Stillleben

Still steht es da. Viel zu lange schon. Sie hat das Glas nicht ausgetrunken. Als käme sie gleich zurück. Doch sie kommt nicht zurück. Vorhin hat es in dem Glas noch geperlt. Kein stilles Wasser. Kein Stillleben. Die Gasperlen waren winzig, wären auf einem Ölgemälde schwer darstellbar gewesen. Vielleicht hätte ein begnadeter Maler das „Leben“, das Sich-Regende herbeigezaubert, ein Fotograf dafür das Licht geschickt ausgenutzt. Nichts davon käme mir in den Sinn. Das Glas ist schon halb Erinnerung. Ich werde es auskippen, spülen und in den Schrank stellen. Alle Spuren verwischen.
Ich weiß nicht, wie lange ich das Glas angestarrt, es in allen Feinheiten studiert habe. Den Abdruck ihrer Lippen am Rand, kein Lippenstift, nur ein wenig Balsam. Er trübt den Glanz an dieser Stelle, das aufreizende Spiegeln in der tiefstehenden Junisonne, das Farbenspiel von gelb zu orange bis karmesinrot. Wie ihr Mund. Sie hat schöne, weiche Lippen, die zu küssen mich unmittelbar in Fahrt bringen. Brachten. Warum nur habe ich sie in jener Zeit verschmäht? Hab ich das? Oder war sie es, die nicht mehr zugänglich war? Wir hatten eine schwierige Phase vor fünf Jahren. Der Frühling explodierte, unsere Sinne auch, doch die Lust, die Ausgelassenheit blieben aus. Zu viele Probleme forderten unsere Kräfte, Ängste zu versagen, das Gefühl drei Leben zu führen – eines für die Kinder, zwei im Job, Angriff und Verteidigung, wir waren Einzelkämpfer, haben unser Teamplay verlernt. Scham stand zwischen uns, unausgesprochen, wie es ihr Wesen ist. Statt uns gegenseitig zu stützen, verkrochen wir uns voreinander, wenngleich wir nach außen einig wirkten wie immer, dazu aber auch jede Ablenkung (vom anderen) durch unsere Freunde dankbarer als sonst annahmen – Wanderungen, Wochenendausflüge, Feiern, Ausgehen.
Wenn ich an den Frühsommer zurückdenke, kommt er mir genauso heiß vor wie jetzt, da ich noch spät draußen sitze, den Blick in die weite Landschaft, auf den silbrig gewordenen Streifen des Sees in der Ferne, das Schilf, aus dem vielstimmiges Quaken der Frösche bis zu mir herüber dringt und das Zwitschern in den Bäumen verstummen lässt. Einige Vögel hüpfen noch lustlos über die große Wiese, die sich nahtlos an die Terrasse anschließt und bis zur Pferdekoppel reicht, fliegen schließlich davon, auf die großen Bäume zu, die die Aussicht auf den See links und rechts begrenzen. In den Nachbarhäusern ist es ruhiger geworden, Lichter gehen an, Kinder werden zu Bett gebracht, der gemütliche Teil des Abends beginnt; die meisten bleiben nicht draußen sitzen wie wir, wohl wegen der Mücken, von denen mich aber nur wenige belästigen.
Sie müsse raus, das Gehörte verarbeiten, hat sie noch gesagt, dann aber den Autoschlüssel gegriffen und beinahe fluchtartig das Haus verlassen. Keine Zeit mehr, ihr Glas auszutrinken, kein Gedanke daran. Da steht es, gleich neben meinem, das ich noch dreimal auffülle. Ich trinke den Wein pur, jetzt erst recht. Eigentlich hatte ich schon zu viel, als sich meine Zunge löste, wir über Midlife-Crisis scherzten und sie sagte, dass sie die Männer mit ihren Bedürfnissen verstehen könne, ich meine Zeit gekommen sah und endlich beichtete, was vor fünf Jahren geschehen war. Dass ich sie betrogen habe, mich aber eigentlich nur bestätigt sehen wollte, was dann genau nicht passierte: Nichtswürdiger kann ein Mann nicht auf dem Bauch landen. Diese deutlich jüngere Frau ist in mein egozentrisches Dasein eingedrungen, hat mich auf dem falschen Fuß erwischt, den Endvierziger mit all seinem Stress und null Freude. Sie hat meine Phantasie angeregt, das Gefühl meiner ersten Liebe wie einen versunkenen Schatz geborgen, meine leidende, immer deutlicher alternde Männlichkeit aufgewertet, einfach nur durch ihre Zuwendung – eine, die erst gar nicht körperlich, sondern allenfalls seelisch und virtuell war. Geschrieben haben wir uns. Anfangs ziemlich viel. Uns Komplimente gemacht, ein Luftschloss gebaut, in das wir dann auch einziehen wollten. Eine Traumwelt als Gegenstück zu meiner Welt, die nicht mehr leuchtete, in der ich dabei war, die Orientierung zu verlieren. Den Sinn und den Halt, die eine Beziehung bietet, wenn sie denn präsent gewesen wäre und wir uns nicht um uns selbst gedreht hätten, jeder mit seinen Problemen.
Spiel hier nicht das Opfer, du hast es gewollt und getan!
Gegen halb elf senkt sich Dämmerung über das Glas, das jetzt milchig erscheint, weniger durchsichtig. Die Flüssigkeit darin wirkt abgestanden. Der feinperlige Überzug aus Kondenswasser ist lange weg, die Weinschorle inzwischen lauwarm. So warm wie dieser Abend. So schal. Es ist aus mir herausgebrochen, scheinbar aus einer Laune des Augenblicks. So lange habe ich es zurückgehalten, immer auf den Moment gewartet, es loszuwerden, es ihr zu sagen. Dass ich die andere getroffen habe. Ein einziges, ein letztes Mal. In einem schäbigen Hotel an einer Landstraße. Keine Ahnung, wie wir darauf gekommen waren. Eine seltsame Begegnung, gar nicht so vertraut, wie es unsere heißblütigen Chats versprochen hatten, erst unnahbar und unsicher, dann anfallartig nah, animalisch – und schlagartig unbefriedigend. Eine junge, hübsche Frau und ein alternder, abschlaffender Mann, zwei Fremde, die nicht zusammenkommen, nicht zusammengehören. Der Abschied kurz und endgültig. Abschied von was? War nicht alles nur ein Tasten gewesen, ein spielerisches Vor und Zurück, mal schwärmerisch, mal lauernd, immer wieder auch verletzend? Der Ton unserer Nachrichten hatte sich rasch verändert, sich bald nur auf das Eine konzentriert. Wir wollten es wissen.
Oder wolltest nur du es wissen? Wie eitel bist du? Was für ein Spiel treibst du gleich mit zwei Menschen? Für was? Um dich noch einmal jung zu fühlen, angenommen, vielleicht auch begehrt?
Ein Gefühl, dass sich in meinem Alltag zusehends verflüchtigt hat.
Dass du auch selber zur Seite geschoben hast, nicht wahr?
Ich rücke mein leeres Glas an ihr halbvolles heran, ziehe es schnell wieder weg. Es hält mich nicht länger auf der Terrasse. Auf der Wiese spüre ich das Vakuum wie einen Sog in meinem Rücken. Das kurzgeschnittene, schon leicht trockene Gras massiert meine Fußsohlen. Ich muss an unseren Strandtag denken, daran, wie der heiße Sand unter den Füßen gebrannt hat, an das schmirgelnde Geräusch unter meiner Hornhaut. Alte Füße, alter Körper. Auch das Herz altert, aber nur körperlich. So lange ich lebe, wird es alterslos sein, für jemanden schlagen.
Na klar, für dich! Warum hast du ihres gebrochen? Sie hat dir vertraut!
Ich konnte nicht länger schweigen. Wollte mich endlich erleichtern, mich entlasten. Die ganze Zeit habe ich das unwürdige Geheimnis mit mir herumgetragen.
Gib es zu: Du wolltest dich sogar ein wenig interessant machen! Ehrlich willst du sein? Vielleicht bist du aber nur eitel und dumm, warst es wohl immer!
Direkt am seitlichen Zaun der Pferdekoppel steht eine mächtige, alte Eiche. An einem ihrer starken Äste ist eine Schaukel befestigt. Ich zwänge mich zwischen die Seile, spüre sie in meinem Hüftspeck, überlege kurz, ob ich nicht zu schwer dafür bin, nehme Anlauf und strecke die Beine vor. Wie lange habe ich das nicht mehr gemacht? Zuletzt wohl als Jugendlicher, mit einer Zigarette im Mund; damals haben wir häufiger auf Spielplätzen gelungert, Bier getrunken und dumme, versaute Sprüche gemacht, besonders vorlaut, wenn Mädchen da waren. Dabei wünschte ich mir schon da nichts sehnlicher, als eine Freundin zu haben – so wie andere Jungs, die ich darum beneidete und denen ich es gleich tun wollte.
Damals also schon diese eitle Niedertracht! Merkst du selber, oder? Zuneigung, Liebe kamen später, meinst du? Wirklich?
Ich gewinne an Höhe. Immer größer wird der Bogen, bald schwingt mein Hintern über die Spitzen des Zauns hinaus, zeigen meine Füße abwechselnd in die dichte Baumkrone, durch die noch hellblauer Himmel schimmert. Ich fand die Abwärtsbewegung immer schöner als den Aufschwung, das Kribbeln im Bauch schon am Wendepunkt, das erregende Gefühl des freien Falls. Nicht ohne die Gewissheit, dass er doch gebremst wird und dass es gleich wieder aufwärts geht.
Wie geht es jetzt weiter? Mit uns? Mit mir?
Auf dem Tisch steht noch ihr Glas. Ich räume es weg, räume alles weg.

©Martin Bensen