Kartoffelherz

„Es ist eine Schande!“ Wütend stampfte der Koch mit dem Fuß auf. Die Holzdielen knarrten unter seinem Gewicht, das Geschirr in den Schränken klirrte. Gerade einmal eine Gabel hatte die Herrin von ihrem Teller gegessen. Was man auch tat, wie schön man das Mahl auch dekorierte, nichts brachte diese… diese… Person dazu, etwas mehr zu nehmen als genau diese eine Gabel. Der dicke Koch rang die Hände, schließlich seufzte er und nahm sich des vollen Tellers an. Es hing ihm zum Hals heraus: Tagein, tagaus gab es Kartoffeln. Ausschließlich Kartoffeln. Aber nicht irgendwelche Kartoffeln. Seit dem Tod ihres Gemahls, des Königs – vor nunmehr sieben Wochen war er direkt nach dem Abendmahl zu Bett gegangen und nicht mehr aufgewacht – aß seine Witwe nichts anderes mehr als diese außergewöhnlichen Kartoffeln. Nicht eine besondere Sorte – es war einzig diese Form der Kartoffel, die sie bevorzugte: Kartoffeln in Herzform. Doch nur wenige der gemeinen Knollen waren mit dieser Laune der Natur gesegnet.

„Jeden Tag ein Kartoffelherz! Ich will jeden verdammten Tag ein Kartoffelherz!“ Erst verstanden die Diener nicht. Sie fragten sich, ob sie recht gehört hatten, berieten sich untereinander, bis ihnen der Leibkoch des Königspaars auf die Sprünge half. Er hatte just an jenem Tag, an dem sie ihren Herrn das letzte Mal lebendig und äußerst gut gelaunt gesehen hatten, eine herzförmige Kartoffel aus dem Korb gefischt, als der König plötzlich in der Küche stand, auf die Knolle zeigte und lauthals zu lachen anhob. Er nahm dem Koch die Kartoffel aus der Hand und hielt sie sich an seine Brust. Der ebenfalls anwesende Küchendiener eilte hinzu, weil er befürchtete, der König könne sein edles Gewand beschmutzen. Doch der wehrte ab. Mit großer Geste deklamierte er eines seiner Liebesgedichte, mit dessen immergleichen Reimen er die Hofgesellschaft mehr plagte als unterhielt. „Mehr als den edelsten Nerz / Wähle mein Lieb dies köstliche Herz!“ Er tat, als risse er sich sein eigenes heraus, hielt dem Koch die Kartoffel hin und befahl ihm, diese nach allen Regeln der Kunst zu bereiten, ohne ihrer Gestalt und ihrer Hülle aber ein Leides anzutun. Andernfalls müsse er, der Koch, sein eigenes, nichtsnutziiges Herz hergeben. Da ahnten beide noch nicht, dass genau dieses Schicksal ihn, den Herrn selbst, ereilen würde.

Dem Koch gelang ein Meisterstück, sehr nach dem Geschmack der Königin und noch mehr nach der Freude ihres Gemahls. Als dieser gerade seine Verse anstimmen wollte, hielt er vor Schreck inne und musste mit ansehen, wie seine liebe Frau, die durchaus noch jung an Jahren und bisweilen ungestüm wie ein Wildfang war, die Kartoffel kurz ansah und hernach mit der Gabel zerdrückte. Ihm war, als quetschte sie sein Herz zusammen, als zerfleischte sie es, während es doch so liebestrunken für sie schlug. Als sie die Kartoffel auch noch mit heißer Butter übergoss und vermanschte, war dem Herrn Gemahl der Appetit vergangen. Er entschuldigte sich und zog sich in seine Gemächer zurück. Die Königin schüttelte nur sachte ihr Haupt und ließ sich den Kartoffelbrei schmecken.

Erst am dritten Tag nach der prunkvollen Beerdigung ihres Mannes, verlangte es die Königin wieder nach etwas Essbarem. Sie ließ ihren Leibkoch kommen. Was das mit der Kartoffel gewesen sei, wollte sie von ihm wissen. Der Koch wusste erst nicht, was seine Gebieterin meinte, da schlug diese mit der Gerte auf den Tisch. Was sie denn befehle, fragte der Koch kurzatmig. Die Königin lächelte böse. Na, was denn wohl? Ein Kartoffelherz! Sie sei hungrig, also möge er sich beeilen. Verzweifelt rannte der Dicke in seine Küche zurück. Atemlos rief er nach den Helfern und Dienern, die, als sie von dem Wunsch ihrer Regentin hörten, wie die Hühner durcheinander liefen. Es war ausgerechnet dem Einfall eines Laufburschen zu verdanken, der als einziger einen kühlen Kopf bewahrt hatte, dass der Koch alsbald das gewünschte Gericht zubereiten konnte. Er hatte zwei Kartoffeln so gegeneinander gehalten, dass sie zusammen aussahen wie ein Kartoffelherz. Ob der Koch die beiden Knollen denn nicht so garen könne, dass sie aneinanderklebten. Dem Dicken bieb der Mund offen stehen. Fürwahr, rief er lachend, das könne er sehr wohl. Flugs begab er sich ans Werk. Die Diener atmeten erleichtert auf. Nicht lange, da brachte einer von ihnen der Herrin den Teller mit der dampfenden Kartoffel. Die Königin blickte zufrieden auf das braun-gelbe Herz, griff nach der goldenen Gabel und piekste damit in die makellose Schale der Kartoffel. Kaum dass sie diese berührte, zerfiel das Herz in zwei Hälften. Wütend sprang die Herrin auf und fegte den Teller vom Tisch. Erschrocken kam der Diener gelaufen, der Koch kauerte ängstlich hinter der Tür und hörte die Flüche der edlen Frau. „Das soll er mir büßen, dieser elendige Fettwanst!“ schrie sie und stürmte an dem Diener vorbei, der sich gleich daran machte, die Scherben aufzuheben.

Für diesmal blieb der Koch verschont, die Königin hatte sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Ihr Gang war unsicher gewesen. Kein Wunder, tuschelten die Diener, wenn sie aber auch nichts aß… Der Koch wünschte die edle Dame zum Teufel und doch fasste er einen Entschluss: Er begab er sich zu den Stallungen, um ein paar Gardisten zu überreden, zu den nächstgelegenen Höfen zu reiten. Die verhöhnten ihn erst. Wie sie denn dazu kämen, Besorgungen zu machen, sie seien schließlich keine Dienstmägde. Der Dicke erzählte ihnen, was sich zugetragen hatte, und flehte sie an. Um seines Lebens willen. Die Reiter hatten ein Einsehen. Sie ließen sich schildern, nach was die Königin verlangte und gaben ihren Pferden alsbald die Sporen. Noch vor der Dämmerung kehrten sie zurück. Mit leeren Händen. Der Koch war verzweifelt. Da beruhigten ihn die Männer. Sie hätten den Bauern befohlen, alle ihre Kartoffeln auf Wagen zu laden und am Seiteneingang des Schlosses abzuliefern. So könnten der Koch und die Diener in Ruhe nach dem suchen, was ihnen so wichtig sei. Der Dicke seufzte, halb vor Erleichterung, halb in düsterer Gewissheit, was es bedeutete, die Nadel im Heuhaufen finden zu müssen.

Wider Erwarten wurden die Diener alsbald fündig, gleich zwei Kartoffelherzen fischten sie aus dem mannshohen Knollenberg, bevor die Dunkelheit Hof und Garten vollends umfing. Die Bauern murrten, als sie ohne ihre Kartoffeln weggeschickt wurden. Für den Koch war unterdessen ausgemacht, dass die Erdäpfel konfisziert waren. Gebt dem König, was des Königs ist, dachte er. Nun gut, in diesem Fall fürderhin der Königin. Die beiden herzförmigen Knollen waren zwar nicht so groß wie jene, die der König ihn hatte zubereiten lassen, doch diese würden ihn immerhin zwei Tage am Leben halten. Morgen würde man weitersehen und notfalls weitere Kartoffellieferungen anfordern. Die Reiter schienen nicht unwillig zu sein, waren sie doch froh, ihren Pferden Auslauf zu gewähren. Seit dem Tod des Königs war eine bleierne Lähmung über das höfische Leben gekommen. So waren auch die Stallburschen von Herzen froh über die Kartoffelflut, das Vieh gierte danach und auch sie selbst ließen sich die gelben Knollen auf alle erdenkliche Weise schmecken. Selbst die große Tafel der Höflinge bereicherte das Gemüse, binnen kurzem waren die Haufen abgetragen, bevor sie in die Scheunen verbracht werden konnten, wo Ratten und anderes Getier vergeblich auf Essbares warteten.

Die Königin zeigte sich zufrieden, doch aß sie ihren Teller mitnichten leer. Etwas schien ihren Appetit zu zügeln. Ohnehin besah sie ihr Kartoffelherz nur kurz, beinahe widerwillig, bevor sie wie von Sinnen mit der Gabel auf dieses einstach, es zerdrückte wie am ersten Abend, als ihr Gemahl blank entsetzt von der Tafel gewichen war. Derweil fanden sich weitere Kartoffelherzen an, wenngleich die Mengen und die Mühen in keinem Verhältnis zum Ertrag standen. Und so kamen die Reiter eines Tages erschöpft und bedrückt an den Hof zurück. Im ganzen Land gebe es keine Kartoffel mehr, die Menschen würden krank, dabei stehe der Winter erst vor der Tür. Auch die Höflinge machten sich Sorgen, ganz aufgedunsen sahen sie aus, wie sie mit ihren verwöhnten, hellen Stimmchen über die bedrohliche Lage umeinander schwatzten. In den Wäldern gebe es doch genügend Wild, meinten sie, sollten doch die Jäger nur recht gut zielen und reiche Beute machen. Tag und Nacht durchstreiften diese die Wälder und schossen auf alles, was sich bewegte. Etwa um diese Zeit hatte der Koch der Königin untertänigst beigebracht, dass es in ihrem ganzen Reich keine Kartoffeln, mithin keine Kartoffelherzen mehr gebe. Ganz ruhig war sie geblieben und nach langem eisigen Schweigen, sagte sie etwas, von dem der Dicke erst dachte, er habe sich verhört. Seine Herrin wiederholte ihre Worte – scharf wie Messer waren sie und sie stachen in sein Herz. Die jungen Kälberherzen wolle sie, ehe auch das ganze Vieh verhungere, solle die feine Gesellschaft doch das Fleisch essen, ihr aber möge er jeden Abend das noch warme Herz eines frisch geschlachteten jungen Tieres bringen.

Der Koch tat wie ihm befohlen wurde und schlachtete jeden Abend ein Kalb, die Burschen kümmerten sich um die Rinder, die sie wegen einer Seuche alsbald notschlachten mussten. Weil nicht genügend Pökelsalz vorhanden war, verdarb der Großteil des Fleisches, denn auch die feine Gesellschaft verschmähte das Vieh, verspeiste stattdessen lieber die frische Beute der Jäger. Also schmuggelte der Koch das eine oder andere Herz vom Jungwild auf die Teller, ohne dass die Königin murrte. Als auch diese zur Neige gingen und die Jäger mit gesenkten Häuptern und Büchsen aus den Wäldern schlichen und als auch die Bauern im Land ihr Vieh größtenteils verscharren mussten statt es verzehren zu können, wurde dem Koch wieder angst und bange. Anders als die Kartoffeln aß die Königin die warmen, blutigen Herzen ganz, die Gabel ließ sie beiseite, nahm stattdessen den goldenen Vorlegelöffel. Vielleicht biss sie ein- oder zweimal ab, doch auf das Personal wirkte es, als verschlänge sie das Herz am Stück. So furchtbar waren die Abendessen anzusehen, dass bald allerlei Gerüchte umhergingen, in denen die Herrin des Nachts unruhig durch das Schloss wandelte. In den Gesindehäusern verschloss man die Türen schon früh am Abend und verbarrikadierte sie zusätzlich von innen, so sehr fürchtete man die blutrünstige Dame, in welche ganz offensichtlich der Leibhaftige gefahren war. Sie selbst unternahm nichts gegen das ängstliche Gewisper, das ihr gleichwohl zu Ohren kam. Im Gegenteil: Am nächsten Tag verlangte sie etwas wahrhaft Ungeheuerliches.

„Bringt mir das Herz einer Jungfrau“, befahl sie mit kalter Miene. Ihr schmales, leichenblasses Gesicht und ihre knochigen Hände ließen sie wie eine Untote erscheinen. Der Koch erschauderte. Vielleicht war diese Frau bereits tot und ihr Geist sprach zu ihm. Ein böser Geist. „Ich will es roh und warm. Wenn es nicht bis heute Abend auf meinem Teller liegt, lasse ich ihn hinrichten. Hat er das verstanden?“ Der Koch bejahte zitternd und zog sich ängstlich zurück. In der Küche ließ er seinen Tränen freien Lauf. Einige Male dachte er daran, das Messer gegen sich selbst zu richten. Auf keinen Fall durfte geschehen, was die grausame Königin verlangte. Im Königreich verhungerten die Menschen und jetzt wollte ihre Herrscherin auch noch die eigenen Kinder fressen? In seiner Verzweiflung rief er nach den Bediensteten, aber niemand erschien. Er sah in den Gesindehäusern nach, doch eines nach dem anderen fand er verlassen vor. Alle außer ihm hatten das Weite gesucht, waren zu ihren darbenden Familien gezogen, nicht ohne die letzten essbaren Reste mitzunehmen. Was mit den feinen Damen und Herren geschehen würde, wusste er nicht. Doch sehr wohl wusste er jetzt, was er zu tun hatte.

Eilig begab er sich zurück in die Küche, nahm das schärfste Messer und wandte sich dem Thronsaal zu. Dort fand er die Königin in größter Unruhe vor, sie hatte den Thron verlassen und schritt ungeduldig auf und ab. An der rechten Seite befand sich ein großer Tisch aus Granit, der zu Lebzeiten des Königs zum Ausrollen des Kartenmaterials für den Kriegsrat gedient hatte. Ohne noch lange zu hadern, rannte der Koch mit dem Messer los. Die Königin wich erschrocken zurück, doch der dicke Mann lief auf den Tisch zu. In einer schnellen Bewegung legte er sich rücklings darauf, schnitt mit dem Messer sein Hemd auf und entblößte seine Brust. Die Königin hatte irritiert zugesehen, doch sie begriff schnell. Ein teuflisches Lächeln huschte über ihr Gesicht, während sie auf den fetten Körper zuging. Sie spitzte ihre blutleeren Lippen, als sie den Schaft des Messers nahm, das ihr der Koch hinhielt. Die Königin zögerte nicht lange. Als hätte sie nie in ihrem Leben etwas anderes gemacht, rammte sie die Klinge in den mächtigen Leib des Kochs.

Der Winter verlief milder als erwartet und kaum dass die ersten Pflanzen aufkeimten, schöpften die Menschen wieder Hoffnung. Sie hatten in ihren Hütten ausgeharrt, von dem wenigen gelebt, das sie noch bevorrateten und auch die letzten Krümel brüderlich geteilt. Und so wollten sie ihren Augen nicht trauen, als sie die ersten Wildgänse erblickten. Bald schon sahen sie Fasane, hörten das Röhren eines Hirsches im Wald. Wildschweine hatten frische Spuren hinterlassen. Überall im Land keimte mit dem Grün des Frühlings neuer Lebensmut auf. Schließlich wagten sich die tapfersten Männer an den Hof vor. Mit Büchsen und Schwertern im Anschlag betraten sie einen Raum nach dem anderen, stießen überall auf Tod und Verwesung. Als sie zum Thronsaal vordrangen, konnten sie nicht anders, als ihre Blicke abwenden.

In den Überlieferungen derer, die das Grauen gesehen hatten, war zu lesen, dass die meisten Höflinge den gemeinsamen Freitod gewählt hatten. Die Königin aber hatte ihren Koch geschlachtet. Und das war ihr Verderben: Sein fettes Herz blieb ihr im Halse stecken. Wieder und wieder erzählten sich die Menschen die traurige und grausame Geschichte ihres Königreichs, das schließlich von dem Herrscher des benachbarten Landes übernommen wurde. Das Schloss ließ er dem Erdboben gleichmachen, lediglich das Lustschloss nutzte der neue König, ein gütiger Herr mit weißem Bart, als Jagd- und Sommerresidenz.

Seit dieser unglückseligen Geschichte ist nie wieder eine herzförmige Kartoffel auf einen Teller gekommen. Sie galt den Bauern fortan als böses Omen, weswegen sie eine solche Knolle, so selten sie dergeichen auch ernteten, eilends entzwei rissen und ins Feuer warfen. Sollte sie doch wie ihre einstige Königin in der Hölle schmoren.

©Martin Bensen