Ich muss raus. Raus aus dem Mief. Dem Netz. Aus meinem Netz von klebrigen Gedanken. Raus. An die frische Luft. Auslüften. Dann fahre ich doch ein Stück mit dem Auto, weiter weg von Zuhause. Das Draußen vor der Haustür gehört inzwischen fast zum erweiterten Drinnen.
Es duftet zwar nach Blüten, süß, manchmal wie Lakritz, aber es gehört noch zum Netz, das mein Denken umspannt, auch die Landschaft, die ich in- und auswendig kenne. Die mich langweilt.
Ich parke am Mehr. Dort, wo sich das Wenige weitet. Später, nach dem satten Grün des Waldes, in freies, vielfarbiges Land. Mein geheimer Weg ist schmal, das Blattwerk so dicht, dass nur manchmal die Sonne hindurchblinkt. Ich gehe ihn trotzdem gerne, mag den Hohlweg durch die grüne Lunge – und bleibe nicht lange allein. War das nicht mal anders? War dieser Landstrich, speziell dieser kaum sichtbare Pfad, nicht immer ein Garant für einsame Streifzüge? So sehr, dass ich mich allenfalls vor wilden Tieren und, nun ja, auch Räubern fürchtete, wenigstens ein bisschen… Mir gefällt das Zurücklehnen in die Kindheitsphantasie, als noch nicht das Hirn, sondern nur die Hände klebrig waren, mit Sand ausgerieben, mit Staub ohne Mäusekot – ohne Angst vor dem Hantavirus. Ohne die allumfassende Angst vor diesem neuen, unbekannten Virus.
Der Jogger nähert sich schnell. An dieser Stelle kann ich nicht ausweichen, kann keinen Abstand halten. Wenn er doch wenigstens seinen Atem, den er mühsam holt und stöhnend ausstößt, von mir abwenden würde. Doch er stiert mich auch noch an, aus alten, blutunterlaufenen Augen. Ich wende mich ab, halte die Luft an, als er mich passiert, trabe ein Stück voran, muss endlich einatmen, zwanghaft, als ob ich gleich erstickte, hole tief Luft, mehrmals, bis sich mein Körper wieder beruhigt, nicht aber meine Gedanken. Habe ich am Ende die Aerosole eingeatmet, die Luft aus seiner Lunge, verbrauchte Luft – kranken Atem? Angeblich können sich die Schwebeteilchen lange in der Luft halten, Du kannst also nicht sicher sein – aber was ist schon sicher? Ich werde wütend, beschleunige meine Schritte, huste, spucke aus. Als ob das etwas nützen würde.
Endlich! Das freie Feld. Warme Luft weht mich an. Sie riecht nach Erde, nach frischem Grün, nach Gras und Blumen. Als ich ganz auf der Kuppe stehe, sehe ich wieder Menschen: hier zwei Jungen auf Fahrrädern, dort ein älteres Paar, das bis zu den Knien im Gras versunken ist, wie zur Hälfte die Räder der Kinder. Was habe ich erwartet? Dass die Welt still hält, sich in ein Schneckenhaus zurückzieht, noch dazu an einem so schönen Tag Anfang Mai? Nicht nach innen, nach außen treibt das Leben. Mit Macht.
Bisher schien mir Alleinsein, die völlige Abwesenheit von Menschen, an vielen Orten möglich und nur in einem Land dieser Welt ganz und gar utopisch: in China. Das Land in Fernost, fern zwar, aber nicht weit und einsam. Dort, wo ich war, war immer schon ein anderer, oft viele. Menschliche Nähe, die du nicht willst, körperlich, aufdringlich, ordinär. Wenigstens duftet hier, inmitten der weitläufigen Wiesen und Felder, die Natur. Die Kinder lachen, nur die älteren Spaziergänger sehen ernst aus. Als Kind habe ich manchmal Grimassen vor griesgrämig blickenden Erwachsenen gezogen. Wenn sie mir dann hinterherschimpften, musste ich lachen. Heute bin ich mir sicher, dass ich ihnen auf gewisse Weise geholfen habe. Heißt es nicht immer, man solle seinem Ärger Luft machen? Warum machen Kinder das nicht mit mir, mich provozieren? Ich kann auch griesgrämig gucken. Viel zu lachen gibt es ja gerade nicht. Hey, ihr da, warum macht ihr euch nicht über mich lustig? Na gut, dann lache ich halt alleine.
Wie wirke ich auf sie? Wenn der Weg ansteigt, nehme ich meine Hände auf den Rücken, großväterlich, halte mit der einen das Gelenk der anderen fest, spüre meine Fitnessuhr, überlege, ob ich für ein genaueres Zählen der Schritte nicht doch besser die Arme bewege. Ich kann das Vibrieren kaum erwarten, die Genugtuung von zehntausend Schritten. Nur das mit den Etagen kriegt der kleine Computer nicht hin. Und mein Smartphone rechnet noch mal ganz anders. Hallo? Jemand da draußen? Du wolltest doch raus. Aus den Strahlen der bereits tieferstehenden Sonne lösen sich die Schatten von Radfahrern. Eine Familie. Oder doch nicht? Vier Kinder, eine Frau, ein Mann – noch ein Mann. Wie war das mit dem Kontaktverbot? Ist doch egal. Will ich sie anklagen? Wo ich selber nicht ehrlich bin, mir eingestehen muss, dass ich mich doch über sie ärgere. So lange schon nehme ich den ganzen Mist ernst, treffe mich nicht mehr mit Freunden. Ich bin es leid. Andere halten sich auch nicht daran. Warum also ich?
Der Wald, selbst die Sträucher hätten mir Deckung gegeben. Doch jetzt, wo ich dringend pinkeln muss, ist keine Deckung in Sicht. Im Gegenteil: Ich betrete die Ausläufer des vornehmen Ortsteils, an dessen anderem Ende ich mein Auto geparkt habe. Hier gibt es allenfalls Pinkelbäume für Hunde auf schmalen Grünstreifen entlang der Häuser und Villen. In jeder Einfahrt spielen Kinder. Ein Garten mit großem Kirschbaum und einem Sandkasten erinnert mich an den meiner Kindheit. Die Kinder stecken ihre Köpfe zusammen, betrachten wohl irgendein Tier, ihre Spielsachen liegen auf dem Rasen verteilt. Wir mussten sie vor dem Abendessen immer aufräumen. Die Erinnerung packt mich, ich weiß noch genau, wie ich mich fühlte, wie der zertrampelte Rasen roch, das frische Laub und die Maikäfer, die wir im Dämmerlicht des Abends mit Federballschlägern aus der Luft zu Boden schlugen und in mit Heckenblättern ausstaffierten, oben mit Luftlöchern versehenen Zigarrenkisten aufbewahrten. Ob heute noch jemand eine Kiste Zigarren kauft?
Der Druck wird langsam unangenehm. Wenn ich nicht bald ein Versteck finde, verrichte ich meine Notdurft vor aller Augen. Vielleicht nicht gerade vor denen der Eltern. Wie viele gerade die Vorgärten bevölkern! Kurzarbeit? Vielleicht gar keine Arbeit mehr? Ich werde trübsinnig, suche wieder nach beruhigenden Anhaltspunkten. Dann registriere ich selbst Kleinigkeiten, ergötze mich an den Nichtigkeiten augenscheinlicher Normalität: etwa einem lautlos nach unten gleitenden Rolltor, das die weiß besockten Männerfüße in Sandalen, die achtlos deponierten, halbvollen gelben Säcke und den schwarzglänzenden Mercedes in der Doppelgarage wie ein Vorhang verschwinden lässt. Die heile Welt vor mir verbirgt. Oder doch nicht ganz: Durch das Gittertor sehe ich eine Frau in Gartenkleidung vor einer Papiertonne stehen; sie liest etwas auf einer Packung, schmeißt diese schließlich in die Tonne. Ruhig, bedächtig, ohne Eile. Sie schlendert zum Haus, hat Zeit. Zeit wofür? Wie friedlich das Panorama ihres Gartens mit der Villa im Hintergrund wirkt. All diesen Leuten hier geht es gut. So wie mir ja auch. Wie der alten Dame einen Garten weiter. Sie trägt einen weißen Kittel zu ihrem weißen Haar, war vielleicht mal Ärztin oder Apothekerin. Sie verteilt Blumenerde auf ein Rosenbeet. Der noch volle Kunststoffsack macht ein sattes, schmatzendes Geräusch. Das Geräusch von Überfluss, wie das beruhigende Gluckern eines Springbrunnens.
Ganz schlechter Gedanke. Doch jetzt sehe ich Wald. Ich beschleunige meine Schritte, was die volle Blase nicht gerade besänftigt. Ich werde enttäuscht: Privatweg, Durchgang verboten – eine Sackgasse. Drei Jungs, die in einem Vorhof um einen Basketballkorb tänzeln, sehen mich interessiert an. Auch wieder drei. Links geht ein weiterer Privatweg ab, dessen Durchgang nicht verboten, sondern nur auf eigene Gefahr zu betreten ist, weil er keinen Winterdienst erfährt. Das dürfte jetzt kein Hindernis sein. Wohl aber die gedrungene Frau mit den rotgefärbten langen Haaren, die äußerst langsam genau dort einbiegt. Der Weg ist so schmal, dass ich sie keinesfalls überholen kann. Soll ich eine andere Route wählen? Nicht dass die Jungs meinen, ich sei ein Lustmolch, der dieser Frau nachstellen möchte. Blödsinn, was du immer denkst! Ich gebe der Frau einen Vorsprung, doch der Abstand wird rasch wieder geringer. Lustmolch. Quatsch! Volle Blase. Und eine Augenzeugin: Eine junge Frau steht mit ihrem Kind an einem angrenzenden Zaun, beachtet uns aber nicht. Wieso uns? Ich habe nichts mit der Rothaarigen zu tun, die jetzt endlich oben ankommt und nach links abbiegt. Ich nach rechts.
Hier kenne ich mich wieder aus. Ich befinde mich an einer zweispurigen Umgehungsstraße. Weiter vorne verbreitert sich der Grünstreifen zu einem kleinen Park. Hinter einem Gebüsch nahe einem Spielplatz kann ich es endlich laufen lassen. Zum Glück sind gerade keine Kinder da. Spanner. Idiot! Ich höre Musik. Eine Geige, äußerst virtuos gespielt. Hinter einer großen Kastanie kommt ein verwilderter Garten in Sicht. Vor dem grauen Holzzaun steht eine Gruppe Menschen. Eine Ansammlung… Sie lauschen der Musik hinter dem Zaun. Jetzt sehe ich den Vituosen. Ein Mann mit langen grauen Haaren in weißem T-Shirt und kurzer Khakihose steht mit einer Geige am geöffneten Fenster und spielt auf so meisterhafte Weise, dass ich überzeugt bin, einen Profimusiker zu erleben. Jetzt erkenne ich, dass eine Frau jenseits des Zauns steht, sie hält den Zuhörenden davor eine kleine Dose hin. Die ganze Szene rührt mich, doch ich gehe weiter.
Die Strecke bis zu meinem Auto ist nur noch kurz. Sie führt an einem größeren Spielplatz vorbei, an den sich Sportanlagen und Vereinsheime anschließen. Der Spielplatz ist voll. So voll und so laut wie immer. Trauben von Kindern quirlen schreiend um die Geräte, während die Eltern beisammen stehen, schwatzen und lachen… Einige Schritte weiter kommt mir ein älteres Paar entgegen, der Mann mit Sonnenbrille und braunem Sakko bleibt stehen, er wirkt ungehalten, deutet mit seinem markanten Kinn auf den leeren Sportplatz gegenüber.
„So viele Möglichkeiten!“, ruft er und schüttelt den Kopf. Seine Frau nickt.
„Ich will ja nicht meckern…“, sagt sie, mehr höre ich nicht, weil ich mich entferne. Das Volk murrt. Unsere Vorräte gehen zur Neige, Sire – ein Satz aus dem Computerspiel meiner Söhne. Lange her. Was sie wohl treiben, da, wo sie sind? Bald können sie aufatmen. Wie alle schon heute. Wie ich?
Vom Gelände eines Sportvereins tritt eine kleine Frau auf den Gehweg. Sie sieht aus wie meine Oma, hat auch eine Handtasche wie diese, quadratisch und mit langen Tragegriffen. Mit so einer ist sie früher sogar einkaufen gegangen, das wenige, das sie brauchte, das jedoch so schwer war, dass sie die volle Tasche nicht mehr über dem Arm, sondern an der Hand hängend und von einer zur anderen wechselnd tragen musste. Diese Tasche hier scheint leicht zu sein. Die Frau stopft etwas hinein, vielleicht den Schlüssel vom Tor. Jetzt ruft ihr jemand etwas zu, eine jüngere Frau, die im Begriff ist, in ihr Auto zu steigen.
„Tschüss, Margit, schönen Abend dir!“ Die junge Frau wartet noch, sieht der älteren zu, die sich nach einigem Zögern zum Gehen wendet – unentschlossen, fast so, als ob sie gar nicht gehen will. Als habe sie Zeit, weil niemand auf sie wartet.
Zuhause riechen meine Sachen nach Sommer. Nach Kindheit. Damals war kein Monat so intensiv wie der Mai, die Zeit des Aufbruchs. Alles explodiert, alles duftet. Wenn ich Heu rieche, denke ich zwar auch an Sommer, aber dann ist nicht mehr Mai. Und es mischt sich schon ein Hauch Herbst hinein. Nur der Mai ist frisch, grün und voller Duft. Nur der Mai riecht wie der Sommer meiner Kindheit, wenn meine Mutter die frischgewaschene Bettwäsche in der warmen Sonne trocknen ließ. An solchen Abenden freute ich mich auf mein Bett, konnte es kaum erwarten, endlich darin zu liegen und an meiner Decke zu riechen, an dem Laken, das den Sommertag in sich aufgenommen hatte, das noch im Dunkeln nach Sonne duftete und nach allem, was mir tagsüber Glück bereitet hatte. So schnupperte ich mich in den Schlaf und träumte meinen Sommertag weiter. Auch jetzt kann ich ihn riechen. An meinem T-Shirt. Ich werde es anbehalten über Nacht.