Weihnachten ist rum. Silvester wird einsam. Das Draußen ist annähernd zum Drinnen geworden. Mehr noch als im Mai, als mir dieser Gedanke erstmals kam. Zum Jahresausklang ist vieles noch unglaublicher geworden, besonders im „Musterländle“. Baden-Württemberg macht dicht: Schon um acht Uhr abends werden wir eingesperrt, weggesperrt. Voreinander. Denn es sind die Kontakte, die immer noch – oder mehr denn je – lebensgefährlich sein können. Sie gilt es zu vermeiden. Aber warum nur abends und nachts, wenn es einsam wird und ich ganz alleine draußen wäre? Gefährlich wird es vielleicht nicht für mich; für andere umso mehr, die Älteren, meine Eltern zum Beispiel, beide über achtzig. Sie sitzen jetzt viel drinnen, haben noch einander, immerhin, und sind fit. Aber auch wenn sie gar nicht mehr so viel unternehmen, ist es die Möglichkeit, die jetzt fehlt, ist das Fehlen möglicher Freiheit die Bedrückung, das Gefühl erdrückender Unmöglichkeit.
Ich muss raus, durchmesse die klein gewordene Außenwelt, die langsam auch meine Innenwelt beschränkt, mich zu lähmen droht, meine Phantasie verdirbt, die grenzenlose Freiheit braucht, aber eben nicht nur im Kopf, sondern auch in ihrer Möglichkeit, ihrer jederzeitigen Verfügbarkeit, wenn ich sie will. Nun will ich, aber kann nicht. So schreibe ich, während ich gehe, was mir in dieser kleinen Welt, die ich zu Fuß durchmesse, einfällt. Einfällt und weniger auffällt. Meinetwegen beides. Aber irgendwie egozentrischer als zu jeder anderen Zeit.
Ich gehe an die Grenze, die meines Körpers. Oben auf der Anhöhe bleibt mir kurz der Atem weg. Das ist gut. Es tut mir gut. Er kommt ja wieder.
Ich gehe durch eine gelähmte Welt. Die Sportanlagen sind menschenleer, wirken wie eben erst verlassen. In Filmen würden jetzt wie von Ferne Schreie, Anfeuerungsrufe, Jubel eingespielt, mit viel Hall, vielleicht von getragener Musik umspült – Erinnerungen aus einer anderen, besseren Zeit, dazu angetan, Wehmut zu erzeugen, grenzenlose Traurigkeit über die Vergänglichkeit des Lebens und dieser Welt. Und jetzt komm du mir nicht wieder, mein Freund, und kalkuliere die verbleibenden Sommer. Das war schon immer schräg.
Ich gehe an Vorgärten vorbei, an offenen Schuppen mit lieblos gestapeltem Spielzeug, Kisten, abgelegtem Kram. Vielleicht haben die Bewohner Platz geschaffen, für neue Möbel, einen Gartenteich, etwas, das die kleine Welt bereichert. Ob Kleidersammlungen noch gehen, jetzt, wo die Menschen keine neuen Sachen brauchen, sich nicht herausputzen müssen – für wen oder was denn auch? Wann war ich zum letzten Mal zum Bummeln in der Stadt? Andererseits: Habe ich nicht schon vor Corona fast nur noch im Netz bestellt, weil mich alles an dieser verkorksten Innenstadt von Stuttgart nervt, nicht nur die hohen Parkgebühren, auch die wenig günstigeren Fahrpreise, die vollen Bahnen und Einkaufsstraßen, die seelenlosen Einheitsläden, die vielen verwaisten Baustellen …?
Fünfzig Meter vor mir, lugt jemand hinter einer Garage hervor, huscht wieder weg, ist nicht mehr zu sehen, als ich das Grundstück passiere. Scheu wie ein Eichhörnchen, scheuer sogar. Das im Wald hat mich neugierig beäugt und ist einfach hocken geblieben, als ich näher kam. Vielleicht steht mancher Zeitgenosse gerade am Fenster, blinzelt in die Sonne, die sich in der Scheibe spiegelt. Bei so einem Wetter muss man eigentlich raus. Aber kann man es wagen? Die Ruhe könnte trügerisch sein.
Tief einatmen. Die frische Luft tut gut. Oder doch nicht? Wabern noch Aerosole darin? Sie sollen sich lange halten können, habe ich gelesen, selbst draußen. Von Joggern zum Beispiel. Ihr Hecheln ist wie ein Angriff. Ich weiche ihnen regelmäßig aus. Manchmal geht es nicht, da halte ich die Luft an, solange es geht, bis ich doch endlich einatmen muss, tiefer als normal, und vielleicht auch das Virus in der Abgasspur der Laufstrecke. Jede menschliche Begegnung ist ein heimliches Duell. Geht das den anderen auch so? Oder ist das alles nur in meinem Kopf so? So krank? Degeneriert? Deprimierend …
DaMario & Schnecki – wie süß! Der Rundbau mit Garten und Spielplatz beherbergt ein italienisches Lokal. Durch die Fenster sehe ich verwaiste Tische. Sie sind allesamt gedeckt, mit karamellfarbenen Stoffservietten, je zwei Weingläsern pro Platz, Tellern und Besteck für mehrere Gänge. Für niemanden. Denn natürlich ist das Restaurant geschlossen – wie alle Gastro-Betriebe. Ob Schnecki das alles so liebevoll hergerichtet hat? Ob Mario manchmal wehmütig nach dem Rechten sieht, vielleicht hinter dem Tresen steht, sich einen Rotwein einschenkt oder zwei Prosecco – für sich und seine Schnecki? Ich weiß es nicht, denn ich kenne das Lokal gar nicht, geschweige denn dessen Besitzer. Aber es tut mir in der Seele weh, gerade diese von mir so geliebte italienische Gastfreundschaft so am Boden zu sehen. Und zugleich so aufrecht und stolz, als mache man sich Mut. Als könne Mario gleich aufschließen, Schnecki an seiner Seite, und uns mit einem herzlichen „Benvenuti“ begrüßen, als sagte der Pizzabäcker „Geht gleich los“. Nein geht es nicht! Ich stelle es mir nur vor. Ich gehe weiter, denke noch eine Weile an Mario und Schnecki, daran, dass gerade ihr Lebenstraum stirbt und hoffentlich nicht ihre Liebe.
Der Kofferraum eines Autos ist offen. Ein junges Paar packt Sachen aus. Einen Rucksack, ein Paar Ski. Ihr also auch? Wie sorglos seid ihr – wie rücksichtslos? An diesem Wochenende waren die Schneegebiete überlaufen, der Schwarzwald, die schwäbische Alb, Autos stauten sich kilometerlang, verstopften Straßen und Wege. Ihr Zwei, wart ihr auch dabei? Am liebsten würde ich sie fragen, nein, eigentlich will ich sie gleich beschimpfen. Ein aggressiver Impuls in mir. Wie so viele in letzter Zeit. Ist das nicht auch bei Tieren so, die man auf engstem Raum einsperrt? Bei testosterongesteuerten, unausgelasteten Männern, die dann gewalttätig werden? Und die Frauen? Leiden sie nur – oder zu was sind sie fähig? Die Frau hier trägt noch ihre Skihose; wenn sie geht, qietscht der Stoff im Schritt – das Geräusch von Skiferien, Skischule, Skilift. Fehlt nur noch der Duft aus den Hütten, von Rösti; Brettljause und würzigem Bergkäse. Eindrücke eines anderen, besseren Winters. Ach, ihr habt ja recht, ihr Zwei. Nur steckt bloß niemanden an – steckt euch nicht an. Auch wenn ihr jung seid, kann es euch hart treffen. Ich beschleunige meine Schritte.
Mit dem Blick Richtung Alb denke ich an höhere Berge, an die verschneiten Alpen. Ich mag lieber das Meer. Doch im Winter ist es trist, verschwimmt am Horizont in Einheitsgrau. Ich mag kein Grau. Die Berge schimmern auch bei schlechtem Wetter weiß, zumindest bis zu den Wolken, aus denen Flocken rieseln und den Schnee vermehren, der später in der Sonne glitzert wie Milliarden kleine Diamantsplitter. Die Berge wären jetzt meine Zuflucht, ihre Einsamkeit erträglicher als alles hier. Schon stehe ich vor meiner Tür. Es dämmert bereits. Noch drei Stunden bis zur Ausgangssperre. Ich will sie nicht mehr nutzen. Für heute habe ich genug gesehen. Morgen ist Silvester. Ein Tag wie jeder andere. Ein Jahresausklang wie keiner zuvor.