Traumgesichte (II): Heimkehr

Was freute ich mich auf Zuhause! Die Fahrt war lang gewesen, zweimal war ich nur knapp am Sekundenschlaf vorbeigeschrammt. Das Adrenalin des Erschreckens hatte am Ende gereicht, um die Strecke ohne Pause durchzustehen. Jetzt befuhr ich den Zubringer in die Stadt, in meine Heimatstadt. Nur noch den Weg hoch, dann war ich endlich Zuhause. Dachte ich.

Gerade wollte ich mit dem üblichen Schwung in unsere Einfahrt einbiegen, da sah ich zum Glück noch rechtzeitig das andere Auto. Was zur Hölle… Direkt vor unserer Garage stand ein SUV. Wem zum Teufel mochte das Auto gehören? Hatten wir so spät noch Besuch? Am Sonntagabend? Im Haus war es dunkel. Seltsam. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, als ich ausstieg. Das Gepäck ließ ich erstmal im Wagen. Selbst im Halbdunkel erkannte ich, dass der Vorgarten anders aussah, die Pflastersteine, die Treppe, ja selbst die Haustür, die wir vor kurzem doch erst erneuert hatten. Was um Himmels willen war hier los? Hilfesuchend schaute ich mich um. Das hier war zweifellos unser Haus, aber es hatte sich verändert, auch die Nachbarhäuser wirkten im fahlen Licht der Straßenlaternen nicht ganz wie sonst. Je mehr ich sah, desto mehr Details kamen mir fremd vor. Wie konnte das sein? Ich war doch keine Woche weg gewesen…

Zitternd steckte ich meinen Hausschlüssel ins Schloss. Als hätte ich es geahnt: er passte nicht. Warum hatte Susanne die Tür austauschen lassen? Was passierte hier? Die Türklingel! Auch sie sah anders aus, viel moderner. Okay, das Haus gehörte ihr, sie hatte es geerbt. Aber bisher haben wir immer alles zusammen geplant, der Baukredit lief sogar über mich. Deshalb fühlte ich mich hier genauso zuhause wie meine Frau. Bis jetzt. Schweren Herzens drückte ich auf den rot beleuchteten Knopf. Ein Gong mit mehreren Tönen. Big Ben! Hatte Susanne den Verstand verloren? Hatten wir uns nicht neulich erst über den Klingelton bei Bekannten lustig gemacht? Der hier ging gar nicht! Befand ich mich doch am falschen Haus? Das Licht ging an, ich sah einen Schatten im Treppenhaus, er näherte sich langsam der Tür. Ein Gesicht erschien hinter der kleinen Fensterscheibe. Ich erschrak. War das Susanne? Der Kopf hinter dem dicken Glas ähnelte dem meiner Frau, aber er wirkte älter, die Haare waren nicht dunkel, sondern grau und auch nicht schulterlang, sondern streichholzkurz. Susanne? Wie siehst du aus? Was ist mit dir passiert? Ich musste laut geschrien haben, auch im Nachbarhaus ging Licht an. Ich hörte ein knirschendes Geräusch, dann öffnete sich vor mir die Tür.

Die Frau war eindeutig Susanne, aber wie konnte sie sich innerhalb einer Woche so verändern? Den aschgrauen Morgenmantel hatte ich auch noch nie an ihr gesehen, sie mochte es eigentlich immer bunt. Der leicht abgenutzte Stoff verdeckte nur unzureichend ihre korpulente Figur. Susanne dick? Meine Frau war doch immer gertenschlank gewesen, eine Sportlerin, dreimal die Woche Yoga, sparsamste Mahlzeiten, kein Alkohol. Da war sie so anders als ich. Aber diese Frau hier ganz und gar nicht. Das war doch nicht die Susanne, die mich noch vor einer Woche zum Abschied geküsst hatte. Was zum Teufel ging hier vor? Ich taumelte einen Schritt zurück. „Susanne“, flüsterte ich fassungslos.
„Sollte ich Sie kennen? Was wollen Sie von mir – mitten in der Nacht?“ In Susannes müden, von dunklen Ringen umgebenen Augen flackerte Angst. Nebenan wurde ein Fenster geöffnet, eine männliche Stimme fragte: „Ist alles in Ordnung, Susanne? Kennst du den Mann?“
„Alles okay, Walter. Der Herr hier hat sich nur verfahren.“
„Susanne!“ Mein Hals war wie zugeschnürt. „Erkennst du mich denn nicht? Ich bin’s, Paul. Dein Mann… “
Susanne trat einen Schritt zurück und noch ehe ich reagieren konnte, fiel die schwere Tür ins Schloss.
„Verschwinden Sie, sonst ruf ich die Polizei!“ Ihr Gesicht hinter dem Fenster war jetzt angstverzerrt. Das war nicht meine Susanne! Da stand eine alte Frau. Trotzdem wollte ich nicht aufgeben. Wieso war alles verändert? Warum erkannte mich meine eigene Frau nicht?
„Susanne, sag mir bitte, was los ist! Ich bin’s doch – Paul! Dein Paul! Erkennst du mich denn gar nicht? Da schau, unser Ehering!“ Ich gestikulierte mit meiner rechten Hand vor der Glasscheibe, das Platingold schrammte versehentlich daran entlang. Augenblicklich verschwand das Gesicht dahinter. Von weiter hinten im Haus hörte ich Susannes Stimme, sie klang fremdartig, offenbar telefonierte meine Frau mit jemandem. Ich wusste nicht, was ich noch tun konnte, wollte klopfen, ließ es aber lieber sein. Plötzlich ein Schlag auf den Hinterkopf, ich spürte wie mich eine starke Hand am Kragen packte, ich bekam keine Luft mehr. Bevor mir schwarz vor Augen wurde, flackerten blaue Lichter an der Hauswand. Und mit einem Mal wusste ich: Das hier war nicht mein Haus! Hatte ich mich doch verfahren? Träumte ich das alles nur?

Eine Sirene ertönte, ich schlug die Augen auf. Dampf, zuckendes Blaulicht, weißer Stoff. Ein beißender Gestank nach verbranntem Gummi, nach Öl und Benzin. Ich konnte mich nicht bewegen. Oh nein, der Sekundenschlaf, ein Unfall! Jemand umfasste meine linke Schulter, rüttelte meinen Körper. Aua, das tat doch weh! Wütend riss ich meine Augen auf. War das nicht… ? Susanne!
„Du hast geträumt.“ Sie ließ mich wieder los und drehte sich um.
„Susanne! Du glaubst nicht, was… “ Doch ein unwirsches Knurren ließ mich verstummen. Mein Herz raste. Ich wagte nicht, mich zu bewegen. Jetzt bloß nicht wieder einschlafen! Hier wollte – nein, hier musste ich bleiben. Hier bin ich richtig. Hier bist du. Susanne! Ich halte dich fest. Wie schön, deine regelmäßigen Atemzüge zu hören, dein leises Schnarchen. Alles so vertraut. Mein Leben, meine Liebe, hier und jetzt.

Blau flackerndes Licht drang durch die Jalousien. Ich kniff die Augen zusammen, zog mir die Decke über den Kopf, kuschelte mich ganz eng an meine schlafende Frau.

Dachte ich.

©Martin Bensen