Am Abgrund

Wenn er je einen Freund hatte, dann ihn. Ein Lichtblick unter den grauen Gestalten der Nachtschicht. Dabei war ein Job bei der Post nicht das schlechteste, zumal für einen Studenten wie Gabriel. Zehn Stunden die Woche reichten ihm für sein Budget. Allein sechs davon arbeitete er zwischen Mitternacht und Montagfrüh. Richtig zur Sache ging es nur in der ersten und in der letzten Stunde: erst Pakete in die Rollwägen mit den Postleitzahlen, später im Betriebshof alles in die gelben Transporter. Zwischen Hektik und Hektik lagen fast vier Stunden Leerlauf, die die Männer im kargen, neonhellen und überheizten Pausenraum verbrachten. Zeit, die sich endlos dehnte – bis Daniel auftauchte. Daniel, sein einziger Freund in diesen leeren Nächten. Damals ahnte Gabriel nicht, was mit ihm geschehen, was Daniels Geschenk auslösen würde – Jahrzehnte später, als ihm dieses seltsame Buch wieder in die Hände fiel.

Auf einmal war er dagewesen. Oder hatte er ihn vorher nur übersehen? Eigentlich konnte man das gar nicht. Nicht, weil er so auffällig war, sondern, weil er genau das offensichtlich verhindern wollte. Andererseits konnte man gar nicht an ihm vorbei, wenn man wie Gabriel, anders als seine dösenden Kollegen, hellwach blieb, wenn auch zu träge, um sich auf ein Buch oder gar seinen Studienstoff konzentrieren zu können. Mit den anderen Nachtwesen zu sprechen, hatte er rasch aufgegeben. Sie wollten nur ihre Ruhe haben. Vielleicht hatten sie auch einfach nichts zu sagen. Er kannte solche Abstumpfungen aus früheren Ferienjobs und wusste, dass die meisten Arbeiter nichts mehr fürchteten als Unruhe oder Überraschungen. Der dösige Trott, die schweigsame Routine wirkten wie ein vertrauter Kokon, ein Schutz gegen … Ja, gegen was eigentlich?

Die meisten seiner Kollegen waren schon jahrelang dabei, unter ihnen auch ein etwas verwahrlost wirkender „ewiger Student“, den er einmal zufällig in der Stadt getroffen hatte, wo der plötzlich ganz redselig wurde, eine Tüte baumeln ließ und ihm von ihrem Inhalt vorschwärmte: Schinkenröllchen, Spargelspitzen, Weißwein und Baguette, „feinste Delikatessen“, die er sich „munden lassen“ würde, auf seinem Balkon im Studentenwohnheim, wo er nicht nur überaus günstig „logiere“, wie er überhaupt kaum finanzielle Belastungen habe, dem Studentenstatus sei Dank und natürlich dem Job bei der Post, leicht verdientes Geld in nur zwanzig Wochenstunden, was wolle man mehr? Die Gnade der frühen Geburt sei das, die Jüngeren seien da leider gekniffen, weil sie nicht mehr endlos studieren dürften. Dabei grinste er triumphierend. Dafür bist du schon ein alter Sack, schau dich doch an! Sogar riechen kann man dein Alter, diesen ranzigen Geruch aus deinem ungewaschenen Kragen, ähnlich dem Gestank von nassen Schafen. Ein Hammel bist du! Ich und neidisch? Glaubst du das allen Ernstes, du Schluffi? Vielleicht hätte er seine Gedanken laut aussprechen sollen. Vielleicht hätte der unsympathische Mensch dann Abstand gehalten, wäre ihm nicht ständig in die Quere gekommen beim Wuchten und Sortieren der Pakete. Vielleicht hätte man ja irgendwann im Leben noch Lamm essen können, ohne die herben Geschmacksnoten derart eklig zu assoziieren.

Anders Daniel. Er roch nicht. Fiel er ihm womöglich gerade deshalb auf? Er musste an den Roman „Das Parfum“ denken, den er gleich nach seinem Erscheinen im vergangenen Jahr verschlungen hatte und in dem die Hauptfigur ein Mensch ohne Eigengeruch ist. Egal wie: Nichts an der Haltung dieses Kollegen schien sich aufdrängen zu wollen. Wenn Gabriel genau überlegte, hatte er ihn am Förderband noch gar nicht bemerkt. Hier, im Neonlicht des Pausenraums, erst hier wurde er seiner gewahr. Und dieser seiner. Beobachtete er ihn etwa? Wie ein lauerndes Tier saß er in der Ecke, den Körper gegen die Wand gelehnt, ihr etwas zugedreht, aber dem Raum nicht völlig abgewandt, auch sein Kopf nicht, den er einzuziehen schien, das Kinn auf der Brust, um die er seine Arme fest verschränkte, als fröre er. Seine Beine hatte er übereinandergeschlagen, ohne dass eines davon auch nur leicht wippte. Völlig ruhig saß er da – und sah seinen Beobachter unverwandt an. Seine Augen wirkten angriffslustig, wie die eines Raubtieres, grünlich schimmernd. Sie passten perfekt zu seinen rötlichen Haaren, die er länger trug, vorne etwa auf Kinnhöhe und an der Stirn zu einem geraden Pony geschnitten. Nein, so unauffällig bist du gar nicht, siehst aus wie Pumuckl, nur erwachsener, also eher wie Karlsson vom Dach, hast ein rundes Gesicht, das dich schelmisch wirken lässt. Wie ein Clown. Fehlt nur noch eine rote Stupsnase. Nun gut, sie ist nicht rot, aber sie kann als Stupsnase durchgehen. Sommersprossen hast du auch! Wie Pippi Langstrumpf. In die war ich als Kind verknallt. Vielmehr in die schwedische Schauspielerin. Lach nicht!

„Daniel!“ Seine Stimme zerschnitt die Stille, wirkte dadurch seltsam losgelöst, fast geisterhaft.
„Gabriel“, antwortete er schnell und zweifelte bereits, ob der andere wirklich gesprochen hatte, denn er hatte sich in keiner Weise bewegt, kauerte immer noch da. Lauerte weiter. Nur seine Mundwinkel schienen sich zu heben, ließen ihn jetzt freundlich blicken. Gabriel saß zwar am selben Tisch, aber zu weit entfernt, um ihm eine Hand geben zu können. Aber dazu machte Daniel auch keine Anstalten. Vielleicht amüsierte ihn, dass Gabriel unwillkürlich zusammengezuckt war, ihn immer noch erschrocken ansah. Vielleicht berührte ihn auch die biblische Namensähnlichkeit, so wie Gabriel, der diesen Zufall still bestaunte. Zwei Engel bei der Post. Er musste grinsen. Jetzt bewegte sich auch Daniel, drehte sich langsam herum. Seine Arme lösten sich aus der Umklammerung, gaben unter der moosgrünen Strickjacke ein knittriges, kariertes Hemd frei, das ihn mit seinen Beige- und Brauntönen noch blasser wirken ließ als ohnehin das Neonlicht. Er hob beide Arme und ließ sie dann mit Wucht auf den Tisch fallen, nicht ohne grinsend zu registrieren, dass Gabriel sich abermals erschreckte und mit ihm auch einige Kollegen, die aber gleich wieder wegdösten. „Freut mich, Gabriel.“

***

Es grenzt an Magie. Bestimmt tausendmal hat er die Schublade des Sekretärs in all den Jahren aufgezogen. Fünfmal ist er mit dem guten Stück umgezogen, hat seinen Inhalt in Kisten verstaut und wieder ausgepackt. Aber ausgerechnet hier, in seiner bisher schäbigsten Wohnung unter dem Dach eines Fünfziger-Jahre-Mietshauses, die er nach seinem beruflichen Abstieg gerade noch finanzieren kann – ausgerechnet an diesem Abend, an dem er missmutig nach etwas kramt, fällt ihm dieses Buch in die Hände. Das Buch, das Daniel ihm geschenkt hat. Ein schmales, kaum taschenbuchgroßes Hardcover-Exemplar. Wie hat er es nur die ganze Zeit übersehen können? Es ist unmöglich! Aber wie kommt es hierher? Es sieht aus wie neu, ungelesen. Er kann sich auch nicht erinnern, es gelesen zu haben. Er kann sich überhaupt nicht mehr erinnern, es jemals wieder in Händen gehalten zu haben seit damals. Er weiß noch, dass ihn das Cover abgestoßen hat. Es wirkt durch und durch düster. Geradezu unheimlich. Nur ein Schatten ist darauf zu sehen, der Schemen eines Mannes. Er steht auf einer Brücke, dicht am Geländer, den Kopf zur Seite gewandt, als blicke er auf den Fluss, das Tal oder was immer sich jenseits des Geländers unterhalb befinden mag, jedenfalls außerhalb des Bildes liegt. Es ist Nacht, ein fahler Lichtkegel streift die Gestalt, die den Schein der Straßenlaterne zu fliehen scheint, spiegelt sich zu seinen Füßen auf nassem Asphalt. Schon damals konnte Gabriel nicht zweifelsfrei erkennen, ob das Bild eine Fotografie oder ein realistisches Gemälde ist. Es erinnert ihn an einen alten Film. Film noir … „Rendezvous“ – kein Autor, nur dieser Titel, dieses eine französische Wort steht in seltsam sachlicher Schrift unter dem Bild. Er schlägt das Buch auf.

Gabriel,
hier eine zwischen Arbeitskollegen 

sicherlich überraschende und
für zwei Männer recht

ungewöhnliche Gabe
Für Dich!
Mit Herz, Dein
Daniel

Es hatte in seiner Jacke gesteckt. Da war Daniel schon weg gewesen. Fünfunddreißig Jahre ist das nun her. Ein halbes Leben, in dem Gabriel zwar in der Stadt geblieben war, den liebgewonnenen Freund von der Post aber nie wiedergesehen hat – in dem die Erinnerung an ihn in dem Maße verblasste, wie er Prüfungen meisterte, in seinen Traumberuf als Journalist eintauchte, zunehmend Erfolg hatte, Chefredakteur wurde, seine private Ungebundenheit noch immer genoß, als seine Freunde sich schon wieder scheiden ließen, schließlich aber den dümmsten Fehler seines Lebens machte – aus Übermut, vielleicht auch Größenwahn, mindestens aber Überreiztheit. Was hatte ihn geritten, ausgerechnet die Frau des Verlegers flachzulegen? Als es ruchbar wurde, legte der Verleger ihn flach, sägte ihn ohne große Worte ab. Heute kann er froh sein, bei einem drittklassigen Anzeigenblättchen arbeiten zu dürfen. In eine andere Stadt wollte er nicht gehen. Überall wäre ihm der schlechte Ruf vorausgeeilt, dafür hatte sein Verleger gesorgt. Die wenigen Freunde, die er meinte zu haben, wandten sich nach der Reihe von ihm ab, grüßen heute schon nicht mehr, wenn er zufällig einem von ihnen begegnet.

Daniel. War er nicht sein einziger, also ein wahrer Freund? Warum hat Gabriel dessen Geschenk dann nicht gewürdigt, das Buch erstmal irgendwo abgelegt, wo es dann so spurlos verschwand, wie es jetzt überrraschend auftauchte? Nein, er hat nicht einmal richtig reingeschaut, die freundschaftliche Widmung nur etwas verwundert zu Kenntnis genommen. Bald beunruhigte ihn Daniels Verschwinden, ließ ihn sogar Nachforschungen anstellen, denn er empfand tatsächlich so etwas wie Trauer, fühlte eine gewisse Leere in sich – und jetzt, da die Erinnerung mit Macht zurückkommt, wieder. Ja, wir hatten drei, vier richtig gute Gespräche, haben beieinander gesessen und beinahe geflüstert, um die anderen die nicht zu stören. Zusehends tiefgründiger, intimer wurden unsere Gespräche. Wir philosophierten. Daniel führte mich dabei wie Sokrates durch den Diskurs, stellte mir Frage um Frage und schien doch schon alle Antworten zu wissen, die er gleichwohl nicht selbst preisgab, sondern fragend insinnuierte. Dabei grinste er hier und da schelmisch, während seine grünen Augen funkelten, sein rotes Haar glänzte – so wie wohl meine glühenden Backen, die später in der eisigen Winterluft beim Beladen der gelben Lastwagen nur langsam abkühlten. 

Ihm ist nach Rotwein. Ein abgestandener Rest ist noch da. Er vermeidet es, mehr als eine Flasche im Haus zu haben. Zu reizvoll ist die Aussicht, sich jeden Abend abzuschießen, zu nahe stand er schon am Abgrund. Was bleibt denn auch sonst? Er hat es aufgegeben, nach menschlicher Wärme zu suchen, weil er weiß, dass er dann unangenehm wirkt, fast aggressiv, seinen Blick nicht unter Kontrolle hat, diesen stieren, fast panischen Blick, so angestrengt, dass seine Lider unwillentlich zittern, sein Kopf sich hektisch mal in die eine, mal in die andere Richtung dreht, als könne er etwas verpassen, einem Getriebenem gleich, der andere abstößt. Die Reaktionen seiner Mitmenschen sind eindeutig – ganz zu schweigen die der Kolleginnen und Kollegen im Büro, denen er aus dem Weg geht, weil er ihre mitleidigen Blicke nicht erträgt. Alter Mann, armer alter Mann, was tust du noch hier? Wie mag es Daniel heute gehen? Gleich nachdem er weggeblieben war, hat er nach ihm gesucht. Erst verhalten, dann immer verbissener. Allerdings wollte die Post seine Daten nicht herausrücken, nicht mal den Nachnamen. Daniels gibt es leider zu viele, um den richtigen aufspüren zu können, jedenfalls mit seinen Mitteln. Als das Internet endlich ganz neue Möglichkeiten bot, hatte er Daniel vergessen.

Er greift wieder nach dem Buch, schlägt es auf und stutzt. Für Gabriel steht da. Aber gedruckt. Das ist seltsam, denn das Copyright ist von 1985, das Buch also bereits im Jahr vor ihrem Kennenlernen erschienen. Selbst wenn Daniel der Autor ist, kann er also unmöglich ihn, den Gabriel von 1986, gemeint haben. Ein seltsamer Zufall, mehr nicht, beruhigt er sich, findet aber, dass sich diese eigenartigen Zufällen gerade häufen. Er ärgert sich wieder, dass er das Buch nicht einmal durchgeblättert hat, damals, als er müde und enttäuscht ins Studentenwohnheim zurückgekehrt war. Er erinnert sich an den kalten Wintermorgen, die funkelnden Sterne – und an die Amsel, die draußen sang, so laut, dass er selbst bei geschlossenem Fenster lange nicht einschlafen konnte. Du bist zu früh dran! Und ich war leider zu spät … Noch hatte er Hoffnung, dass Daniel nur die Schicht gewechselt hatte, was ihn in den darauffolgenden Tagen zu den unmöglichsten Zeiten ins Postgebäude trieb. Es ließ ihm einfach keine Ruhe. Daniels Buch indes vergaß er darüber, obwohl es ihm ja vielleicht einen Hinweis hätte geben können. Es verschwand aus seinem Blickfeld wie er selbst. Daniel, was wurde aus dir? Ist das Buch ein Zeichen? Er will es nur zu gern glauben. Seine Hand zittert, als er die Seite zum ersten Kapitel aufschlägt.

Gleich die ersten Worte nehmen ihn gefangen, ziehen ihn in die Geschichte hinein. Ein Mann steht am Abgrund. Er ist schon hinter dem Geländer, hält sich nicht einmal fest. Die Tiefe des Tals lässt ihn schwanken. Er will es so. Will den Rausch spüren, das Ziehen in der Leistengegend, das Aufbäumen da unten, das ihn plötzlich wegzieht – in die Vergangenheit. Da liegt er, lässt sich liebkosen, hat zugleich Angst, dass sie Ernst macht und es verschlingt, ein Biss nur … Er zieht sie zu sich, schlängelt sich in sie hinein. Dann passiert es. Er findet sich auf dem Teppich wieder, will aufstehen. Ein Schatten fällt auf den nackten Mann. Über ihm steht ein anderer in Anzug und mit Schlips. Er kennt ihn. Und er weiß, er muss gehen. Das wars.

Alles dreht sich vor Gabriels Augen. Die Buchstaben verschwimmen, wirbeln umher, bilden einen Sog wie von einem Wasserstrudel. Er wird mitgerissen, ist für einen Moment schwerelos, dann fällt er hart. Er wacht auf. Aber nicht wie aus einem Traum, diesem Falltraum kurz nach dem Einschlafen. Er ist wach, ja, aber an einem anderen Ort. Es ist kalt und dunkel. Unter ihm ist nasser Asphalt. Er richtet sich auf, sieht seinen Schatten, blickt hoch, muss blinzeln. Die Laterne, der nasse Asphalt, drüben ein Geländer – jetzt erkennt er es: Er ist genau da, wo das Titelbild des Buches entstanden sein muss. Nein, das kann nur ein Traum sein. Er kneift sich, spürt den Schmerz, wird panisch, steht auf. Seine Knie schmerzen, er kann nur schwer atmen. Aus seinem Mund kommen kleine Wolken, stoßartig, hektisch. Dann sieht er ihn. Daniel!

„Komm da weg! Was um Himmels willen …“ Gabriels Worte zerschneiden die Stille, kommen als Echo zurück und hallen weiter nach. Es sind nur fünf Meter zu dem Mann hinter dem Geländer, der ganz still dasteht, nicht einmal schwankt.
„Bleib, wo du bist!“ Daniels Stimme klingt scharf. Kein Echo.
Gabriel zuckt zurück. Er kann nicht fassen, was gerade passiert. Daniels Kopf bewegt sich. Weil Gabriel seitlich von ihm steht, treffen sich ihre Blicke.
„Halt dich wenigstens am Geländer fest!“ Gabriel ist außer sich; schon als Kind hatte er Höhenangst, hat sie nie bezwingen können. Jetzt hat er Angst um Daniel, glaubt nicht mehr, dass es ein Traum ist. Aber wie kommt sein Freund hierher? Wie er selbst? Noch etwas ist seltsam: Daniel sieht aus wie früher, sogar seine Sachen scheinen dieselben zu sein wie einst bei der Post. Jetzt grinst er auch noch wie damals. Das Licht der Laterne mag täuschen, aber Gabriel ist sich sicher: Das hier ist der Daniel von 1986.
„Eine lange Zeit, mein Freund!“ Daniel lacht, sieht ihn unverwandt an.
„Wo … Wo warst du denn?“ Gabriel muss schlucken. „Ich meine, in all den Jahren – und wieso …?
„Mach dich nicht lächerlich, mein Lieber! Tief in deinem Herzen weißt du es doch, nicht wahr?“ Daniel blickt ihn wieder so schelmisch an. Seine Augen schimmern grünlich. Hier im Zwielicht erinnern sie Gabriel an die Leuchtziffern seines alten Weckers. Als könne er seine Gedanken lesen, fährt Daniel fort: „Du hättest wohl einige Male einen Wecker gebraucht, mein Freund! So kenne ich dich gar nicht. Du erschienst mir eigentlich anders – reflektierter, besonnener, klüger.“
Gabriel will etwas sagen, doch Daniel hebt abrupt die rechte Hand, was ihn wieder schwanken lässt – und Gabriel angstvoll schweigen.
„Wer lesen kann, ist klar im Vorteil. Hast du das nicht immer auf deinen Meetings gesagt, du Gockel? Und selbst? Na? Hast dich wohl über das Buch gewundert? Ich meine jetzt, nicht damals! Hättest du es gleich gelesen, wäre dir viel erspart geblieben, mein Bester. Und vielleicht hättest du doch noch einen wahren Freund gewonnen. Die Erzählung hätte sich ganz anders gelesen, glaub mir! Sie hat sich verändert. Sich deinem Leben angepasst. Und weißt du auch warum?“
Gabriel ahnt, was er meint. Überhaupt wird ihm jetzt einiges klar.
Daniel lacht. „Hast du nicht deine Magisterarbeit über den Siebenkäs geschrieben? Ja, der gute Jean Paul … Hast du mir nicht vorgeschwärmt von den romantischen Motiven, dieser wundersamen Freundschaft zwischen den seelenverwandten und doch ganz unterschiedlichen Männern? Siebenkäs und sein Alter Ego Leibgeber. Du warst beseelt davon, nicht analytisch, bei weitem nicht. Nein, das kam von Herzen: zwei Menschen, verschmolzen zu einem, wie zwei Seiten einer Medaille. Ich liebe dich noch immer dafür. Du warst so leidenschaftlich, so offen! Und war es nicht so: Hast du mich nicht als deinen Leibgeber betrachtet, Heinrich Leibgeber – der Leben gibt und zugleich nehmen kann, Heinrich, Freund Hein, der Tod, erinnerst du dich? Und lebt nicht Firmian, jener Siebenkäs, unter dem Namen seines Freundes Leibgeber am Ende das freie und wahrhaftigere Leben, das er immer ersehnt hatte?“
Gabriel ist in die Knie gesunken. Tränen rinnen über sein Gesicht. Er erinnert sich an alles. Er weiß jetzt, dass Daniel nie weg war. Irgendwo in seinem Herzen war er immer. Er hat ihn nur nicht mehr erkannt, hat sein Leben gelebt, ein falsches, wie er nun weiß. Kann sein Freund, der einzige, den er je hatte, ihn erlösen?

Daniel schwankt, sein ganzer Körper neigt sich nach vorne. Gabriel springt auf, ist im nächsten Moment bei ihm, kriegt gerade noch seine Strickjacke zu fassen, greift mit der anderen Hand nach, muss sich weit über das Geländer beugen, so weit, dass ihn das Gewicht seines Freundes nach vorne zieht. Seine Füße hängen schon in der Luft, aber noch hält ihn das Geländer, drückt ihm den Bauch ein. Es tut höllisch weh. Schon lässt die Kraft in seinen Händen nach; er wird Daniel nicht lange halten können. Aber loslassen kann er ihn auch nicht. Nicht mehr. Daniel blickt zu ihm hoch, ganz ruhig, als genieße er es, über dem Abgrund zu schweben, nur gehalten von Gabriel, seinem Freund. Der fängt plötzlich an zu lachen, er weiß nicht, warum, kann auch nicht anders, kann nicht mehr aufhören, spürt, dass es ihm hilft. Es gibt ihm Kraft. Umso mehr, als auch Daniel in sein Lachen einfällt, in das vielstimmige Echo hinein und in die Tiefe, das schwarze Nichts. Jetzt hat auch Gabriel keine Angst mehr. Er will fliegen, egal wohin, und wenn er auch fällt – Hauptsache, Daniel ist bei ihm.

©Martin Bensen