Von gegenüber auf dem Hügel, aus dem nächsten Dorf erklingen Trauerglocken. Eine Beerdigung, ein Gedenkgottesdienst? Heute ist der 11. September 2021, ein spätsommerlich-warmer Samstagmorgen. Nach den verregneten Hundstagen hat der September noch einmal aufgedreht und das Thermometer auf fast 30 Grad gejagt. Jetzt hat es wieder geregnet und leicht abgekühlt, es ist aber immer noch zwanzig Grad warm.
Ich sitze draußen beim Frühstück, blicke auf den sattgrünen Rasen, höre die Kirchenglocken, das Brummen von Rasenmähern, eine Motorsäge aus dem nahen Wald. Die Singvögel sind schon lange verstummt, nur noch einzelnes Gekecker und Gezirpe, das Krächzen von Rabenvögeln sind zu hören. Die Sonne drückt durch Regenwolken – ähnlich wie vor zwanzig Jahren, nur dass es damals schon zehn Grad kühler war, herbstlicher. Wir brauchen wohl eine Jacke, vielleicht eine Regenjacke, habe ich zu meinem Sechsjährigen gesagt. So sind wir los. Probelauf für den künftigen Schulweg. Es ist Dienstag, der 11. September 2001, morgen ist der große Tag – der erste Schultag meines Sohnes.
Wir haben Zeit, lassen uns Zeit. Später wird er sich beeilen müssen. Doch jetzt geht es darum, dass sich mein Sohn den Schulweg einprägt. Es ist ein schöner Schulweg, zur Schule hin leichter als zurück, weil es den Hügel hinuntergeht, mitten durch Gärten und Weinhänge. Hinauf werden wir, wird er länger brauchen, der Fußweg ist steil und immer wieder unterbrochen durch einzelne Treppenstufen. Mein Sohn springt sie übermütig hinunter, jetzt zwei auf einmal, die Schwerkraft lässt ihn fast stolpern. Um seine Sicherheit mache ich mir keine Sorgen. Hier gibt es keinen Verkehr, keine fremden Menschen. Alles ist dörflich, friedlich, vertraut. Außerdem werden die Kinder wohl gemeinsam gehen, mindestens vier weitere Erstklässler kommen direkt aus unserer Nachbarschaft. Mein Sohn lacht, rennt ein Stück, dabei wippt sein lockiger Blondschopf auf und ab. Mir wird ganz warm ums Herz. Ob er morgen noch genauso fröhlich sein wird? Morgen sicher noch mehr. Allein schon wegen der Schultüte mit den Süßigkeiten; seine Mutter hat sie bis tief in die Nacht gebastelt und gefüllt – und versteckt. Morgen ist der große Tag, nicht heute.
Die ersten Häuser kommen. Sie liegen oberhalb des Schulgebäudes mit der Turnhalle und der Pizzeria, einer Vereinsgaststätte, in der wir schon einige Male gegessen haben. Jetzt erkennt mein Sohn den Weg wieder. Er reckt den Zeigefinger in die Höhe, dann Richtung Schule und grinst wissend. Wie blau seine Augen sind! Was für ein hübscher kleiner Kerl da steht! Ein Engel sei er, sagt so mancher Verwandte. Jetzt sucht er die schmale Gasse zwischen zwei Jägerzäunen. Man kann sie leicht verfehlen und tatsächlich ist er schon an ihr vorbei, als uns ein älterer Mann mit Schiebermütze und einer speckigen Lederjacke entgegenkommt. Er ist mir nicht geheuer. Ich schließe zu meinem Sohn auf, nehme ihn an die Hand. Da zeigt der Mann nach oben.
„Müssen aufpassen“, sagt er mit heiserer Stimme und slawisch klingendem Akzent. Sein Blick ist verschwörerisch – oder beschwörend? Sein erhobener Zeigefinger wippt hin und her, als hielte er einen Zauberstab.
„Man kann nicht wissen“, fährt er fort, das „Nicht“ betont er, verschluckt dabei das I und spricht das CH weit hinten im Rachen. Wahrscheinlich ein Russlanddeutscher. Etliche kamen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hierher. Mein Sohn drückt sich an mich heran und sieht den Fremden argwöhnisch an. Ich weiche mit meinem Jungen ein paar Schritte zurück, schiebe ihn schon in die schmale Gasse zur Schule, behalte den Mann dabei im Blick.
„Misen aufpassen“, wiederholt der Alte und schaut mit weiter erhobenem Finger in den Himmel. „Kennen Flugzeige in Heiser fliegen.“
Der Mann ist verwirrt, sage ich einige Schritte weiter zu meinem Sohn. Ein seltsamer, alter Kauz. Doch während wir die Gasse zwischen den Wohnhäusern hinuntergehen und mein Sohn schon wieder Stufen überspringt, komme ich ins Grübeln. Flugzeuge in Häuser? Ich denke an Amsterdam. Eine israelische Boeing-747 war kurz nach dem Start fast senkrecht in einen zehnstöckigen Wohnblock gestürzt. Ich sehe die Bilder noch vor mir, die furchtbaren Aufnahmen, selbst auf dem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher in meiner ersten Bude. Damals hatte ich gerade mit dem Studium angefangen, war bis zu jenem Zeitpunkt noch nie geflogen. Meine spätere Flugangst hat mit Unglücken wie diesen zu tun, mit der Furcht vor schadhaften Bolzen, zweifelhafter Fracht, Entführungen, Terroranschlägen.
Die Äußerungen des seltsamen Mannes gehen mir auch dann noch nicht aus dem Kopf, als mein Sohn sich auf dem Spielplatz müdegetobt hat und wir sehr lange für den Rückweg brauchen, wo ich ihn zeitweise auf den Schultern trage. Kaum dass wir die Tür geöffnet haben, kommt uns schon mein Schwiegervater entgegen. Sein Gesichtsausdruck ist zu einer sorgenvollen Grimasse verzerrt. Wortlos schiebt er uns in unsere Wohnung, seine ehemalige Wohnung – er wohnt jetzt oben – und fordert mich auf, den Fernseher anzumachen. Welches Programm, frage ich. Egal, antwortet er, überall laufe dasselbe. Als ich die Bilder von den Twin-Towern in New York sehe, rutscht mir das Herz in die Hose. Zum Glück ist mein Sohn in sein Zimmer gegangen, vielleicht hat ihn auch mein Schwiegervater fürsorglich dorthin gelotst.
Das bedeutet Krieg, sage ich. Mein Schwiegervater nickt stumm und geht wieder nach oben. Ich wollte, er wäre dageblieben, hätte mich getröstet, schließlich weiß er, was Krieg ist, und vielleicht ist doch alles nicht so schlimm. In diesem Moment kracht das erste Hochhaus in sich zusammen, wirbelt eine riesige Staubwolke auf. Da müssen doch überall Menschen sein, um Himmels willen! Immer wieder fliegen die zwei Passagierflugzeuge in die Tower. In den Sondersendungen wiederholen sie die Bilder wie Zeitlupenaufnahmen bei Fußball-Toren. Immer wieder fällt der eine Tower zusammen. Wie bei einer geplanten Sprengung, denke ich, fühle mich wie gelähmt. Mein Sohn kommt, quengelt, weil er Hunger hat, doch ich kann den Blick nicht von den Fernsehbildern abwenden. Als der zweite Tower einstürzt, halte ich ihm meine Hand vor die Augen. Er zieht sie weg, starrt jetzt auch in den Fernseher. Wo ist das?, fragt er, und: Ist das Krieg? Ja, sage ich nur und verschweige ihm, wo das ist, dass es bei uns ist, ganz nah, nicht so weit weg wie die anderen Kriege, auch wenn diese geografisch näher sind. Wann ist ein Krieg bei uns? Wann geht er uns direkt an? Spätestens jetzt, denke ich, und erschrecke über die Konsequenz.
Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Nicht für mich und nicht für meine Familie. Ich zwinge mich zu kochen, etwas Schnelles, denn den ganzen Tag verfolge ich gierig wie ängstlich, was weiter passiert, wie die Welt auf dieses riesige Attentat reagiert. Meine Frau kommt spät, blickt mich kaum an, gemeinsam starren wir auf die Bilder, hören die vielen Stimmen, die uns nicht trösten, keinen Halt geben. Wir halten uns bei den Händen, versuchen unsere Sorgen zu teilen und doch ist jeder in sich selbst versunken, allein. Kein Gedanke mehr an morgen, den großen Tag in der kleinen Welt unseres Sohnes. Mir kommen die Tränen, ich bange jetzt mehr um seine Zukunft als um meine. Noch weiß er nichts von der großen, weiten Welt, die wir Erwachsenen schon erleben durften, noch weiter erkunden wollen. Wird er sie noch so erleben? Wird sie dann doch friedlich bleiben? Friedlich für uns? Oder kommt jetzt der Kalte Krieg unserer Kindheit und Jugend als ein heißer, vernichtender zurück? Für jetzt steht die Welt still. Sie wird immer wieder still stehen, das weiß ich heute.