Nostalgia

Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich hatte mir dieses kleine Café im hintersten Winkel einer etwas entlegenen Gasse Barcelonas ausgesucht, um ungestört meine Eindrücke dieser großartigen Stadt und die Umstände meiner Flucht zu verarbeiten. Nicht im Traum hätte ich für möglich gehalten, ausgerechnet hier noch einmal meiner ersten Liebe zu begegnen. Dabei erschien sie mir gar nicht persönlich. Aber der Reihe nach.

Mein Smartphone zeigte mir, dass ich in diesem unscheinbaren Café tatsächlich ungestört sein würde: kein Netz. Gut so. Trotzdem zog ich mein Notebook aus dem Rucksack, ich wollte alles aufschreiben, was mir durch den Kopf ging. Nicht einmal einen Tag war es her, dass ich mich von meiner Frau getrennt hatte. Hals über Kopf, nur mit einem Rucksack als Gepäck war ich zum Flughafen gefahren, um in den nächstbesten Flieger zu steigen. Bloß weg, Ich hatte fertig.

Die mürrische, ältere Kellnerin offenbar auch, sie stand plötzlich an meinem Tisch und sah mich nur fragend, nein, eher gebieterisch an. Etwas eingeschüchtert bestellte ich auf Spanisch einen Kaffee. Anders als in den modernen Coffee-Shops, kam keine Nachfrage, offenbar gab es hier wohl auch keine ausgefeilten Kaffee-Varianten. Mir recht. Ich wollte gerade mein Notebook öffnen, als ich einen weiteren Gast drei Tische weiter wahrnahm. Dabei war ich mir sicher gewesen, alleine zu sein, doch dort saß eindeutig eine junge Frau, mir zugewandt, aber den Blick zum Fenster gerichtet. Unwillkürlich sah auch ich nach draußen, auf eine bröckelnde Mauer keine drei Meter entfernt. Hier gab es überhaupt nichts zu sehen, warum also blickte die Frau hinaus? So taktvoll wie möglich musterte ich sie, tat dabei so, als würde ich meine ganze Aufmerksamkeit meinem elektronischen Gerät widmen.

Als der Startbildschirm erschien, sah ich erneut auf und blickte geradewegs in die schönsten Augen der Welt. Die junge Frau schaute ganz unbefangen zu mir herüber und zog mich vom ersten Augenblick an geradezu magisch an. Sie war eindeutig nicht von hier, ihr blondes Haare fiel weich und luftig auf ihre Schultern, sie war schlank, aber nicht zierlich. Ihre vollen Lippen waren nicht geschminkt, überhaupt wirkte die junge Frau in ihrem bunt gemusterten Pullover sehr natürlich. Sie erinnerte mich an jemanden. Während ich mich noch fragte, an wen, erhob sie sich. Ich erschrak. Im selben Moment knallte die unwirsche Kellnerin eine kleine Tasse mit schwarzer Flüssigkeit auf meinen Tisch und entfernte sich sofort wieder. Die junge Frau steuerte auf meinen Platz zu, ich spürte unten ein Kribbeln, fühlte, wie Hitze in mir aufstieg, bestimmt war ich im Gesicht ganz rot geworden.

„Darf ich?“, fragte die junge Frau lächelnd und deutete auf den Stuhl gegenüber.
„Natürlich… Gerne…“, stotterte ich und deutete ebenfalls auf den Stuhl. Eine schüchterne Geste, für die ich mich sofort schämte. Diese Frau hätte meine Tochter sein können, was ging denn gerade in mir vor, dass ich mich benahm wie ein pubertierender Jüngling? Die Frau setzte sich, sah mich dabei unverwandt an. Diese Augen! Und der Duft! Woher kannte ich diesen Duft? Plötzlich wusste ich es: Meine erste Liebe hatte ganz genauso gerochen, nach Moschus, ganz leicht nur, mit einem Hauch Patchouli, nach ihr selbst, nach Mädchenhaut. Wie konnte ich diesen Duft je verlieren? All die Jahre bin ich kein einziges Mal mehr auf ihn gestoßen. Jetzt kam er mit Macht zurück, überwältigte mich auf geradezu ordinäre Weise.

„Schnupperst du immer wie ein Hund, wenn du jemandem begegnest?“ Die junge Frau lachte. „Ich darf doch Du sagen?“
Ich errötete abermals. Ihre Natürlichkeit warf mich förmlich um. Was war ich doch für ein trutschiger alter Mann geworden. Nie wollte ich so werden, jetzt führte mir diese junge Frau vor Augen, dass ich an meinen einstigen Idealen grandios gescheitert war.
„Entschuldige meine große Klappe, das war nicht gerade taktvoll von mir.“ Die Frau lachte wieder, auch ihr Lachen kam mir bekannt vor, hell und klar, ohne Spott, fast aufmunternd. „Aber du sahst gerade einfach zu komisch aus. Echt wie ein Hund. Schöne braune Augen hast du.“ Sie biss sich augenblicklich auf die Lippe.
Was wurde das hier? Wieder dieses Kribbeln zwischen den Beinen, ein Ziehen im Unterleib.
„Keine Angst, ich will dich nicht anmachen. Ich bin so. Manche kommen damit nicht zurecht, aber ich lass mich nicht verbiegen. Sag doch was?“ Die Frau lächelte immer noch. Dann reichte sie mir ihre Hand, ich nahm sie hastig, spürte ihre kühle, glatte Haut. „Ich heiße Lisa.“
Abrupt ließ ich los. War das noch Zufall? Lisa! So hieß meine erste Liebe auch. Die wunderschönen blauen Augen – wie die von Lisa. Ihr Lächeln bekam jetzt einen verlegenen Zug, sie sah mich irritiert an, ihre Mundwinkel zuckten nervös.
„Entschuldige“, sagte ich mit rauer Stimme. Ich fasste mir ein Herz. „Es ist nicht so, wie du denkst. Ach, was weiß ich, was du denkst. Sorry, ich bin gerade total überrascht.“
„Offensichtlich“, erwiderte die Frau und lächelte schon wieder fröhlicher. „Ich weiß um meine Wirkung auf Männer.“
„Das ist es nicht.“ Nervös klappte ich mein Notebook zu, der Kaffee war bestimmt schon kalt, ich schob die Tasse zur Seite.
„Ach nein?“ Die Frau lehnte sich mit gespielter Enttäuschung zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und machte einen Schmollmund. Verdammt noch mal, auch Lisa…
„Was ich sagen will… “ Ich rang nach Worten. „Du erinnerst mich wahnsinnig an meine erste Liebe. Das ist richtig beängstigend, wie sehr!“
„So so. Beängstigend.“ Der Schmollmund verschwand, ihre Mundwinkel begannen zu zucken.
„Ich denke, du weißt, wie ich das meine. Sie hieß übrigens auch Lisa. Komischer Zufall, oder?“ Verlegen nahm ich nun doch einen Schluck von dem Kaffee, er war kalt und bitter, ich spürte Kaffeesatz auf meiner Zunge, hatte Mühe, die Masse herunterzuschlucken. Nicht einmal Wasser hatte die Kellnerin gebracht.
Die junge Frau lachte hell auf. „Das weiß doch jeder, dass man hier nicht einfach einen ‚Kaffee‘ bestellt. Bist du das erste Mal in Barcelona?“
„Nein, aber in diesem Café.“
Jetzt mussten wir beide lachen. Die Kellnerin lugte mürrisch hinter ihrem Tresen hervor.
„Ehrlich gesagt, ich auch.“ Die junge Frau nahm mit beiden Händen ihr Haar und zog es nach hinten, dann schüttelte sie es sich wieder in die Stirn. Lisa, dachte ich. Alles wie Lisa…

Sie nahm meine Hand, in einem ersten Impuls wollte ich sie zurückziehen, doch die Frau war schneller, fasste mit ihrer anderen Hand nach. Wieder regte sich da unten was. Meine Güte, dieses Mädchen ist so alt wie mein Sohn. Wenn nicht sogar jünger. Was machte ich mir gerade vor?
„Ich gehe normalerweise nie in solche Cafés, schon gar nicht in dieses hier.“ Sie strich sanft über meine Hand. „Und ich mache auch keine – sorry – älteren Männer an. Ganz mieser Punkt gerade. Auch wenn ich nicht so wirke: Ich bin verzweifelt. Meine Au-Pair-Familie hat mich rausgeschmissen. Angeblich, weil ich mich an den Vater rangemacht haben soll. Dabei ist er die ganze Zeit um mich herumgeschlichen. Da war nichts, verdammt! Ich und dieser schmierige, kleine, dicke Macho, so weit käme es noch. Egal, ich kam nicht dagegen an, das Vertrauen ist zerstört. Völlig klar – auch für mich. Also habe ich meine wenigen Sachen gepackt, hab ihnen den Schlüssel hingeknallt und bin einfach raus – und hinein in dieses Café. Sie wohnen gleich da drüben, keine hundert Meter von hier.“
Erst jetzt erblickte ich den großen Rucksack hinter ihrem vormaligen Platz. Die Frau wischte eine Träne weg, schluckte mehrmals und legte ihre Hand wieder auf meine.
„Dummerweise habe ich gar nicht mehr nach dem restlichen Geld gefragt. Sie sind es mir noch schuldig, aber ich geh da jetzt auch nicht mehr hin.“ Das wütende Gesicht, so schön, selbst jetzt. Wie bei Lisa…

Ich kam mir mit einem Mal schäbig vor. Was interessierte diese Frau, diese Lisa, meine erste Liebe, sie hatte ganz andere Sorgen, womöglich nicht einmal mehr genügend Geld und offenbar vertraute sie mir in ihrer Verzweiflung. Ich nahm mir vor, meine Gefühle zu unterdrücken, so schwer das auch gerade war.
„Brauchst du Geld?“, fragte ich. Lisa schüttelte den Kopf. „Wie kann ich dir sonst helfen?“
„Ich brauche keine Hilfe!“, sagte sie streng und dann zunehmend sanfter: „Jedenfalls nicht die Art von Hilfe. Etwas Halt vielleicht. Genau. Halt bei einem lieben Menschen. Freunde habe hier noch gar nicht gefunden.“ Sie drückte meine Hand. „Gleich als du reinkamst, wusste ich, dass ich dir vertrauen kann. Es ist seltsam, aber auch du kommst mir bekannt vor. Es ist, als würde ich dich schon lange kennen. Und trotzdem weiß ich immer noch nicht, wie du heißt.“ Sie lachte wieder ihr Lisa-Lachen.
„Michael. Ich heiße Michael.“
Sie stieß einen Laut der Entzückung aus. „Das gibt’s ja gar nicht! Mein erster Freund hieß auch Michael! Mein Micha. Und er sieht dir ähnlich. Oder du ihm. Na gut, er ist noch nicht grau, bisschen dünner wohl auch. Egal. Vielleicht bin ich deswegen gleich wie eine Gestörte auf dich los.“ Wieder dieses schöne Lachen – wie Heimkommen…
„Wir waren drei Jahre zusammen, schon mit 16. Dann haben wir uns auseinandergelebt, hatten einfach grundverschiedene Lebensentwürfe. In meinem Herzen ist er immer noch, ja, ich glaube sogar, ich habe nie aufgehört, ihn zu lieben.“ Lisa schüttelte gedankenverloren den Kopf. Eine Weile schwiegen wir.
„Meine Lisa hat mich verlassen.“ Ich musste mich räuspern. „Ebenfalls nach drei Jahren. Da war ich aber schon 21 und studierte bereits. Die Bundeswehrzeit, ihre Ausbildung achtzig Kilometer weit weg von der Heimat, kleine Affären – all das haben wir überstanden. Dann hat sie sich in einen zehn Jahre älteren Arzt verliebt. Was habe ich gelitten damals. Und jetzt, entschuldige bitte, sitzt mir eine Frau gegenüber, die meine Lisa sein könnte. Leider aber auch meine Lisa im Alter von damals. Das ist 25 Jahre her! Und gerade eben habe ich meine Frau verlassen… “

Lisa hielt meine Hand wieder fester, ihre Augen glänzten. Dieser Blick! Wie das blaue Meer, ich hielt es plötzlich für möglich, in ihm zu versinken. In den Augen einer viel jüngeren Frau, was war nur mit mir los? Abermals mischte sich Trauer in Lisas Blick, langsam, beinahe zärtlich, zog sie ihre Hände zurück, ließ meine schutzlos auf dem Tisch zurück.
„Einen schönen Augenblick lang habe ich gedacht ‚Scheiß auf das Alter‘. Du auch? Ich glaube, ich sehe es dir an. Wie gerne wäre ich mit dir ins nächstbeste Hotel. Ich kenne dich ja eigentlich gar nicht, aber ich weiß, mit dir wäre es wunderschön. Du bist wie mein Micha, das spüre ich. Und genau das ist das Problem. Ich würde es gut haben bei dir, das ahne ich, aber ich würde dich nie lieben können. Irgendwann, wahrscheinlich schon nach der ersten Nacht, würden wir uns in die Augen schauen und erkennen, dass die schönen Momente im Leben nicht wiederholbar sind. Es gibt sie nur einmal – so wie die Menschen selbst. Du bist nicht mein Micha. Und ich bin nicht deine Lisa. Aber vielleicht gibt es eine Chance, wie wir beide wieder glücklich werden.“ Mit diesen Worten stand sie auf, legte ein paar Münzen auf den Tisch und ging hinüber zu ihrem Rucksack. Offenbar hatte sie nicht viele Sachen darin, sie schulterte ihn mühelos. Eine selbstbewusste junge Frau wandte sich jetzt Richtung Ausgang. Die Türklinke schon in der Hand, blickte Lisa ein letztes Mal zu mir herüber. „Adios, Micha, ich wünsche dir noch ein schönes Leben. Mach’s wie ich: Nimm es wieder in die Hand!“

Die Tür knallte ins Schloss. Ich blieb noch eine Weile sitzen, öffnete nachdenklich das Notebook, um die Software herunterzufahren. Als ich den Rechner wieder einpacken wollte, stieß ich gegen die Tasse und fing sie so unglücklich auf, dass sich der Kaffeesatz auf die weiße Tischdecke ergoß. Erschrocken stellte ich die Tasse zurück, legte einen größeren Schein auf den Tisch und machte Anstalten zu gehen. Kaum hatte ich die Tür erreicht, war die kleine, stämmige Kellnerin schon an meinem Tisch, blickte erst auf die Tischdecke und dann zu mir. Ihr Mund zog sich in die Breite, ließ schiefe, gelbe Zähne erkennen. Lächelte sie etwa? Sie stieß einen Pfiff durch die Zahnlücke und reckte einen Daumen nach oben.
„La nostalgia trae nueva felicidad!“, krähte sie laut.
„Adios“, sagte ich verlegen und machte, dass ich fortkam.

©Martin Bensen