Naiv

Da ist er wieder: der Neid, der sich seit der Schule durch mein Leben zieht, nur selten unterbrochen durch Phasen von Erfolg und Euphorie. Ganz bei sich sein, selbstzufrieden, glücklich vom prickelnden Kopf bis in die heißen Zehenspitzen. In solchen Momenten fühle ich mich überlegen, satt und sicher. Doch schon bald kippt das Hochgefühl, beginnt das Nagen. Erste Abnutzungserscheinungen, sich ausdehnendes Hinterfragen, eine zitternde Nervosität und schließlich die Flucht in Alltagsroutinen. Dort aber lauert Gefahr: glückliche Menschen. Und mein Neid auf sie.Die Bäckereiverkäuferin, die Friseurin, der Sachbearbeiter – Menschen mit klar umrissenen Aufgaben und Arbeitszeiten, Menschen, die sich darin nicht verlieren können, die stets bei sich und ihren Mitmenschen sind, Menschen, die keine Entschuldigungen benötigen, weil sie nicht loslassen können, etwas nicht schaffen oder von etwas Unkalkulierbarem gefangengenommen sind: Prüfungen, Abgabetermine, eine Hypothese, die nicht aufgeht, Gedankenarbeit, die sich verliert, Zeitmanagement, das aus dem Ruder läuft – Aufgaben, Verantwortungen und Interaktionen, die einen ausbrennen.
Als meine Prüfungsarbeit, an der ich bereits Monate saß, zu scheitern drohte und mir die Zeit davonlief, vernachlässigte ich mich. Morgens schaffte ich es gerade noch zur Bäckerei gegenüber. Ein gefährliches Spiel. Obwohl ich mich so tief in meiner komplizierten Innenwelt voller Annahmen und Aporien befand, erkannte ich doch den Ausweg: Wo, wenn nicht dort draußen, war der Fluchtpunkt, die Verheißung, vollkommenes Glück? Was ist Glück, wenn nicht genau das: frei zu sein – bei sich zu sein. Die Verkäuferin lächelte zum Abschied. Sie würde längst frei haben, wenn ich zu einer weiteren Nachtschicht ansetzen und auch im Morgengrauen keinen Schritt weitergekommen sein würde, mich nur noch tiefer im intellektuellen Morast bewegen würde, um hektisch rudernd in ihm zu versinken.
Da sitze ich, schreibe über Schillers Ästhetik, über sentimentalische Dichtung und Glück. Was ist Glück, wann ist der Mensch ganz bei sich? Im Spiel, ja. Im Genuss wahrer Kunst, auch. Idealisten wie Schiller beklagen ja nur vordergründig trauernd den Verlust des einstigen Paradieses. Arkadien sei für immer verloren. Es gebe kein „Zurück zur Natur“, zur Ganzheitlichkeit früheren Daseins. Das kommende Paradies sei Elysium, erreichbar durch sentimentalische Dichtung, die den Widerspruch von Natur und Geist, Wirklichkeit und Ideal, Sinnlichkeit und Vernunft aufhebt. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, sagt Schiller und sublimiert das naive Spiel zur sentimentalischen Dichtung – seiner Dichtung. Sie ist es, die den Menschen von Notwendigkeiten und Pflichten befreit wie einst die naive. Tja, und nu?
Ins Grüne blicken soll helfen. Da sitzt er, der Mann mit dem Pferdeschwanz, Herr über den Rasen des Parks. Stolz thront er auf seinem Aufsitzmäher, der dem schwerfällig wirkenden Menschen zumindest maschinelle Wendigkeit verleiht. Er beherrscht das Gerät, umkreist virtuos Rabatten, Sträucher und Bäume, stößt spielerisch-spielend vor und zurück, das Lenkrad lässig mit einer Hand drehend, zieht seine langen Bahnen akkurat und mit einem Siegerlächeln im pausbäckigen Gesicht. Der Mann ist eins mit seinem Werk, sogar das Brummen des Motors klingt satt und zufrieden; es ist, als ob nicht nur Maschine und Mensch harmonieren, sondern auch die Natur mit beiden, die Vögel, die hintendran nach Regenwürmern picken, mit ihrem Gesang auf dem Basston solieren und dem nahen Rauschen der Ostsee. Der Mann wird später zufrieden auf sein Werk blicken und schon nicht mehr darüber nachdenken, wenn er bereits zu Hause ist, sein erstes Bier aufmacht, vielleicht noch an den Strand geht oder an seinem Motorrad putzt und bastelt.
Da ist er also wieder: der Neid auf das naive Dasein. Naiv im positiven Sinne: eins sein mit der Natur, mit sich selbst. Kultur und Moderne sind kein Widerspruch dazu. Sie passen hinein. Ein sommerliches Openair-Konzert auf der Wiese, die Abkühlung im nahen Fluss, die Ausfahrt mit dem Motorrad an der Küste entlang, durch Wälder und über sanfte Hügel, den Duft nach Heu in der Nase. Born to be wild – to be free.
Und ich? Sitze, schreibe, staune. Sehne.

©Martin Bensen