Wiederentdeckte Weihnachtsgeschichte aus dem Jahr 2000
„Heilig Abend – erheiternd und labend. Noch eins, Herr Wirt!“ Das zynische Lächeln gefror dem Gast am Tresen im Gesicht. Noch immer waren seine Hände taub vor Kälte, eine eisige Böe drückte gegen die Fenster der kleinen Kneipe. Jeder Schluck spülte ihn weiter fort von diesem unglückseligen Abend, der doch so schön begonnen hatte.
Alles war in Gold getaucht, der Duft nach Tannenharz und Lebkuchen hatte das Haus erfüllt – das Klingeln des Glöckchens, die Kulleraugen der kleinen Tochter vor ihren vielen Geschenken. Was es genau war, wusste er nicht mehr. Sie brach plötzlich in Tränen aus, weinte und schrie in ihrem Haufen zerrissenen Geschenkpapiers. Schließlich begann sie zu toben, riss sich ihre neue Perlenkette vom Hals, sprang hoch und warf sich auf den Boden, rollte wie wild hin und her, während der ganze Körper bebte und der Christbaum bedenklich schwankte.
Er war geflüchtet, hatte sich nur den Mantel gegriffen und war schon aus dem Haus, als seine Frau noch regungslos auf dem Sofa gesessen hatte, unfähig, dem wütenden Treiben der Tochter Einhalt zu gebieten. Durch heftiges Schneegestöber war er gelaufen, weiter und weiter, ohne Ziel. Nur raus, einfach nur raus. Immer wieder war er gestolpert oder ausgerutscht. Vom eisigen Wind durchkühlt war er schließlich hier gestrandet, in einer kleinen Kneipe am Rande der Stadt.
Wieder war er geflüchtet, wie immer in letzter Zeit. Auch als Manager einer mittelständischen Firma ging er neuerdings jedem Konflikt aus dem Weg, er konnte nicht mehr, fühlte sich verbraucht – die Krise erwischte ihn unerwartet heftig, er war erst einundvierzig…
Er schreckte aus seinen Gedanken, ein kalter Luftzug durchschnitt die kleine Kneipe, in der er der einzige Gast war. Gewesen war: Ein Mann nahm Platz an einem Tisch in der Ecke, grau und müde sah er aus. Er bekam eine Tasse Tee, die er sofort mit beiden Händen umklammerte und zunächst einfach nur festhielt. Jetzt erst fielen seine zerschlissenen Handschuhe auf, sein schmutziger Mantel. Ein Penner, dachte der Geschäftsmann, konnte seinen Blick kaum von ihm abwenden. Er mochte seinen Anblick nicht, er störte ihn sogar. Ein dumpfer Groll kochte in ihm hoch, und schließlich platzte es aus ihm heraus: „Kein Zuhause an diesem heiligen Abend? Im Pennerheim kein Bett mehr frei?“
Der Wirt hob beschwichtigend die Hände. „Lassen Sie den Mann in Ruhe, ich will hier keinen Ärger, schon gar nicht heute!“
Der Mann am Tisch musterte den Gast am Tresen mit einem fast gleichgültigen Blick, pustete in die Tasse und trank einen ersten vorsichtigen Schluck. Der Mann am Tresen fühlte sich durch die betonte Gelassenheit des anderen provoziert.
„Ich meine, das hier ist nicht gerade der Ort für eine Bescherung“, setzte er nach.
Der Mann am Tisch ließ seine Teetasse sinken und schaute den anderen direkt an. Dann begann er zu sprechen, langsam und leise.
„Die gleichen Fragen könnte ich Ihnen stellen, aber das ist mir zu billig. Und es ist doch wohl so: Wer an diesem Abend nicht bei seiner Familie ist oder bei Freunden, dem ist er entweder nicht heilig oder das Schicksal hat zugeschlagen.“ Obwohl der Mann leise sprach, hallte jedes seiner Worte im kleinen Gastraum nach. Gebannt hörten der Wirt und der Mann am Tresen weiter zu.
„Sehen Sie, ich habe nichts mehr zu verlieren. Nun gut, vielleicht noch meine Seele. Ich habe schon lange aufgehört zu kämpfen. Ich bin ganz unten, ein Penner jawohl, einer, den Menschen wie Sie nur mit Verachtung strafen. Für Sie bin ich ein Nichts.“
Der Mann am Tresen zog abfällig die Mundwinkel nach unten.
„Na, ganz schuldlos werden Sie daran ja wohl nicht sein?!“ blaffte er Richtung Tisch.
Der andere Mann ließ die Worte einen Moment lang wirken, dann sprach er wieder, noch leiser als zuvor.
„Schuldlos bin ich tatsächlich nicht. Einen ganzen Berg an Schulden habe ich. Und ich werde sie niemals in meinem Leben mehr zurückzahlen können. Immerhin, meine Seele habe ich nicht verkauft.“
„Sie mit Ihrer Seele. Wir leben hier und jetzt, allein das zählt. Kannste was, haste was. Und haste was, biste was. So einfach ist das! Noch eins, bitte!“
Jetzt schien ein Lächeln das Gesicht des Mannes am Tisch zu erhellen. Kurz nur, dann wurde er wieder ernst.
„Ich erzähle Ihnen eine kleine Geschichte. Keine Angst, sie ist ganz kurz. Es war an Heiligabend. Der Vater kam müde von der Arbeit, die ganze Familie hatte ihn schon erwartet, um endlich Bescherung machen zu können. Als wie immer das Glöckchen erklang, kamen die drei Kinder angerannt. Nun ja, Kinder sind sie ja nicht mehr – richtig groß sind sie, aber immer noch so kindlich. Wie freudig sie die Geschenke aufrissen, wie selig sie anschließend alles bestaunten, während sie sich die Kekse in den Mund stopften im Glanz des so liebevoll geschmückten Christbaums. Dem Vater aber wurde es eng um sein Herz. Eine Weile kämpfte er noch. Vergeblich. Und als ein Jahr später wieder die ersten Weihnachtslichter brannten, verließ er an einem milden Novemberabend das Haus, um Zigaretten zu holen – und kam nicht wieder. Genau an Heiligabend vor einem Jahr hatte er seinen letzten Arbeitstag gehabt. Von heute auf morgen vor die Tür gesetzt. Wie viele andere auch. Trotzdem fühlte er sich ganz allein als Versager. Und das blieb so. Mit Mitte vierzig bist du heute abgeschrieben. Von der Kündigung erzählte er seiner Familie erst im neuen Jahr. Schließlich sollte es ein schönes Weihnachtsfest werden. Ein letztes schönes Fest im Kreise der Familie. Gott weiß, wie sehr ich sie vermisse…“
Der Mann an der Theke war erstarrt. Langsam erhob er sich von seinem Hocker, legte zitternd einen Schein auf die Theke und den Rest seines Geldes auf den Tisch des Mannes. Am Ausgang drehte er sich noch einmal um.
„Guter Mann, kehren Sie zurück! Ihre Familie braucht Sie doch! Was meinen Sie, was ich jetzt mache?“ Entschlossen drückte er die Klinke herunter.
„Bloß weil die Puppe nicht blond war. Jetzt kann meine Tochter aber was erleben!“ Krachend fiel die Tür ins Schloss. Draußen wehte der Wind einen Weihnachtsbaum um.