Das blaue Haus

Er weiß nicht mehr, wie er hierher gekommen ist. Auch nicht, woher. Und wer er ist. Vieles an dieser merkwürdigen Geschichte erscheint fantastisch. Aber ist sie deswegen weniger wahr als das, was die Menschen in ihrem Leben und in dieser Welt dafür halten?Den Weg ist er mindestens zwanzigmal gewandert und doch sieht er es zum ersten Mal. Vielleicht, weil Winter ist, die Bäume kahl und deshalb erst jetzt den Blick freigeben für das blaue Haus. Im ersten Moment denkt er sich nicht viel dabei. Nun gut, da hat jemand ein neues Gartenhaus gebaut, es blau angestrichen, was in dieser Gegend allerdings ungewöhnlich ist. Die meisten anderen sind braun, weiß oder grün. Aber warum nicht blau? Merkwürdig ist nur, dass dieses Haus ganz oben auf dem Hügel steht, genauer gesagt nicht darauf, sondern etwas unterhalb am Hang, da wo es besonders steil ist und ein Gartengrundstück kaum Sinn macht. Jetzt entdeckt er die hölzerne Treppe. Sie sieht neu aus, ist nicht bemoost wie das viele Totholz, die Felsen, die hier und da aus dem Hügel ragen, und selbst die lebendigen Bäume, die fast alle giftgrün schimmern. Wenigstens diese Treppe hätte er bei seiner letzten Wanderung, die ihn oft sehr weit ins hügelige Umland seines Zuhauses hinausführt, eigentlich sehen müssen. Er merkt sich nämlich alles, saugt die Eindrücke seiner Wanderungen in sich auf wie ein Schwamm. Sonst hält sein Leben nur wenig Abwechslung bereit; die Arbeit im Büro ist eintönig, seine Freizeit einsam. Seit er auf eigenen Füßen steht, ist er allein. Die Liebe hat ihn nicht gefunden oder er keine passende Partnerin. Seine Eltern sind bereits einige Jahre tot. Aber er hat sich schnell berappelt; als Einzelkind hat er früh gelernt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Er ist ein Eigenbrötler, das weiß er. Aber er vermisst nichts – außer seine Wanderungen, wenn er einmal krank ist und das Bett hüten muss, was zum Glück nicht allzu häufig vorkommt.

Sein Blick folgt dem Verlauf der Treppe, die fachmännisch in den Hang gezimmert ist und kerzengerade hinaufführt, in zahlreichen Stufen, bis zum blauen Haus. Jedenfalls vermutet er das, denn ganz oben kann er nichts mehr davon erkennen. Wohin sonst sollte sie aber führen, wenn nicht zu diesem Haus? Von oben kommt man nicht hin, denn über dem Haus, das aus Holz gebaut ist, aber ein richtiges Schindeldach besitzt, ragt fast senkrecht eine Felswand empor. Längst hat er begonnen, die Stufen zu zählen, doch von hier aus kommt er immer wieder aus dem Konzept. Sein Blick verrutscht einfach. Dann ist er sich nicht mehr sicher. Er will es aber sein. Im Büro kann er sich keine Fehler erlauben, schon gar nicht bei Zahlen. Sie sind unbestechlich, immer wahr. Eine verlässliche Größe. Zuhause hat er eine Karte, auf der er mit Stecknadeln seine Wanderstrecken markiert, die Kilometer mittels Maßstab berechnet, die Summen auf kleine Schildchen schreibt, die er mit Datum versieht und seitlich an die Wand pinnt. Dort ist kaum noch Platz, was er mit wachsender Sorge registriert, immer wenn er darauf schaut. Genauso wie auf der Karte selbst, wo kaum noch etwas von den Orten, Flüssen, der Vegetation oder der Topographie zu sehen ist. Er spannt rote Wollfäden um die Nadeln, kennzeichnet so die Routen; es sind inzwischen so viele, dass sich nicht mehr ein Spinnennetz, sondern ein wahres Knäuel gebildet hat, wenigstens von Weitem. Aber was soll er machen? Noch weiter wandern als jetzt kann er nicht, erst recht nicht im Winter, wenn ihm kaum etwas vom hellen Tag bleibt. Ein Auto besitzt er nicht.

Er fasst einen kühnen Gedanken. Was, wenn er einfach die Treppe hinaufsteigen und dabei Stufe für Stufe zählen würde? Warum nicht, wenn doch nirgendwo ein Hinweis auf ein Privatgrundstück steht? Er will ja nur gucken, nicht einbrechen – und wenn er sähe, dass er jemanden störte oder aufschreckte, würde er gleich kehrt machen. Mit mulmigem Gefühl stapft er los, springt über den Bach, der wegen Regenmangels weniger Wasser führt als in früheren Jahren, zwängt sich durch dichtstehende junge Bäume hindurch, reißt sich seine linke Hand an Dornen auf und ist endlich am Fuß der Treppe, die tatsächlich aus frisch zugesägten und sehr stabil wirkenden Brettern besteht. Er zögert nicht, nimmt die erste Stufe, erwartet ein Knarzen, das aber nicht kommt, und steigt weiter hinauf. Die Stabilität der Treppe beeindruckt ihn, beflügelt seinen Mut, so sehr, dass er vergessen hat zu zählen. Er kehrt um, beginnt von vorne, zählt jetzt Stufe um Stufe, den Blick nach unten und keinen weiteren für die Umgebung oder nach hinten. Das ist auch besser so, denn er ist nicht schwindelfrei.

Bei hundert hält er zum ersten Mal an. Nicht weil er außer Atem ist, nein, er hat eine hervorragende Kondition, weit besser als manch anderer Mensch um die Vierzig und alle seine Kollegen im Finanzamt. Dass er pausiert, ist seinem Erstaunen geschuldet. Denn als er aufgeblickt hat, erschien ihm die Treppe keinen Deut kürzer als zu Beginn. Nun wagt er doch den Blick zurück, sieht, dass er tatsächlich so viele Stufen geschafft hat, immerhin genau hundert. Ihm wird schwindlig. Es gibt kein Geländer, also bückt er sich, hält sich an der Stufe vor ihm fest. Soll er jetzt in dieser Haltung weitergehen, auf allen Vieren? Was ist mit dem Rückweg, wird er ihn heil überstehen, den Blick nach unten, in die schwindelerregende Tiefe? Plötzlich ist er wie gelähmt, fühlt sich wieder wie damals, als er als kleiner Junge die Stufen der Riesenrutsche hinaufgeklettert ist und auf dem letzten Drittel nach unten gesehen hat, wo seine Eltern standen und ihm zuwinkten, und nicht mehr weiterkonnte, nicht vor und nicht zurück. Sein Vater hat ihn damals gerettet, ist an den schimpfenden Kindern vorbei zu ihm hoch, hat ihn auf den Arm genommen und heruntergetragen, was seinen Schwindel noch schlimmer machte, weil er zwar auf dem Arm war, aber das Geländer überragte.

Nicht vor und nicht zurück. Er hängt fest. Seine Knie beginnen zu zittern. Er muss sich setzen, vermeidet aber den Blick nach unten, schaut lieber zur Seite auf den felsigen Hang, die Steine, die wie bleiche Knochen unter dem Moos liegen. Zählen! Er muss zählen. Zahlen geben ihm Sicherheit. Das Zählen lenkt ihn ab. Er rafft sich auf, dreht sich wieder zum Hang, nimmt den rechten Fuß hoch – er beginnt immer mit rechts -, sagt laut „einhunderteins“, zieht den linken Fuß nach, hebt ihn, „einhundertzwei“, ja, so geht das. Er ist eine Maschine. Eine Maschine hat keine Angst. Eine Maschine ist kein Mensch, kann also auch nicht sterben.

„Zweihundert!“ Er wagt kaum, nach oben zu sehen. Doch jetzt schlägt sein Herz höher. Vor Freude. Die Treppe ist endlich. Noch fünfzig, vielleicht sechzig Stufen. Das schafft er spielend. Das blaue Haus ist größer als von unten her erwartet. Annähernd halb so groß wie sein eigenes, das für ihn allein völlig überdimensioniert ist. Als seine Eltern noch lebten, hatte er eine ganze Etage bewohnt, mehr als hundert Quadratmeter, doch auch nach ihrem Tod hat er nie daran gedacht auszuziehen oder wenigstens einen Teil zu vermieten. Er ist erleichtert, als er sieht, dass die Treppe nach rechts abknickt und nach zweihundertzweiundsechzig Stufen an einer Veranda endet. Auch die hat er von unten nicht als solche erkannt. Dabei ist sie von einem Geländer umfasst, das allerdings in demselben Blau gestrichen ist, wie die hölzerne Fassade des Hauses. Es scheint bewohnt zu sein, denn drinnen brennt Licht. Aber was hat er auch anderes erwartet. Zeit zu gehen, hier hat er nichts zu suchen. Was für eine Schnapsidee, überhaupt hier raufzusteigen. Gerade er mit seinem Schwindel … Als er schon allen Mut für den Abstieg zusammennehmen will, öffnet sich die Tür.

Wenigstens einen Tee solle er trinken, sagt die alte Frau, ohne ihn zu grüßen, aber mit einem herzlichen Lächeln. Er sei sicher durchgefroren. Schnee liege in der Luft, das spüre sie auch in ihren Beinen. Er kriegt kein Wort heraus, ist bestürzt über die ansatzlose Vertrautheit, mit der ihn die Alte empfängt. Das ist er weder gewohnt, noch hat er sie hier oben erwartet, wo er sogar in die Privatsphäre dieser Frau eindrungen ist. Und so wehrt er das Angebot ab, sagt, dass es ihm leidtue, er habe sich nichts dabei gedacht, sei absolut auf dem Holzweg, oh mein Gott, was redet er denn da. Die alte Frau lächelt noch herzlicher, in ihren Augen blitzt Mitgefühl auf, jedenfalls deutet er ihren Blick so. Warum hat sie keine Angst? Bestimmt ist ihr Mann da oder ihr Sohn. Der hat vielleicht die Treppe gebaut. Jetzt gehen auch noch seine Gedanken mit ihm durch. Er sei ja ganz durcheinander, sagt sie, tritt einen Schritt beiseite und bittet ihn herein. Warum nicht? Wenn sie ihn doch so nett bittet …

Es ist gemütlich drinnen. Ein Duft nach Zirbenholz liegt in der Luft, dazu das Aroma von Kräutertee, den seine Gastgeberin auf den Tisch stellt. Er müsse unbedingt in dem Sessel am Fenster Platz nehmen, der sei für Gäste reserviert, er sei ja nun ihr Gast. Viele habe sie nicht mehr, eigentlich keine mehr in letzter Zeit, zumal jetzt im Winter, deswegen sei es ein Glück, dass er jetzt hier sei. Ihr fehle das, sie brauche menschliche Nähe, wenigstens ab und zu und sie sei eigentlich ein sehr mitteilsamer Mensch. Was wohl stimmt, wenn sie so viel redet, denkt er, und fragt, warum sie dann alleine hier oben wohne, ob sie sich überhaupt aus dem Haus bewegen kann, über die lange, steile Treppe. Die Alte lächelt wissend, als habe sie keine andere Frage erwartet. Eine Antwort bleibt sie schuldig. Er solle von ihrem Kräutertee kosten, der sei etwas ganz Besonderes, nicht nur, weil sie die Kräuter selber sammele, und von dem süßen Gebäck, das sie erst am Morgen gemacht habe, als habe sie geahnt, dass jemand zu Besuch kommt. Sie hole nur schnell ein Pflaster, um seine Hand zu verarzten. Jetzt erst sieht er das getrocknete Blut auf seiner linken Hand – die Verletzung von den Dornen – und er sieht den Teller mit dem Gebäck. Er liebt diese Plätzchen; sie erinnern ihn an die seiner Mutter, das Spritzgebäck, von dem er schon den rohen Teig so gern mochte – und das ihm so lange gefehlt hat. Er nimmt sich davon, einen Kringel, steckt ihn sich in den Mund, nippt an der heißen Tasse und umspült das Plätzchen mit dem Tee. Er erkennt den Geschmack, es ist haargenau der gleiche wie in seinen glücklichen Kindertagen, und noch schöner, denn der Tee schmeckt hervorragend. Wohlig schmiegt er sich in den Sessel, sieht noch, wie draußen Schneeflocken fallen, und schließt die Augen. Als er wieder wach wird, ist es schon dunkel.

Er ist allein, weiß erst nicht, wo er ist. Nervös sieht er sich um. Das fremde Zimmer ist nur spärlich beleuchtet, auf dem Tisch vor ihm brennt eine Kerze. Dann fällt ihm alles wieder ein. Wo ist die alte Dame? Warum hat sie ihn hier einschlafen lassen? Wie soll er jetzt noch nach Hause kommen? So unruhig er ist, so wenig schafft er es aufzustehen. Seine Muskeln machen nicht mit. Seine Beine fühlen sich taub an. Was passiert hier? Die Augen fallen ihm wieder zu. Als er das nächste Mal aufwacht, geht es ihm besser. Er kann aufstehen. Noch immer ist er allein. Die Kerze ist aus, das einzige Licht kommt aus einem anderen Zimmer, vielleicht der Küche. Von dort hat die Alte die Teekanne und das Gebäck gebracht. Wieso ist er so schnell eingeschlafen; hat sie Schlafmittel hineingetan? Sie selber hat nichts davon genommen auch keinen Tee getrunken, hat nur gespannt zugesehen, wie er das Plätzchen gegessen, den einen Schluck Tee dazu getrunken – und seine Augen geschlossen hat. Das Pflaster in ihrer Hand ist das Letzte, an das er sich erinnert; es klebt auf seiner Hand. Nein, er weiß noch, dass er aufgewacht ist und seine Beine gelähmt waren. Draußen hat es zu schneien begonnen. Er muss hier raus! Im Nu ist er bei der Tür, im kleinen Flur. Seine Jacke ist nicht mehr da, sein Rucksack auch nicht. Er zieht an der Haustür, erwartet sie verschlossen, fällt beinahe hin, als sie sich weit öffnet und ihn eine kalte Wolke trifft. Vor dem Eingang liegen mindestens zehn Zentimeter Schnee.

Auf keinen Fall könne er jetzt da raus. Es sei der sichere Tod. Die Alte steht im Türrahmen und bittet ihn die Haustür zu schließen. Ihm ist klar, dass sie recht hat. Er könne über Nacht bleiben, sagt die Frau, die ihm pötzlich verändert vorkommt, größer, gerader – rüstiger. Das Sofa im Wohnzimmer sei zwar groß genug, aber oben gebe es noch ein großes Bett, das habe sie frisch bezogen und alles hergerichtet, während er geschlafen habe. Es sei ja kein Wunder, dass er erschöpft sei. Der Postbote komme deswegen auch nur einmal die Woche und der Lieferdienst immerhin alle zwei Wochen. Wenn er ein Telefon brauche, könne sie ihm leider nicht damit dienen, aber bestimmt habe er ja ein Handy. Es sei im Rucksack, sagt er, aber den habe er nicht mehr gefunden und seine Jacke auch nicht. Die Alte nickt nur und wendet sich ab. Wen sollte er auch anrufen? Die Polizei vielleicht, was ihm jetzt allerdings lächerlich vorkommt. Bestimmt geht hier alles mit rechten Dingen zu. Er war einfach müde, ganz klar. Und dass der Heimweg für heute unpassierbar geworden ist, dafür kann seine Gastgeberin ja nichts. Also was bildete er sich hier bloß ein? Drinnen sitzt sie, deutet wieder auf den Sessel am Fenster, der ihm jetzt schon beinahe vertraut erscheint, genauso wie sie selbst. Und sie? Sie nimmt seine Anwesenheit so selbstverständlich zur Kenntnis, als habe sie ihn nicht nur hier und heute erwartet, sondern als kenne sie ihn – was für ein seltsamer Gedanke – bereits ein ganzes Leben.

Am nächsten Morgen sind sie eingeschneit. Er hört das schabende Geräusch einer Schaufel. Jemand schippt Schnee. Dieser Jemand kann nur die alte Frau sein. Es ist bereits hell und es schneit immer noch. Schlaftrunken blickt er auf seine Armbanduhr. Sie ist stehengeblieben. Er schätzt, dass es bereits nach neun Uhr ist. Warum nur ist er immer noch müde, wenn er so lange geschlafen hat? Vielleicht genau deswegen? Normalerweise reichen ihm fünf, maximal sechs Stunden Nachtruhe. Das Aufstehen strengt ihn an. Ihm ist wieder schwindlig. Krank fühlt er sich nicht. Sollte die alte Frau ihm wirklich heimlich Schlafmittel verabreicht haben, müsste die Wirkung eigentlich nachlassen. Er hat nichts mehr angerührt, auch nicht von dem Vesper, das ihm seine Gastgeberin hingestellt und das er trotz seines knurrenden Magens nicht angerührt hat. Ob vielleicht das Wasser in der Kanne …? Hier kommt es nicht aus dem Hahn. Statt eines Badezimmers gibt es nur einen Raum mit einem Waschzuber, aber vielleicht hat er das richtige Zimmer nur noch nicht gefunden. Er hat sich bald hingelegt, ist dann sofort eingeschlafen. Das Schaben hat aufgehört. Er hat ein schlechtes Gewissen, weil er der alten Frau nicht geholfen hat.

Wenig später steht er unten, sieht sie, wie sie sich mit ihrem Unterarm die Stirn abwischt, sich eine Haarsträhne aus den Augen bläst. Was zum Teufel geht hier vor? Ist das noch die alte Dame von gestern? Mit breitem Grinsen steht sie da, ohne Zweifel ist sie es, doch um mindestens zwanzig Jahre jünger. Das Haar ist grau, aber nicht weiß. Sie trägt es offen, nicht zu einem Dutt gebunden wie gestern. Und sie ist jetzt fast so groß wie er. Da kommt ihm ein Gedanke: Sie sei wohl die Tochter, fragt er aufs Geratewohl, wo denn die Frau von gestern sei, ihre Mutter? Das laute Lachen erschrickt ihn. Die Frau geht auf ihn zu, dirigiert ihn, immer noch lachend, in den Sessel, in den er schwerfällig plumpst, als sei er ein alter Mann. So fühlt er sich auch, müde und verwirrt. Er müsse endlich etwas essen und trinken, dann gehe es ihm besser. So könne er auf keinen Fall nach Hause, so lasse sie ihn auch nicht und ob sie die Treppe heute noch geräumt bekomme, sei mehr als ungewiss. Dass könne doch er …, sagt er. Weiter kommt er nicht, denn jetzt ist ihm wieder schwindlig.

Von dem Marmeladenbrot isst er nur eine halbe Schnitte, trinkt drei, vier Schlucke Tee, fühlt sich aber bald besser. Sie sitzt ihm gegenüber, betrachtet ihn. Nicht wie jemanden, den sie nicht kennt, auch nicht wie einen, der ihr egal ist – im Gegenteil: Ihr Blick ist liebevoll und irgendwie vertraut. Kennen wir uns? Er stellt diese Frage nicht laut, denkt sie nur, doch sie antwortet ihm, schüttelt milde lächelnd den Kopf, öffnet ihre Lippen, die keine Falte mehr haben und sehr anziehend auf ihn wirken, lacht ihn offen an. Dabei wirft sie ihren Kopf in den Nacken, als ob sie ein junges Mädchen wäre, das ihm gefallen möchte und dem er vielleicht gefällt. Er senkt beschämt den Blick, sieht seine Hände im Schoß gefaltet, alte Hände mit braunen Flecken, die linke mit einem Pflaster, das auf der schrumpeligen Haut nicht mehr richtig hält. Bestürzt schaut er auf, erfasst in der spiegelnden Scheibe seinen Schemen, wenn auch nur wenig davon, aber gerade so viel, dass er elektrisiert aufspringt. Mit zitternden Beinen verlässt er das Zimmer, öffnet Türen zu anderen, ihm fremden, sucht einen Spiegel, findet keinen, auch nicht oben, nicht in dem Zimmer, in dem er geschlafen hat und in dem ihn jetzt die Arme der Frau von hinten umfangen.

Als er erwacht, ist es wieder dunkel draußen. Eine Kerze brennt auf dem Nachttisch neben seinem Bett. Er sieht den Schatten an der Decke. Den der Frau, die auf der Bettkante sitzt und über sein Haar streicht. Er sieht sie nur unscharf, ahnt aber, dass sie jung ist, noch jünger, noch schöner. Mein Liebster, sagt sie. Er kann nicht sprechen, nicht einmal im Ansatz. Sein Körper ist wie gelähmt, doch er spürt sie, ihre Wärme. Sie beugt sich über ihn. Ihre Lippen berühren seine, erst sanft, dann fest. Ihr heißer Atem belebt ihn – und doch wieder nicht, nimmt ihm jetzt den Atem. Sie schmiegt sich an ihn, er spürt ihren weichen Körper warm an seinem. Geschieht das wirklich oder träumt er nur? Kann man etwas träumen, das man noch nie erlebt hat, wenigstens ansatzweise? Es fühlt sich unwirklich an, nicht wie ein Traum, sondern wie etwas, das es nur an einem vollkommenden Ort geben kann. Im Himmel.

©Martin Bensen