Ausgerechnet im Supermarkt. Zwischen Frischeregal und Gewürzen. Im banalsten Moment trifft mich Trauer. Nein, nicht Trauer, eher ein Gefühl von Verlust, von Leere. Wie ein Schatten steht er da: ein Mann etwa so groß wie ich, aber mit einem fußballgroßen Bauch. Steht einfach nur da und starrt auf einen Stapel spanischer Dauerwurst. Oder eher hindurch. Wie abwesend. Ein Mann in Schwarz, ein schwarzer Mann. Einer, der auf den ersten, irritierenden Blick so aussieht wie einer, den ich kenne. Kannte. Er ist es nicht. Kann es gar nicht sein. Denn der, für den ich ihn in dieser Schrecksekunde hielt, ist tot.
So gut kannte ich ihn gar nicht. Aber ich kam gut mit ihm aus. Wir waren uns sympathisch. Er war ein Profi, ein alter Hase wie ich. Wir schätzten uns, das spürte ich, wann immer wir miteinander zu tun hatten. Ich konnte mich auf ihn verlassen und er sich auf mich. Wenn wir uns im Gang begegneten, lächelten wir uns zu. Ich bemerkte es an seinem Blick, seinen Mund sah ich ja nicht, so wenig wie er meinen, denn wir mussten Mundschutz tragen. Müssen es immer noch. Er nicht mehr. Nie mehr.
Ob die Trauergäste auf seiner Beerdigung welche trugen? Dazu noch Sonnenbrillen? Ich stelle mir den skurrilen Anblick vor. Kann ihn mir nur vorstellen, denn ich war nicht dabei. So gut kannte ich ihn wirklich nicht. Nicht so wie andere Kolleginnen und Kollegen. Viele haben kondoliert. Ihn gewürdigt, Dinge über ihn gewusst, die ich jetzt auch weiß. Jetzt, wo es zu spät ist. Eigentlich nicht mehr wichtig.
Jemand hat die Todesanzeige ausgedruckt und an seine Bürotür gehängt und den Rand mit bunten Blumen verziert, mit Textmarkern; sie wirken wie Kinderzeichnungen. Er hatte Familie. Das Büro ist abgeschlossen, eine Umzugskiste steht hinter der mattierten Glaswand. Letzte Dinge? Überbleibsel? Was bleibt von einem Menschen an seinem Arbeitsplatz? Erinnerungen, vage bis intensiv. So wie die Trauer bei denen, die weitermachen. Wie lange wird das Büro noch verwaist sein, das Gedenken anhalten, die Galgenfrist – halt, falsches Wort -, besser: Schamfrist, ein taktvolles Innehalten, pietätvoll, abwartend. Man kann ja nicht gleich wieder zur Tagesordnung übergehen. Natürlich tun wir das.
Neulich stand die Tür einen Spalt offen. Der Schreibtisch wirkte wie soeben verlassen. Alles stand noch an seinem Platz, die zwei großen, länglichen Bildschirme wie ein Cockpit, das einer wie er benötigte, um alles zu steuern und im Auge zu behalten. Wie oft hat er zur Seite geblickt, zu den Bäumen hinüber, der Wiese, dem Park? Nie mehr wird er mir dort begegnen bei meinem – seinem – Mittagsspaziergang, dieser meist schwarz gekleidete Mann (wie ich) mit dem wippenden Gang, als sei er federleicht, was er nicht war. Was hat ihn belastet, dass er so jung sterben musste?
Meistens haben wir telefoniert. Immer nur dienstlich. Ausschließlich. Für Privates war kein Platz, dazu hätte man mal zusammen Kaffee trinken müssen. Aber wer geht in diesen Zeiten gern in die Kantine? Dort muss man sich gegenübersitzen wie in einem Besucherraum einer Vollzugsanstalt, getrennt durch eine Plexiglasscheibe an jedem Tisch, anders als im Knast aber ohne Löcher und deswegen eher ein Schallschutz – man sieht sich, aber man hört sich schwer. Jetzt wäre mir das egal.
Der Kollege war uns erst vor ein paar Monaten neu zugeteilt worden. Ich kannte ihn nur vom Sehen und hielt ihn bis dahin für einen dieser abgeklärten, langjährigen Mitarbeiter, die innerlich abgeschlossen haben – alles schon erlebt, alles gesehen, alles zum Kotzen, „das Haus fährt eh vor die Wand“, „gestern standen wir vor dem Abgrund, heute sind wir einen Schritt weiter“ oder wie immer diese Flurerzählungen gehen. Pustekuchen! Nicht er. Woher nahm ich solch ein Vorurteil? Nun gut, er wirkte manchmal etwas zerknittert, war ja so jung auch nicht mehr, aber der Eindruck täuschte. Denn anders als manche seiner Kollegen war er hilfsbereit, agil und pflichtbewusst. Und konstruktiv. Kreativ sogar. Und einen feinen Humor hatte er, er minderte den Druck. Wenigstens bei mir. Bei ihm war ich in guten Händen. Er war ein Ermöglicher, kein Verhinderer, von denen es in jeder größeren Firma welche gibt. Aus Trägheit? Angst? Aus Selbstschutz, schallt es nach oben. Man sehe ja, wohin der Stress führt. Wenn der Tod des Kollegen für eines gut sei, dann für die Erkenntnis, dass endlich etwas geschehen müsse. So könne „das Haus“ nicht weitermachen. Die Belegschaft komme auf dem Zahnfleisch daher; immer mehr Arbeit, immer mehr Belastung – damit müsse jetzt endgültig Schluss sein. Stummes Kopfnicken selbst der Chefs. Ja, das müsse man ernst nehmen. Passend dazu: ernste Blicke. Jetzt bloß nicht den Laschet machen! Pause. Pietätvolles Schweigen. Dann ein vorsichtiges „Andererseits“: Man wisse ja nicht, was in diesem speziellen Fall …
Wann habe ich den Kollegen zum letzten Mal gesehen? Die Antwort ist einfach und schrecklich zugleich: am Vorabend seines Todes. Bevor man ihn anderntags in seiner Wohnung fand, habe ich ihm noch einen schönen Abend gewünscht, ein schönes Wochenende. Er hat freundlich genickt und ist im Lastenaufzug verschwunden. Nicht das ist schrecklich, sondern diese unheimliche, mich bedrückende Koinzidenz: Schon einmal nämlich habe ich am selben Ort, direkt vor dem Fahrstuhl, einen anderen Kollegen verabschiedet, ebenfalls an einem Freitag. Auch da ahnte ich noch nicht, dass ich ihn zum letzten Mal sehen sollte. Auch dieser Kollege starb plötzlich und viel zu jung.
Den Aufzug benutze ich zweimal am Tag, meistens geht der rechte auf, ein Rollen der geteilten Edelstahltür, die eine dunkelrot ausgekleidete Kabine freigibt, wie einen weitaufgerissenen Schlund, der mich bis jetzt immer zuverlässig wieder ausgespuckt hat. Abends ist mir mulmig, denn da ist es meist schon still im Haus, keine Ahnung, ob noch jemand da wäre, um mich im Fall der Fälle zu befreien. Abends will ich nur noch weg, fahre abwärts in das unterste Geschoss, zur Tiefgarage. Kurz davor das Lesegerät für die Zeiterfassung, das erlösende Piepsen. Schon wieder Überstunden. Und der Urlaub noch so lange hin. Wie immer arbeite ich im Sommer durch, überlasse den Familienmenschen gerne das teure Feriengebalge. Ich würde es mir zu Hause schön machen, wie immer wenigstens die Abende genießen. Doch das Wetter spielt diesmal einfach nicht mit. Also hänge ich im giftigen Dämmerlicht abziehender Gewitter vor der Glotze, schaue Serien, schlafe schon auf dem Sofa ein und schleppe mich tief in der Nacht ins Bett. Ich werde wieder viel zu früh aufwachen, den schalen Rotweingeschmack auf der Zunge, schwarz eingetrocknete Krusten auf der Unterlippe. Kein schöner Anblick, würde man meine Leiche so auffinden. Andererseits kann es mir auch herzlich egal sein.
Mein alter, vertrockneter Religionslehrer kommt mir in den Sinn, seine fistelstimmenleise Mahnung an ein gutes, gottesfürchtiges Leben, jederzeit und überall – nur weil wir gewohnt seien, dass etwas so sei, müsse es nicht immer so sein, niemand könne behaupten, dass die Sonne auch morgen wieder aufgeht. Für dich vielleicht nicht, habe ich damals gedacht und es gleich bereut. Ein Vaterunser ging für die Reinwaschung von dieser Sünde drauf …
Was koche ich heute? Was soll ich einkaufen? Ich lege die Fertigpizza aufs Band, den Tütensalat gegen das schlechte Gewissen. An der Kasse zahlt gerade der schwarze Mann. Er sieht dem Kollegen wirklich ähnlich. Er wendet sich ab, derselbe federnde Gang. ¡Adios, amigo! ¡Que te vaya bien! Die Kassiererin scheint ihn zu kennen. Wieso wählt sie gerade diese Worte? Wieder diese Leere. Er fehlt. Ich vermisse ihn. Auch wenn wir nie befreundet waren.