch traurig. Toms Entschluss vom Strand in Saintes-Maries-de-la-Mer ist unumstößlich. Morgen wird er abreisen. Rike bedauert, dass sie nicht mehr Zeit zum Reden hatten, andererseits scheint sie ganz froh darüber zu sein, Tom ist es wohl auch, er braucht keine Erklärungen, will auch selbst keine geben. Es muss jetzt weitergehen, Rike ist wieder in seinem Leben, reifer und erwachsener, viel mehr als er, der Süden tut ihr gut, vielleicht bleibt sie ja ganz hier. Aber er muss jetzt unbedingt zurück. Er hat einen Plan. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er einen richtigen Plan.
So macht Rike eigentlich nur für die Anderen den halbherzigen Versuch, ihn zum Bleiben zu bewegen, sie spürt genau, dass Tom fort muss. Wenn nicht sie, wer sonst?

©Martin Bensen