Ein Kapitel aus meinem neuen Buchprojekt über Jugendjahre in einer westfälischen Kleinstadt – über Freundschaft, erste Liebe, Leidenschaft für Gitarren und Beatles und über das Erwachsenwerden (oder Jungbleiben).
So macht es keinen Spaß. Botte ist nicht bei der Sache, spielt mal ein Stück mit mir und knutscht dann wieder mit Anne rum. Ich hasse diese Nachmittage im Schlossgarten. Wir kriegen das nicht unter einen Hut, auch wenn wir uns beide bemühen. Anne stört. Sie steht zwischen uns und unserer Leidenschaft: die Musik. Aber ohne Anne ist Botte gerade nur ein halber Mensch, das weiß ich, auch wenn er es nicht ausspricht.
Am Anfang habe ich noch gedacht, wir schaffen das. Da hat er auch noch Rücksicht auf mich genommen und seine Anne noch nicht so ausgiebig liebkost. Jetzt sitze ich neben ihnen, zupfe Grashalme und frage mich, warum ich mir das antue. Müssen sie sich denn auf der Wiese wälzen, vor allen anderen, die an diesem schönen Sommertag den Park bevölkern?
Ich will ja auch nicht prüde wirken. Wie sehr wünsche ich mir selber eine Freundin, habe auch einige Mädchen im Blick, die viel hübscher sind als Anne. Ich weiß gar nicht, was Botte an ihr findet. Sie wirkt jünger, als sie ist, hat ein spitzes Gesicht und ihr rötlich-braunes Haar ist fast immer fettig. Wenn Botte mit ihr spricht, ist es so, als ob er mit einem Kind redet. Einmal hat er ihr nach dem Küssen mit dem Daumen den Mund abgewischt, so wie meine Mutter manchmal die schokoverschmierten Münder von uns Kindern. Die Geste mutete seltsam väterlich an, wie überhaupt alles an seiner Haltung zu Anne altklug und dominant wirkt – jedenfalls, wenn ich dabei bin. Vielleicht, denke ich beim hilflosen Gräserzupfen und mit dem Blick auf unsere wie abgelegt wirkenden Gitarren im Gras, ist seine Freundin nur eine Trophäe, etwas, mit dem er angeben kann und das er mir wieder voraushat.
Es ist nämlich nicht Anne, die einen Keil zwischen Botte und mich treibt. Eher ist er es selber – durch die Art, wie er mit uns beiden umgeht. Einmal, als Anne noch auf sich warten ließ, habe ich ihm meine Sorge angedeutet, sie könne für uns werden wie Yoko Ono für John und Paul, eine Ono-Macht, wie ich ironisch anfügte. Da hat er kurz gestutzt und schließlich gelacht. Was ich immer denke. Ich könne mir ja auch eine Freundin „zulegen“. Was ich denn von Annes bester Freundin halte? Bloß nicht, denke ich, dagegen ist Anne ja geradezu süß. Aber vielleicht hat er recht: Was kann er dafür, dass ich jetzt das fünfte Rad am Wagen bin? Wenn, dann habe ich es selbst in der Hand, etwas daran zu ändern. Aber damit tue ich mich ungeheuer schwer.
Dabei sehe ich gar nicht schlecht aus. Vielleicht ein wenig hager, noch nicht so männlich wie Botte; statt Barthaare sprießen ein paar Pickel in meinem Gesicht. Mir fehlt es immer noch an genügend Selbstbewusstsein. Der Radioauftritt liegt hinter uns und so ganz unbelastet ist er ja nach wie vor nicht für mich. Seit neuestem spielen wir in der Schule Volleyball; darin bin ich schon wegen meiner Größe ziemlich gut, was mir, neben der Anerkennung wegen meiner inzwischen viel lockereren und lustigeren Art, weiteren Auftrieb gibt. Bei einem dieser Spiele habe ich aus Versehen den Busen einer Mitschülerin berührt. Aber nicht nur irgendeiner, sondern der Klassenschönsten. Sie sieht schon aus wie eine richtige Frau, hat eine traumhafte Figur und dazu ein perfektes Gesicht. Nie im Leben hätte ich erwartet, bei ihr landen zu können. Doch nach diesem Blick war ich mir da nicht mehr so sicher. Ich wollte mich entschuldigen, doch sie hat nur gelacht und mich dabei ganz seltsam angesehen. In der Bravo habe ich mal gelesen, woran man erkennen könne, dass ein Mädchen gerne geküsst werden will. Untrüglich sei das der Fall, wenn sie den Kopf leicht in den Nacken legt und die Lippen etwas öffnet; ihre Augen bekämen dann einen entrückten Gesichtsausdruck, weil die Pupillen geweitet seien. Zumindest das meine ich bei Ulrike, so heißt das Mädchen, wahrgenommen zu haben. Doch so sehr ich mir ausmalte, wie wir zusammen sind, uns küssen, ein Eis essen gehen und was auch immer, so sehr wurde ich enttäuscht, als ich sie wenig später mit einem Typen sah, einen wesentlich älteren, der schon ein Motorrad hatte. Ebenso gebannt wie traurig verfolgte ich, wie sie sich küssten, wie die Ulrike meiner Träume sich an ihn schmiegte und mit ihm davonfuhr.
Ein weiteres Mal nehme ich für ein Mädchen allen Mut zusammen, kaufe im neueröffneten Bastelladen ein paar bunte Schmucksteine und radle frühabends zum Paulus-Pfarrheim, wo jeden Dienstag Teepott für Jugendliche ist, ein Treff bei Früchtetee und Keksen, im Schein von Kerzen, die in bauchigen, bastummantelten Weinflaschen stecken. Hier will ich Adelheid treffen, eine Bekannte von Anne, die sie neulich im Schlepptau hatte. Botte hatte vielsagend mit den Augen gerollt und sich mit seiner Anne zurückgezogen. Adelheid tat etwas schüchtern, dann mussten wir beide lachen, weil uns die Situation so aberwitzig arrangiert vorkam. Beim Abschied hat sie mir erzählt, dass sie dienstags immer beim Teepott sei, dort auch helfen würde. Nette Leute seien da, die sich für die Umwelt und gegen Atomkraft engagierten und denen sie sich anschließen möchte.
Ich habe mir ein flippiges Hemd angezogen, jedenfalls halte ich es für ein solches, und meine alte Jeans mit den Flicken. Nur meine Jacke passt nicht, weshalb ich sie bei meiner Ankunft gleich ausziehe. Der Herbst zeigt sich von seiner nass-kalten Seite, aber in der Teestube ist es gemütlich und warm. Es duftet süß nach Kirschenkompott und Zimt, was wohl vom Früchtetee herrührt. Eine junge Frau in fliederfarbener Latzhose kommt mit einer Kanne aus Ton, stellt mir einen Keramikbecher hin und gießt mir ohne zu fragen ein. Ich bin anscheinend der erste Besucher. Auch Adelheid ist nirgends zu sehen. Die Latzhosenfrau lächelt, sie sieht lieb aus, ein bisschen wie die blonde Schauspielerin Monika Lundi, die ich total süß finde. Adelheid ist auch blond, aber sie hat lockige Haare und eine recht hohe Stirn, die sie mit ihrem Mittelscheitel fast zu stark betont.
Da steht sie. Hinter ihr fällt die Tür ins Schloss. Sie umarmt Monika Lundi, blickt kurz in den Raum und sieht mich. Trotzdem geht sie erst mit der Latzhosenfrau in den Nebenraum. Es dauert eine Weile, bis sie endlich an meinen Tisch kommt. Ihre Nase und die Wangen sind immer noch rot von der Kälte. Sie hat die Jacke wohl drüben gelassen, einen Dufflecoat, wenn ich mich nicht getäuscht habe. Ihr hellbrauner Mohair-Pullover, dessen Ärmel sie über ihre Hände gezogen hat, lässt sie flauschig aussehen – und auf eine merkwürdige Weise gedämpft und abweisend. Ob sie friert, will ich wissen und würde sie am liebsten umarmen, aber so vertraut waren wir beim letzten Mal noch nicht. Sie setzt sich nicht neben mich, sondern gegenüber, als brauche sie Abstand. Wie unnahbar sie wirkt. Was tun, um das Eis zu brechen? Ach ja, die Steine. Ich greife in meine Hosentasche, schiebe ihr das kleine Schmuckkästchen rüber, das ich noch dazugekauft habe. Sie sieht mich fragend an. Das sei für sie, sage ich, nur eine Kleinigkeit, aber von Herzen. Sie zögert, nimmt dann das Kästchen und öffnet es.
„Schön“, sagt sie. Mehr nicht. Auch kein Dankeschön.
An diesem Abend kommen wir gar nicht erst ins Gespräch und als es voller wird und immer mehr Leute Adelheid ansprechen, gehe ich, ohne mich zu verabschieden. Die Kälte tut gut. Sie holt mich auf den Boden der Tatsachen zurück, beendet meine naiven Träumereien. Ob das je was wird mit der Liebe? Lass dir Zeit, sagt eine innere Stimme. Sie klingt fremd, aber wie die einer lieben Frau. Einer, die ich unbedingt kennenlernen möchte.