Das war’s. So geht also Sterben. Okay, der Schmerz war kacke, der Sog furchteinflößend, doch jetzt umhüllt mich warmes Licht. Wenn die Nahtod-Berichte stimmen, bin ich nurmehr Seele, dann muss das hier der Himmel sein. „Nicht ganz“, tönt es aus dem Licht. Ich erschrecke kurz. Na klar, hier können die bestimmt Gedanken lesen. Wenn nicht hier, wo dann? Also aufgepasst, nix Versautes denken!
„Ganz genau“, kommt es erneut aus dem Licht. „Aber das kriegen wir schon weg.“
Irritiert blicke ich mich um, kann niemanden erkennen, hier ist nur Licht. Es ist hell und von einer solchen Intensität, wie ich sie noch nie erlebt habe, als könnte ich es greifen, als würde es mich tragen.
„Wie meinen Sie das?“ Ich bin verwirrt. „Wo sind Sie? Wer sind Sie überhaupt? Sind Sie Gott?“
„Das denken alle, die hier ankommen. So, jetzt aber mal kurz Sendepause, wir haben hier noch mehr Ankömmlinge.“
Okay, dass ich in der Hölle bin, kann ich wohl ausschließen. Aber ehrlich gesagt, habe ich mir unter dem „Paradies“ von dem in der Bibel die Rede ist, mehr versprochen als nur helles, warmes Licht. Zugegeben: Es ist nicht von dieser Welt…
Alles nur ein Traum? Ich will mich kneifen, versuche, mich zu bewegen, aber ich kann es nicht. Außerdem kann ich in diesem strahlenden Nebel meine Arme und Beine nicht einmal ansatzweise sehen. Gibt es die überhaupt noch? Ich meine, sie zu spüren, habe aber das Gefühl in einem Vakuum zu schweben, völlig schwerlos. Ob es den Raumfahrern so geht wie mir gerade? Fühlt sich Astro-Alex eigentlich wohl im All? Jedenfalls strahlt er immer über beide Backen auf seiner Raumstation. Kein Wunder, er ist dann ja auch im Fernsehen. Und ich? Im Himmel? Passiert das gerade wirklich? WTF! Wo bin ich? Wach auf, Junge, du träumst! Ich versuche es. Doch nichts passiert. Aus Albträumen erwache ich immer schreiend, also versuche ich zu schreien. Es geht nicht! Wie habe ich denn gerade gesprochen? Habe ich nur gedacht? Geht hier alles per Gedankenübertragung? Wenn ich wenigstens etwas sehen könnte, mich sehen könnte. Ein Spiegel wäre gut. Ein Spiegel im Himmel? Wozu? Jede Seele hier muss doch einfach schön sein. Die hässlichen, bösen können ja nur in der Hölle sein. Oder im Fegefeuer…
„Sowas gibt es nicht.“ Wieder ertönt die Stimme hinter dem Vorhang aus Licht. „Das muss ich jedem zweiten Katholiken sagen. Ist leider eines der Märchen eurer Kirchengelehrten, zum Glück gerät der ganze Züchtigungsunsinn langsam in Vergessenheit. Ist gerade nicht leicht mit euch, aber wem sag ich das, du bist ja aus der Kirche ausgetreten.“
„Stimmt“, gebe ich zu. „Ist das jetzt ein Problem? Ich meine… hier?“
„Du hattest gute Gründe.“
„Das finde ich auch.“ Ich stutze. Okay, die wissen wirklich alles hier oben.
„‚Oben‘ stimmt auch nicht“, kommt es wieder aus dem dichten, strahlend weißen Dunst. „Vergiss mal die Bibel, euer Himmel ist ja nur von der Erde aus gesehen oben. Und selbst das stimmt nicht, wie du nicht erst seit Astro-Alex wissen solltest. Er ist im Orbit auch nicht näher zum Schöpfer als du auf der Erde, solange du noch einen Körper hattest. Anders als deine, waren seine Gedanken aber viel näher an dem, wofür die Schöpfung steht. Leider hört ihm niemand zu.“
„Also echt jetzt, so blöd bin ich auch nicht!“ Ich bin etwas verärgert, konnte Klugscheißerei noch nie leiden.
„Dafür hast du deine Mitmenschen aber mächtig mit deiner genervt, nicht wahr?“ Die Stimme klingt jetzt ironisch. Oder höre ich das nur so? Jedenfalls sind alle meine Sinne noch da. Bis auf das Schmerzempfinden vielleicht. Weh tut mir nichts. Zum Glück. Ich mache einen zweiten Versuch, wenigstens meine Gliedmaßen zu erkennen, nein, vorher versuche ich mich noch einmal zu kneifen.
„Immer noch kein Traum“, sagt das Licht. „Viele Ankömmlinge glauben übrigens, dass das irdische Leben der Traum und das hier die Wirklichkeit ist. Der Tod als Erwachen. Reizvoller Gedanke, kennt jeder. Jeder träumt, jeder erwacht daraus. Aber ist dann das, in das wir erwachen, kein Traum? Könnte doch sein. Der berühmte Traum im Traum, du hast ihn auch schon gehabt. Oder doch die Wirklichkeit? Was ist Traum, was Wirklichkeit? Wie viele Instanzen gibt es?“
Inception, denke ich, habe aber jetzt keinen Sinn dafür, versuche mich zu kneifen. Doch ich spüre nichts. Auch nichts zwischen den Fingern. Auch keine Finger. Ich kann mich nicht nur nicht bewegen, ich habe womöglich gar nichts mehr zum Bewegen. Irgendeine Masse muss ich doch noch sein. Wobei… eine Seele hat keine Masse, oder? Bin ich ein Geist? Aber ich bin doch hier! Okay, ich spüre nichts. Jedenfalls nichts Körperliches. Aber ich denke! Ich denke, also bin ich… Wer hat das nochmal gesagt?
„Descartes“, die Antwort kommt, noch während ich denke. „War ein interessantes Gespräch mit ihm, aber auch ihm konnte ich noch den einen oder anderen Erkenntnisgewinn verschaffen, wofür er mir unendlich dankbar war. Zumindest für die Dauer seines Bades… “
Höre ich da sowas wie Lachen? Na, das kann ja heiter werden, denke ich. Was hat es mit diesem ominösen Bad auf sich? Auf der Erde hätte ich jetzt vielleicht Schiss bekommen. Aber hier seltsamerweise nicht. Habe ich schon keine Gefühle mehr? Ne, oder? Habe ich mich vorhin nicht erschreckt, war ich nicht verärgert?
„Dumm bist du wahrlich nicht“, kommt es wieder aus dem Lichtstrahl. Tatsächlich sehe ich jetzt ein stärkeres Licht, ich spüre, wie mich etwas hineinzieht.
„So, mein Lieber, jetzt bist du dran!“ Anders als solche Worte gelesen wirken mögen, spricht die Stimme sie ganz sanft aus, liebevoll. Obwohl es nur Gedanken sind, ist es als ob ich sie hörte und als ob ich selber spreche. Und tatsächlich spüre ich etwas – ich fühle Liebe. Mein Verstand wehrt sich dagegen, aber es ist, als ob ich darin bade.
„Gut erkannt“, sagt die Stimme, sie ist jetzt näher bei mir. „Solch ein Bad sehnt sich der gestresste Mensch herbei, dafür geht er in Wellness-Tempel. Mancher Mann auch einfach in den Puff. Ihr sucht und meistens findet ihr auch ein kleines Paradies. Eines auf Zeit. Dich erinnert das hier gerade an ein türkisches Dampfbad, nicht wahr? Du warst nie entspannt darin, schon gar nicht auf deinen Geschäftsreisen. Was führt ihr dort auch eure Hahnenkämpfe anstatt einfach zu entspannen? Das Bad ist ein Ort des Friedens. Spürst du es jetzt? Spürst du die Liebe?“
Unwillkürlich denke ich an meinen Körper, hat die Stimme eben nicht weiblich geklungen? Mann, hätte ich jetzt einen Ständer.
„Das hier ist viel mehr als körperliche Erotik.“ Die Stimme geht nicht weiter auf meine sexuellen Gedanken ein. „Das hier ist ein absoluter Höhepunkt, Höhepunkt und Ziel deines Lebens – deiner Seele. Sie badet jetzt in vollkommener Liebe.“
„Heißt das, ich bade in der Liebe Gottes?“
„Wenn du es so sehen möchtest, ja. Genieße es, bei dir wird es länger dauern als im Durchschnitt. Manche sind fast enttäuscht, weil sie nur ganz kurz dieses Vergnügen bekommen. Dafür haben solche Seelen ihr Heil schon auf Erden gefunden. Oder kennst du nicht diese unglaubliche Befriedigung über eine wahrhaft gute Tat? Ja, so etwas gab es auch in deinem Leben. Dazu müssen wir nur ein bisschen zurückgehen… “
„Ich erinnere mich nicht“, gebe ich freimütig zu. Aber ich spüre auch, dass mein Leben immer schneller verblasst.
„Einmal hast du Größe gezeigt, der Schöpfer war erfreut, auch wenn du selber ziemlich verzweifelt warst. In Wirklichkeit hat dir diese Verzweiflung Mut und Stärke verliehen. Auch unter der Gefahr, deinen Job zu verlieren, hast du dich – an deinem arglistigen Chef vorbei – höheren Orts für einen Kollegen stark gemacht und dadurch bewirkt, dass dieser nicht fallen gelassen wurde. Im Gegenteil: Er bekam einen richtig guten Job. Das hat er dir nie vergessen, hat es dir einmal mit Freudentränen in den Augen gesagt und das hat dich umgehauen vor Glück. Bevor er sich rächen konnte, war dein Chef weg und ein neuer da, der deinen Kollegen und dich förderte, wo er nur konnte. Das ist dein Werk, eines deiner guten Werke. Du hattest die Wahl und du hast die richtige getroffen, weil sie direkt aus deinem Herzen – oder besser: deiner Seele – kam.“
Stimmt, irgendwas war da… Okay, ich erinnere mich an eine Umarmung, an ein Gefühl großer Freude. Ja, darauf darf ich wohl stolz sein. Wie lange noch? Alles wird immer schemenhafter…
„Ich sage es dir“, fährt die Stimme fort. „Bevor du gleich alles vergessen haben wirst, bevor auch meine Worte nicht mehr nötig sein werden: Die Rückschau in Liebe macht dich bereit für das Licht.“
„Aber… “ Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. „Heißt das, mein Leben, das ganze Leben… war umsonst?“ Okay, mein Leben war relativ kurz, gerade mal vierzig Jahre hatte ich, aber ich spüre Trauer. Auch dieses Gefühl wird gerade schwächer…
„Nichts ist umsonst.“ Die Stimme wirkt beruhigend. „Keine Tat ist umsonst, kein Gefühl und kein Gedanke, erst recht, wenn die Seele in euch schon auf Erden wirkt. Denn jede Seele ist ein Teil der Schöpfung. Ihr macht das im Grunde nicht schlecht auf der Erde. Kunst, Religion, Philosophie, ihr seid wissbegierig und schöpferisch begabt. Und ja: ihr seid frei. Nichts ist vorherbestimmt. Ihr habt einen freien Willen, auch wenn eure Religionen und Kirchen damit ihre Schwierigkeiten haben. Der Schöpfer liebt und gönnt euch eure Freiheit, sie entspricht seinem Willen.“
„Moment mal, wie soll das gehen: Freiheit als Wille Gottes? Wie frei ist dann der Wille des Menschen, der Mensch selbst, wenn am Ende doch alles von einer höheren Macht abhängt?“
Habe ich das gerade wirklich gesagt?
„Touché, mon ami! Du bist alles andere als dumm. Warum hast du deine Weisheit nicht auf Erden wirken lassen, statt nur deine gute Figur und deine flapsigen Sprüche?“
Ich versuche mich zu wehren, doch die Stimme fährt unbeirrt fort.
„Heerscharen von Theologen und Philosophen hat das Thema beschäftigt, erst recht nach eurem dunklen Zeitalter, das den Schöpfer beinahe ratlos gemacht hat. Nur so viel: Was hat ein Allmächtiger davon, alles zu bestimmen, zu lenken und vorauszudenken? Er würde sich doch nur langweilen, meinst du nicht? Der Antrieb göttlicher Schöpfung ist die Liebe, ihr Wesen das Leben. Einmal angestoßen, sollte ihr Werk sich – natürlich mit ein paar Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten – frei entfalten, ganz besonders der Mensch. Dass eure Freiheit regelmäßig in euer Verderben führt, nimmt er hin. Er greift nicht ein. Nun gut, sagen wir: nicht mehr. Natürlich schadet ein Wunder hier und da immer noch nicht. Aber von der Epik der alten Tage, in denen er noch an seiner Schöpfung optimierte, will er nichts mehr wissen. Selbst dann nicht, wenn in zwei Kriegen Millionen von Menschen den Tod finden und im Namen einer pervertierten Ratio massenhaft vernichtet werden. Angesichts der möglichen Allmacht mögt ihr das als zutiefst traurig, schockierend und ungerecht empfinden. Bedenkt aber bei euren Weh- und Anklagen: Es geht um das Ganze. Der geringste Eingriff des Schöpfers wäre nicht nur das Ende eurer Freiheit gewesen, sondern in letzter Konsequenz das Ende der Welt. Ein ethisches Dilemma. Aber gemildert durch die Hoffnung, die nach all den Toten aufkeimte: Vielleicht würdet ihr ja endlich die Kurve kriegen. Du weißt, dass es leider anders aussieht. Warum macht ihr nichts aus eurer Freiheit, ihr ‚Ebenbilder Gottes‘?“
Das ist in der Tat eine gute Frage, ich bin kleinlaut geworden. Langsam schwindet leider auch mein wacher Geist, die Liebe tut wohl ihr Werk.
„Leider, es ließ sich nicht mehr ändern, ist die aktuelle Schöpfung dualistisch angelegt. Aus dem Gegensatz entsteht die Kraft alles irdischen Seins, kein Licht ohne Schatten, das Gute nicht ohne das Böse, das Leben nicht ohne den Tod – “
„Aber…“ Ich muss meine Gedanken mühsam sortieren. „Wir wollen das doch gar nicht, ich will das nicht. Ich will nicht sterben, ich will leben, weiter sein. Hier bin ich doch! Oder wird es hier enden?“
„Hier? Nein, hier nicht. Aber auf der Erde. Sein ist das eine, Handeln das andere. Die Menschen haben nicht mehr viel Zeit, der Schöpfer ist seines Werkes überdrüssig. Wer weiß, vielleicht ist sein nächster Wurf ein ganz anderer. Mit völlig neuen Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die jede menschliche Vorstellungskraft übersteigen. Ihr erfasst ja nicht einmal ansatzweise das aktuelle Universum. Immer sucht ihr einen Anfang, spekuliert über ein Ende. Dabei sind nicht einmal Raum und Zeit zwingend. Die Möglichkeiten des Allmächtigen sind unbegrenzt, sein Wille und seine Kraft unendlich.“
Für einen Moment tritt Stille ein. Dann hebt die Stimme wieder an.
„Aber in dieser Welt hast du recht. Wie soll denn auch der Mensch den ewigen Gegensatz überwinden, wenn der Schöpfer ihn zum Prinzip gemacht hat?“
„Indem er stirbt“, vermute ich. „Aber ist das der Plan? Was macht das Leben dann noch aus?“
„Es gibt etwas, das keine Katastrophe, kein Krieg bisher besiegt hat: die Liebe! Die Propheten aller Religionen haben sie euch gepredigt. Die Liebe ist reine Kraft, viel stärker als der Hass, dessen zerstörerische Energie von Enttäuschung und Zurücksetzung lebt und der nicht von Dauer ist. Anders die Liebe. Sie kommt von hier, aus eurem Schöpfer, sie ist das Licht des Lebens. Die Liebe kann alles, ihr lasst sie nur nicht zu. Wenn ihr sie nicht eitel für einen vermeintlichen Gott okkupiert, euch bigott darin nur selbst gefallt oder bis auf Blut und Bomben dafür eifert, verbannt ihr sie als Weichheit, als Unvernunft oder meint damit einfach nur Sex. Nice to have – mehr bedeutet euch die Liebe zwischen den Menschen nicht.“
Mir schon, denke ich leise, die Stimme übergeht das.
„Dabei könnte die Liebe doch sein, was der Mensch so ersehnt: das Absolute. Eure Gelehrten haben dafür aber den Geist erkoren. Weil die Liebe ihnen nicht geheuer war, sie ihren sinnlichen Part als schwach empfanden, setzten sie auf reine Vernunft, auf einen vollkommenen Weltgeist und dergleichen. Das große Ganze, dem die Liebe, auch der Mensch selbst mit allen seinen Trieben und sogar seinem Verstand, untergeordnet sein sollen. Besonders zwei deiner Landsleute waren ganz betrunken von ihren großen Gedanken. Der eine, ein kleiner Preuße, hat in seinem beschaulichen Königsberg ein mächtiges Gedankengebäude erschaffen, hat die ‚goldene Regel‘ für einfache Gemüter zum ‚kategorischen Imperativ‘ für philosophische Feinschmecker erhoben, denen seine Theorie bis heute Nahrung gibt. Aber nur zum Selbstzweck. Unser Aufklärer war besonders lange im Bad, eine wahrhaft zähe Seele.“
Ich muss unwillkürlich lachen. Die Stimme ist in Fahrt gekommen.
„Der andere war ein ganz Schlauer. Ein Schwabe. Der Schöpfer mag diesen Menschenschlag ja… Knitz hat der Mann eine Methode entwickelt, die er sich beim Kuhhandel seiner Landsleute abgeschaut haben mag: die Dialektik. Nicht im Widerspruch verharren, sondern den Gegensatz ‚aufheben‘, das ist in der Mehrdeutigkeit dieses Wortes schon ein echter Schwabenstreich. Anders als der Preuße nervte er nicht mit begrifflicher Erbsenzählerei, sondern dachte groß: der Weltgeist als höchste Form der Synthese, der Geist an und für sich, der absolute Geist, die Philosophie selbst. Nun ja, diese Seele habe ich tatsächlich nur kurz gebadet, denn sie kam schon sehr sauber hier an, da war nur etwas staatstragender Nimbus wegzuwaschen.“
Das wird ja immer besser. Ich merke, wie ich den Worten gebannt lausche, mich dabei aber zusehens selbst vergesse.
„Erwähnt sei noch ein Dritter, der Mann, der zusammen mit einem Gleichgesinnten den untertänigen deutschen Landen doch noch die Ehre großer Revolutionen zuteil werden ließ. Er drehte die kluge, aber nicht gelebte Dialektik des Schwaben einfach um, ‚vom Kopf auf die Füße‘, so die Sentenz des ‚Materialisten‘ mit Blick auf den ‚Idealisten‘, sprach statt von ‚Weltgeist‘ ironisch von ‚Weltmarkt‘, analysierte diesen gleichwohl ganz gut. Was er mit seiner Theorie mit auslöste, wollten seine Anhänger nie wahrhaben: Der Feind des absoluten Herrschers machte die modernen wie mordenden Diktatoren erst möglich. Nicht direkt natürlich, doch ist es nicht erstaunlich, wie zwingend die Revolution immer wieder ihre Kinder frisst? Aber es geht um etwas anderes: Die Dialektik verkam zu bloßer Rhetorik, nichts war es mehr mit der Überwindung des Gegensatzes. Die Menschheit ließ den lieben Gott einen guten Mann sein, wie ihr sagt, spielte weiter Pingpong und drehte sich doch nur im Kreis.“
Mir dreht sich auch alles, oder dreht etwas mich? Die Stimme wird noch sanfter.
„Höre einfach zu, solange du die Worte noch verstehst: Ihr kreist um euch selbst, seid euch selbst das goldene Kalb. So gottverloren seid ihr. Nirgendwo ein Ausweg, eine Lösung oder auch nur eine Optimierung, wie es heute so schön heißt. So schön ihr auch denkt, kommen doch nur nichtssagende Worte heraus, am Ende strafen Taten sie Lügen. Eure Gedanken wirken nur reifer, sie sind aber nichts als eitel. Euer Fortschritt macht euch stolz, aber wisst ihr auch, wohin ihr fortschreitet? Wohl in den Abgrund, oder? Macht ihr nicht gerade alles kaputt, was die Schöpfung ausmacht? Und gibt es heute, trotz und wegen eures Fortschritts, nicht mehr Kriege, mehr Unvernunft denn je? Was soll die ganze Wissenschaft, eure ausgefeilte Ethik, wenn ihr sie nicht beachtet, wenn ihr auf eure Weisen nicht hört oder wenigstens auf eure Seele? So unbedarft kommt ihr hierher, erkennt euch endlich selbst, habt die eine oder andere Reue und seht oft zum ersten Mal, was Liebe ist. Schließlich geht ihr ins Licht. Spätestens da ist alles einerlei, ist all euer Gewese nichts mehr wert. Warum? Weil alles schon immer da war. Ihr gebt dem Schöpfer nur zurück, was von ihm schon immer war. Nichts davon habt ihr je durch euren freien Willen veredelt. Warum wollt ihr eigentlich wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, wenn ihr selbst schon nicht zusammenhalten könnt? Du wirst alles wieder wissen, wenn du ins Licht gehst. Wirst eins mit deinem Schöpfer – und Teil einer neuen Schöpfung. Alles wird neu beginnen. Hier und jetzt sind wir am Ende, merkst du, wie sich Raum und Zeit auflösen?“
Mit den letzten Worten löst sich auch das Bad auf. Und alles, was ich einst war, verschmilzt mit reinem Licht.
Aber warum spüre ich noch was? Warum tut es nur so weh? Was sticht da in meinen Augen?
„Wir haben ihn wieder, Gott sei Dank! Können Sie mich hören?“
Ich versuche zu nicken, was offenbar gelingt, denn das grelle Licht geht endlich aus, schemenhaft sehe ich grüne Gestalten, höre Gepiepse. Okay, ich weiß, wo ich bin. Alles nur ein Traum. Aber was für ein unglaublich seltsamer! Was ist mit mir passiert? Was habe ich da gehört? Kann man sich so etwas ausdenken? Ich zweifle nicht mehr, dass es da etwas gibt, etwas Unfassbares, Unsagbares. Wenn es so ist, werde ich über all das Unbegreifliche am besten schweigen. Kein Sterbenswort wird über meine Lippen kommen.
Okay, vielleicht doch. Käme auf einen Versuch an…