„Wenn ich es dir doch sage!“ Was sollte ich noch tun, um sie zu überzeugen? Warum muss ich das überhaupt noch nach dreißig Jahren?
„Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr.“ Sie wirkt erschöpft. Ihr Blick ist müde. Sie sieht an mir vorbei nach draußen. Wir sitzen im Esszimmer, unser Tisch steht direkt vor dem großen Panoramafenster. Da draußen steht er: ein gelber Mond an einem tiefblauen Himmel zwischen Tag und Nacht. Die blaue Stunde – unsere blaue Stunde. Wie oft haben wir uns in sie gehüllt, wie in eine flauschige Decke. Hüllenlos. Uns geliebt. Uns zum ersten Mal geküsst. Die blaue Stunde war der Anfang. Ein Zauber. Und unser Glücksbringer. Aber das Glück hat uns verlassen. Der Mond wird das auch tun. Warum glaubt sie mir nicht?
Ich unternehme einen letzten Versuch, greife nach ihrer Hand – ins Leere. Sie verschränkt die Arme, sieht immer noch an mir vorbei. Müde, unendlich müde wirkt sie. Und traurig. Aber das bin ich auch. Sie ist ungerecht. Das habe ich nicht verdient. Nicht nach der langen Zeit. Was haben wir nicht alles erlebt, gemeinsam, aber auch getrennt. Wir haben Krisen gemeistert – zugegeben, sie besser als ich. Sie hat mehr investiert. Ich habe mehr verprasst. Den Vorschuss und noch mehr. Aber sie hätte es mir heimzahlen können, sogar müssen, ich wäre ihr nicht böse gewesen, wirklich nicht. So sei sie nicht, hat sie immer wieder betont. Vor vier Jahren hat unsere Beziehung einen Sprung bekommen. Wir haben ihn nach Kräften gekittet, aber es ist nicht mehr dasselbe. Bis heute nicht.
Ich bin nicht blöd. Ich weiß, was ich ihr angetan habe. Ich, ich, ich! Ja, ich bin ein Egoist. Ein liebenswürdiges Arschloch, so nannte mich eine Kommilitonin? War ich das wirklich? Oder nur in der wilden Zeit? Dreißig Jahre! Kann man sich so lange etwas vormachen? Hat jemand so viel Energie? Sie hatte sie. Andererseits hat sie sich schon lange von mir entfernt. Vordergründig war das sogar schön, ihre Leidenschaft zuletzt noch größer als am Anfang. Richtig fremd wurde sie mir, reizvoll fremd. Was gehe ich fremd, wenn ich das Beste hier erlebe? Bei meiner Frau, die vertraute, die fremde, die immer und ewig erotische. Was für ein Idiot bin ich eigentlich? Doch etwas fehlt auch. Ist das ihre Rache: Libido, aber keine Liebe?
Sie hat die Lippen zu einer schmalen, nach unten gebogenen Sichel zusammengekniffen, ihre Mundwinkel kräuseln sich. Auch ihre Stirn liegt in Falten. Ich werde sie immer lieben, bis in den Tod, so wie ich es ihr versprochen habe in dieser kleinen Kapelle, unter falscher Konfession, jedenfalls für mich, es war mir egal, ist mir heute erst recht gleichgültig, denn mit meinen Katholiken habe ich vollständig abgeschlossen.
„Dass du so einen Quatsch auch nur annähernd glauben kannst“, sagt sie unvermittelt. Sie klingt resigniert. „Wo und wann bist du abgebogen? Warum habe ich das nicht bemerkt?“
„Was soll das jetzt?“ Ich bin sofort wütend, wie so oft in letzter Zeit, regelrecht aufbrausend, als Kind war ich jähzornig. Alles kommt zurück.
Sie schüttelt nur den Kopf. Erhebt sich langsam, stützt sich dabei mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. Ich sehe weg, betrachte wieder den Mond, der jetzt schon bleicher dasteht, vor dem fast schwarzen Himmel.
Ich weiß, was ich weiß. Geh du nur! Pass aber auf, dass du es nicht verpasst. Oh, warte … War er vorhin nicht noch weiter rechts? Müsste er jetzt nicht hinter der Birke stehen, der bleiche Gesell, ein Totenkopf hinter den kahlen Ästen?
Ich muss an unseren Südsee-Urlaub denken, unsere Hochzeitsreise vor 26 Jahren. Wie wir auf Rarotonga unsere Liegen so aufstellten, dass wir noch lange im Schatten würden bleiben können, wie wir uns bald darauf wunderten, dass die Sonne auf unsere nackten Körper niederbrannte, wie wir ungläubig zum Himmel blinzelten und endlich erkannten, dass auf der Südhalbkugel andere Regeln gelten – dasselbe Naturgesetz, aber mit anderer, ungewohnter Wirkung. Unser Denkfehler, aus gelernter Anschauung, die wir all die Jahre irrtümlich mit einer als selbstverständlich empfundenen universellen Gesetzmäßigkeit gleichgesetzt hatten. Ja, die Sonne wandert auch hier von Ost nach West – nur dass ihre Bahn nicht einfach von links nach rechts, sondern umgekehrt verläuft. Im Osten geht die Sonne auf, im Norden – oh ja! – ist ihr Mittagslauf, im Westen wird sie untergehen, im Süden ist sie nie zu sehen. Ist das eigentlich mit dem Mond auch so dort unten?
„Ich sag ja nicht, dass es unmöglich ist, aber wissenschaftlich gesehen bist du auf dem Holzweg“, hat sie gesagt und mich dabei angesehen wie ein Wesen vom anderen Stern.
„Ich weiß, was ich weiß“, habe ich trotzig geantwortet.
„Weil du dich nur noch auf diesen unsäglichen Seiten herumtreibst“, hat sie gesagt. „Und jetzt will ich nichts mehr davon hören!“
Das war vor drei Wochen. Als ich ihr das vom Mond erzählte. Davor hatten wir uns auch schon öfter gestritten. Über Freiheitsrechte, die angebliche Pandemie, das verantwortungslose Impfen. Ich weiß, was ich weiß. Viel zu viele Dinge sind unklar, sind zumindest widersprüchlich, verstörend – und gefährlich!
„Du hast ja ne Meise“, hat sie gesagt. Ich spürte, dass sie selber verunsichert war in dieser ersten Phase der Pandemie, wie sie die Medien nennen, die Wissenschaft, die Politiker. Meise! Meine Frau hat nicht mit meiner Bestürzung gerechnet, hat mich schließlich umarmt, mich in Ruhe gelassen. Meine Frau ist Ärztin.
Sie hat sich impfen lassen. Nun, das ist ihr gutes Recht, auch wenn ich mir Sorgen mache, immer noch. Dieser Stoff kann nicht gut sein. Gut, ich bin kein Arzt, aber ich habe auch studiert. Philosophie, die Königin der Wissenschaften. Immerhin hat meine Frau akzeptiert, dass ich anderer Meinung bin, hat erkannt, dass das mit einem tiefsitzenden Misstrauen zu tun hat, mit purer Angst. Sie ist keine Psychologin, zum Glück, aber sie kennt mich. Sie weiß, wann meine Seele spricht. Sie hält zu mir, trotz allem. Wenigstens hat sie das bis vor drei Wochen getan – bis ich mit dem Mond-Thema anfing. Warum glaubt sie mir nicht? Warum jetzt nicht mehr? Wo doch meine Angst noch viel größer ist.
Ich weiß, dass etwas Schreckliches passieren wird. Der Mond wird verschwinden. Wenn der Mond nicht mehr da ist, wird sich alles ändern. Das ist eine Katastrophe, wir werden sterben! Ausgerechnet der Mond. In vielen Kulturen steht er für den Tod, ein lebloser Planet, der das Sonnenlicht nur kalt zurückwirft und selbst mit gleißend-klarem Licht nur Schatten und Düsternis betont. Ich fand den Mond nie romantisch, anders als meine Frau. Jetzt ist er mir teuer, doch ihr nicht. Tief in mir möchte ich glauben, dass alles Unsinn ist, was ich gelesen habe, was vertrauenswürdige Menschen in Youtube verbreitet haben. Alles erscheint mir logisch. Es ist doch der Staat, der mich so oft getäuscht und damit enttäuscht hat, seine Helfershelfer: die Medien. Wer soll mir schon Gutes wollen, wem nützt das? Wer sagt, dass wir nicht immer noch im Krieg sind, dass die Wahrheit immer und immer wieder das Opfer ist – und was schließlich ist Wahrheit? Drüben in den USA, da bin ich mir sicher, ist die NASA schon längst alarmiert, auch wenn die Amerikaner es offiziell nicht zugeben. Was haben sie nicht schon alles geheim gehalten: Außerirdische, 9/11 – die Beweislast im Netz ist erdrückend. Ihr könnt mich nicht täuschen. Schon lange nicht mehr.
Jetzt! Gute Güte!
Der Mond sackt weg. Für einen Moment denke ich an eine optische Täuschung, an einen Traum. Ich kneife in meinen Arm, spüre den Schmerz. Es ist wahr! Ich schreie es heraus. Meine Stimme versagt, während ich weiter schreien will, fassungslos in den Himmel starre. Mir stockt der Atem. Der Mond kippt nach links weg, eiert ein wenig und fällt dann förmlich nach unten wie ein Stein. Dann ist er weg. Einfach so. Ungläubig verharre ich am Tisch, vor dem großen Fenster. Nein, nicht ungläubig – ich habe es ja gewusst. Der Mond ist tatsächlich weg!
Immer noch kriege ich keinen Ton heraus. Ich kann mich nicht bewegen. Das Licht geht an, das Fenster wird zu einem schwarzen Spiegel. Ich sehe mich, mein verzerrtes Gesicht. Meine Frau tritt von hinten an den Tisch. Ich will mich umdrehen, doch ich bin immer noch gelähmt. Kein Ton kommt aus meinem Mund. Sieht sie nicht, dass es mir schlecht geht? Sieht sie nicht, dass draußen alles schwarz ist. Mach das Licht aus, dann siehst du, dass der Mond weg ist. Der Mond, der gerade noch da war. Du hast ihn doch gesehen? Ich hatte recht, aber das ist jetzt egal, wir müssen jetzt zusammenhalten, müssen uns wappnen gegen das, was kommt. Ich will meinen Arm hochnehmen, nach draußen zeigen, wenigstens das, doch ich kann nur dasitzen, während meine Frau hinter mir steht und zu Boden sieht.
„Ich gehe“, sagt sie. Die beiden Worte bohren sich in meinen Rücken und trotzdem zuckt mein Körper nicht.
Bitte bleib! Meine beiden Worte, nur Gedanken, sie bleiben in meinem Kopf, ich kann sie nicht aussprechen. Ich bin verzweifelt, möchte weinen, doch ich bin wie versteinert.
Meine Frau sieht auf, ihre Augen ruhen einen Moment lang auf mir, nicht auf meinem Spiegelbild, nicht auf ihrem. Dort im Fenster, vor der schwarzen Nacht könnten sich unsere Blicke begegnen, aber sie sieht nicht hin. Sie wendet sich ab.
Nein, bitte!
In der rechten Hand hält sie ihre kleine Reisetasche, ein Souvenir aus einer anderen Zeit, von unserer schönsten Reise.
Geh nicht! Ich flehe dich an, bitte bleib da! BLEIB BEI MIR!
Wenn sie doch nur einmal nach draußen blicken würde, müsste sie es sehen! Die tiefschwarze Nacht ohne Mond. Hast du ihn nicht gerade noch gesehen? Wach auf!
Bittebittebittebittebitte … Bleib!
Sie verschwindet aus dem schwarzen Spiegel. Mir wird schwarz vor Augen.
Ich wache auf.
©Martin Bensen