Das Bildnis der Donna

Novelle

© 2018 Martin Bensen

Prolog

Niemals hätte ich auf ihr Angebot eingehen dürfen. Sie war keine Touristin wie die vielen anderen Kunden, sondern eine waschechte Römerin. Eine wahrhaftige Schönheit unter dem Himmel, ihre Kleidung so erlesen und elegant, dass sie es mit Sicherheit nicht nötig hatte, zu den Straßenkünstlern auf die Piazza Navona zu kommen, um sich malen zu lassen. Hätte ich damals auch nur geahnt, wie verhängnisvoll diese Begegnung sein würde, ich hätte ihre Bitte ohne Zögern ausgeschlagen. Aber wie konnte ich? Ich war noch ein junger Mann, Kunststudent im zweiten Auslandssemester, und nicht nur augenblicklich geblendet von ihrer Schönheit, sondern zugleich geschmeichelt von ihrem großzügigen Angebot, voller Stolz, dass sie ausgerechnet mich ausgesucht hatte.

Niemals wäre ich auf die Idee gekommen, dass mir beim Malen derartiges widerfahren könnte. Unbefangen wie ich war hatte ich schon nicht verstanden, warum manche Menschen einen so großen Bogen um meine Staffelei machten, nicht selten mit angstvollem Blick. Anfangs wusste ich nicht, was der Grund dafür war, denn weder warb ich offensiv, noch hatte ich, so selbstbewusst war ich, ein unansehnliches Äußeres. Ich konnte mir also keinen Reim darauf machen – bis mich mein afrikanischer Künstlernachbar Farouk aufklärte: In seinem Land, gebe es bis heute nicht wenige, die glaubten, mit einem Porträt ihres Gesichts, egal ob fotografiert oder gemalt, ihre Seele zu verlieren.

Nichts anderes aber passierte mir.

Kapitel 1

Sie erregte Aufsehen. Überall. Wo die elegante Dame auch stehen blieb, erstarrten Bewegungen, erstarben Gespräche, stierten Menschen gebannt auf die Frau, die davon unbeeindruckt von Stand zu Stand des Künstlermarktes schritt, offen-sichtlich auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem. Dabei war sie gar nicht auffällig gekleidet, eigentlich ziemlich dezent. Die augenscheinlich höchstens fünfundzwanzigjährige Frau mit den schwarzen hochgebundenen Haaren trug ein hautfarbenes, knapp knielanges Sommerkleid aus Seide. Keine Frage, der Stoff wirkte teuer, schmiegte sich beinahe zärtlich um ihren wohlgeformten, hochgewachsenen Körper und es schien, als ob jede ihrer grazilen Bewegungen von einem leisen Rascheln begleitet würde, wie es der Sommerwind in den Platanen verursacht, wenn er zärtlich ihre Blätter streichelt.

Alles an dieser Frau zog die Blicke magisch an, nicht nur die der Männer. Doch etwas an ihr irritierte zugleich. Nicht ihre kleine rote Handtasche aus weichem Leder, auch nicht ihre passenden knallroten Pumps – es war ihre Kopfbedeckung, die gleichsam wie eine Krone auf ihrem hochgesteckten, seidig glänzenden Haar thronte. Anders als eine Krone war sie allerdings aus einfachem Filz, eine Art Baskenmütze, die weder zu diesem heißen Junitag noch zu ihrem eigentlichen Kleidungsstil passte. Dabei entsprach deren Farbe exakt dem Ton ihrer Handtasche und ihrer Schuhe, zugleich wirkte dieses Rot ungleich lebendiger, schmerzte regelrecht in den Augen und schien eine eigenartige, fast physisch spürbare Wärme zu verströmen.

Einigen Befragten will es später so vorgekommen sein, als hätte um ihre Frisur ein blutroter Feuerkranz gelodert, fast wie ein Heiligenschein, aber irgendwie diabolisch. Andere machten sich über das Gerede lustig, der prallen Sonne wären solche Märchen geschuldet, besagte Klatschmäuler hätten wohl einen ordentlichen Stich davongetragen. Wieder andere schwärmten mit entrückten Blicken von der unbekannten Schönen. Denn egal wie: Wer immer in ihr Gesicht sah – und das taten sie am Ende alle – war sogleich besänftigt und fasziniert von ihren wohlgeformten roten Lippen, ihrer feinlinigen geraden Nase, deren Spitze ganz leicht nach oben wies, vor allem aber von ihren mandelförmigen dunkelbraunen Augen, die so sanft und freundlich in die Welt blickten, dass man dieser Frau keinen Wunsch abschlagen konnte. Und kein Zweifel, so bewegte sich nur eine Römerin. Mit wohlgesetzten kleinen Schritten, langsam und würdevoll, erhobenen Hauptes, aber alles andere als stock-steif, die wiegenden Hüften beinahe tanzend, als folgten sie einer Melodie, die von irgendwo außerhalb der ewigen Stadt mit ihrem nie verstummendem Lärm kommen musste.

So erschien sie mir, an meinem bescheidenen Stand nahe des Neptunbrunnens, etwas abseits der strategisch besseren Lagen bei den Sitzplätzen der Lokale, unter deren Gästen mit fortschreitendem Weinkonsum nicht selten der Entschluss heranreifte, sich einem lange beobachteten und schließlich für gut befundenen Porträtmaler anzuvertrauen. Gerade weil ich mir keine Illusionen über meinen Rang auf der Piazza machte, traf mich beinahe der Schlag, als diese außer-gewöhnliche Frau an meine Staffelei kam und mich ansprach. Sie hatte erst gar nicht meine Arbeitsproben betrachtet, im Gegenteil: Sie war geradewegs auf mich zugekommen und direkt vor mir stehen geblieben. Wie elektrisiert sprang ich von meinem Hocker auf, ließ die angefangene Kohlezeichnung, eine meiner unzähligen Fingerübungen zum Zeitvertreib, einfach fallen und versank augenblicklich in ihren wunderschönen Augen. Ich weiß nicht, wie lange ich so dagestanden habe. Als ihre Stimme meine Sinne erreichten, kam die Welt zurück, etwas stiller als vorher, denn um mich herum starrten alle wie ich auf die Frau. Nur langsam kehrten sie zur gewohnten Geschäftigkeit zurück, behielten Ma-ler wie Kunden unseren Stand aber aufmerksam im Blick.

Ob sie sich setzte dürfe, hatte die Stimme gefragt, wie von Ferne war sie erklungen und sie hallte weiter wie ein Echo in mir nach, nein, nicht irgendwo in mir, sondern an meinem empfindsamsten Punkt – in meinem Herzen. Die Frau hatte bereits Platz genommen, so setzte auch ich mich auf meinen Hocker und musste furchtbar dumm ausgesehen haben, denn sie lächelte mich jetzt etwas spöttisch an. Ihre Augen blitzten dabei, ihr Mund öffnete sich etwas und ich verspürte einen leichten Sog. Mir war plötzlich heiß, Schweiß tropfte in meinen Nacken und zugleich erfasste mich ein Zittern wie von Kälte. Das Atmen fiel mir schwer, meine Zunge lag wie ein toter Fisch in meinem ausgetrockneten Mund. Was passierte hier mit mir, was war mit dieser Frau? Ohne Zweifel hatte sie mich jetzt schon in ihren Bann gezogen. Heute weiß ich, dass es von der allerersten Sekunde an kein Entrinnen mehr für mich gab. Sie hatte mich von Anfang an in ihrer Hand.

Kapitel 2

An dieser Stelle muss ich eine mögliche, ja naheliegende Irritation aufklären, die ich gleichwohl erst im Verlauf meiner Geschichte wirklich begreiflich machen kann. Warum kann ich, der erst vor wenigen Sätzen vorgab, seine Seele verloren zu haben, noch darüber erzählen, überhaupt etwas erzählen? Eine Lügengeschichte, also? Manchmal weiß ich es selber nicht. Doch dann erscheinen die Bilder wieder so klar vor meinen Augen, stechen so tief in mein Herz, dass ich zutiefst davon überzeugt bin: Es hat sich alles genau so zugetragen.

Diejenigen, die mich kannten, haben meine Fantasie geschätzt, unter den Kindern meiner Nachbarschaft war ich derjenige, der ohne Spielzeug ganze Nachmittage mich und alle anderen beschäftigen konnte, so sehr, dass wir abends todmüde ins Bett fielen und noch am nächsten Morgen in der Schule davon erzählten. Wir brauchten keine Geschichten aus Büchern oder gar aus dem Fernsehen. Obwohl ich mit der Zeit die meisten meiner Freunde dann doch an TV-Serien verlor, meist US-Produktionen, die mich nicht im geringsten interessierten. In dieser Zeit, Mitte der 1970er Jahre, an der Schwelle zur Pubertät fing ich an zu malen. Dabei studierte ich meine Umgebung, machte Spaziergänge in die Gegend rund um den Starnberger See, verlor mich in immer neue Details an den zahlreichen kleineren Seen, eroberte Landschaften mit meinem Fahrrad, das ich mit 12 bekommen hatte, von Seeshaupt aus, meinem Heimatort. Meine Eltern ließen mich machen, sie hatten ihre eigenen Sorgen als Sozialarbeiter in München, lebten für die Wochenenden im eigenen Haus mit Garten auf einem schönen Flecken Erde. Wir verreisten so gut wie nie, denn „hier haben wir alles, was wir brauchen“, sagten meine Eltern, sobald das Thema aufkam. Sie hatten ja recht.

Waren meine Bilder zuerst detailgetreue Abbildungen dessen, was ich sah, und brachten sie mir auch das ehrliche Lob von Verwandten und Bekannten ein, die mir manchmal auch ihre „Bilder“ zeigten, Fotografien eben jener Landschaften, die ich malte, so wurde ich mit der Zeit immer mutiger, schon aus Zorn darüber, dass meine Bilder mit schnöden Freizeitfotos verglichen wurden, aber mehr noch aus einer überraschenden Entdeckung heraus: Ich konnte Gefühle malen! Meine Hand mischte Farben, führte Pinsel und Spachtel im Spiegel meiner Stimmungen, übersetzte Schwingungen und Impulse direkt aus meiner Seele. So sezierte ich die Landschaft vor mir bis in die feinsten Strukturen, sog sie tief in mir auf und spuckte sie in gewaltigen, ebenso stimulierenden wie kraftraubenden Wellen auf die Leinwand. Wie ein paar Jahre zuvor nach den ausgedehnten Fantasiespielen meiner Kindheit erschlaffte ich unversehens, wenn das Bild fertig war. Dass es so war, spürte ich, in solchen Momenten war nichts mehr in mir, war ich leer und doch zutiefst befriedigt und im Herzen voller Glück. Dann würdigte ich die Leinwand keines Blickes mehr, wusch nur mit müden Bewegungen Pinsel und andere Werkzeuge aus, verhüllte das Bild vorsichtig mit blickdichter Gaze und spannte dieses mit der Staffelei in meine selbstgebaute Rucksackhalterung, die restlichen Utensilien passten in die Fahrradtasche.

Die Malerei wurde meine Leidenschaft, wenig anderes passte da noch in meine Freizeit und doch entwickelte ich mich mit den Jahren zu einem ganz normalen jungen Mann. Mit wenigen, aber guten Freunden, einigen größeren und kleineren Liebesbeziehungen. Ausgewählten Seelen zeigte ich meine Bilder, beobachtete genau ihre Reaktionen, oft mit heftig klopfendem Herzen, denn wenn ich meine Arbeiten einem mir nahestehenden Menschen zeigte, war ich plötzlich nackt, fühlte mich schutzlos und verletzbar. Glücklicherweise gab es keine Situation, in der ich ernsthaft verletzt wurde, im Gegenteil, manche Frau verliebte sich umso tiefer in mich. Mancher gute Freund wurde mein Verbündeter, mein Seelenbruder, und ich sah milde darüber hinweg, wenn mich der eine oder andere Weggefährte für ein Wandgemälde in der Schule oder als Grafiker für Veranstaltungsplakate gewinnen wollte. Von denen, die ehrlich berührt waren von meiner Kunst, aber sich eben nicht im selben Maße öffnen oder artikulieren konnten wie ich, nahm ich das einfach als (unbeholfenes) Kompliment.

Der Rest ist schnell erzählt, mich zog es zuerst zum Kunststudium in die nahe Hauptstadt, die Museen mit zahlreichen Meisterwerken hatten mir schon als Jugendlichen eine geradezu traumhafte Welt eröffnet. So oft ich konnte, fuhr ich nach München, tummelte mich in den heiligen Hallen, ließ ich mich stundenlang in weltberühmte Werke ziehen und noch heute entdecke ich Überraschendes selbst in den bekannten Gemälden, erhalte so Anregungen für mein eigenes Schaffen. So oft es mir der eine oder andere Verkauf von Bildern ermöglichte, bereiste ich die Metropolen Europas, besuchte die Museen in Oslo, London, Paris und einigen anderen Städten. Ein Land aber hatte es mir besonders angetan und neben Florenz besonders die eine Stadt, der Ort jahrelanger Sehnsucht: Rom. Ich schaffte es zwar nicht, ein Stipendium zu bekommen, dafür hatte ich etwas Geld auf der hohen Kante. Und ich hatte Glück: Ein Künstlerfreund musste aus familiären Gründen zurück nach Deutschland, sein Platz auf der Piazza Navona wurde frei. So wurde ich Porträtmaler mitten in Rom und bekam an jenem sonnigen Tag im Juni den Auftrag meines Lebens.

Kapitel 3

Mein Freund Farouk zischte laut, ich erwachte wie aus einer Trance: Vor mir saß die wohl schönste Frau, die ich je zuvor gesehen hatte. Sie lächelte immer noch unergründlich, vielleicht auch etwas spöttisch, aber das störte mich nicht, denn ich war voller Bewunderung für sie.

„Entschuldigen Sie, ich…“ Mühsam rang ich nach Worten, um mich dann beinahe lächerlich zu machen.

„Möchten Sie eines meiner Bilder kaufen oder darf ich Sie porträtieren? Verzeihen Sie, wenn ich etwas forsch bin, aber für Sie kommt nur ein sinnliches, scusi, ein Ölgemälde in Frage, bitte sehen Sie mir meine Direktheit nach, das ist eigentlich gar nicht meine Art.“

„Ich weiß“, antwortete die Dame unvermittelt und lächelte nachsichtig.

„Und Sie müssen sich nicht dauernd entschuldigen. Mir ist durchaus bewusst, wie ich auf die Menschen wirke.“

Sie ließ ihren Worten Raum, sah mir direkt ins Gesicht, ihre Augen, so weich und doch ein wenig gefährlich – wie die schwarz spiegelnden Seen eines Moors, schoss es mir in den Sinn. Vor einigen Jahren hatte ich eine solche Landschaft gemalt, das Bild fand, kaum dass es bei einem väterlichen Gönner ausgestellt war, sofort einen Abnehmer. Sie schien meine Gedanken zu erraten.

„Ich möchte, dass Sie mich malen. Aber nicht hier, sondern bei mir zuhause. Ich werde Ihnen auch gerne Leinwand und Staffelei und was immer Sie benötigen bereitstellen lassen. Kein Zwang, bringen Sie mit, was Sie brauchen. Ich habe nur einen Wunsch: Malen Sie mich wie Sie mich sehen, lassen Sie alle Hemmungen fallen, denken sie nicht, fühlen Sie! So wie damals in den Landschaften Ihrer Jugend…“

Ich zuckte zusammen, woher wusste sie davon? Sollte ich sie etwa doch kennen? Eine Bekanntschaft von früher, womöglich eine Affäre? Ich musterte sie noch einmal genau. Sie ließ mich gewähren, dann schüttelte sie den Kopf.

„Nein, Sie kennen mich nicht. Aber ich Sie. Dass ich Sie hier gefunden habe, ist ein großes Glück – und doch kein Zufall. So wie vieles im Leben Glück sein kann, aber nie Zufall ist, mag es auch hin und wieder so scheinen. Ich werde es Ihnen erklären. Aber nicht jetzt, nicht hier. Würden Sie meiner Bitte entsprechen?“

Von nebenan zischte es erneut, ich blickte zur Seite: Farouk bedeutete mir mit einer drohenden Geste, auch nicht eine Sekunde zu zögern. Die Dame reichte mir ihre Hand. Ich nahm sie. Sie fühlte sich überraschend kühl an – und kräftig.

„Also gilt es, bene! Ich heiße übrigens Daniela, nennen Sie mich Dany, wenn wir schon so international zusammen kommen. So haben mich meine Freunde immer genannt… Verzeihung, so nennen sie mich natürlich noch immer.“

Während sie sprach, vernahm ich ein flüchtiges Flackern in ihren tiefbraunen, fast schwarzen Augen, sie gab mir ihre Visitenkarte.

„Ich erwarte dich morgen nach der Siesta, pünktlich um 16.30 Uhr unter dieser Adresse. Sei bitte pünktlich.“

Kaum waren ihre Worte verklungen, hatte sie sich schon erhoben. Ohne weitere Umstände verließ sie meinen Stand, hinterließ einen völlig verwirrten jungen Maler, der nachdenklich auf die Visitenkarte starrte. Farouk boxte mich in die Seite, schien völlig aus dem Häuschen.

„Hey Mann, das ist der Auftrag deines Lebens! Freust du dich denn gar nicht?“ Ich sah ihn nur an, wusste nicht recht, was ich ihm antworten sollte. Farouk blickte auf die Visitenkarte, die ich immer noch umklammert hielt.

„Feine Adresse, ein Palazzo mitten in Rom. Du bist ein Glückspilz, Mann!“

An den anderen Ständen in meiner Nähe schien man das ähnlich zu sehen, wenn ich das verein-zelte Knurren und Nicken richtig deutete.

Als alle sich wieder ihren Geschäften zuwendeten, erfasste mich eine nervöse Unruhe. Ich beschloss, meine Utensilien zusammenzupacken, heute würde ich sowieso nichts mehr zustande bringen und ob ich am nächsten Tag zuvor noch auf die Piazza gehen würde, wusste ich auch nicht. Ich verschloss den Stand, verabschiedete mich von Farouk mit unserer typischen Handakrobatik und zog mit meiner großen Umhängetasche davon. Sie wirkte schwerer als sonst. Die Bürde des neuen Auftrags? Mit einem Mal schien er mir eine schlechte Idee zu sein, doch ich konnte nicht mehr zurück. Schon jetzt wusste ich, dass ich in der Nacht kein Auge zutun würde.

Kapitel 4

Gegen fünf Uhr stand ich endgültig auf. Der Morgen graute schon, ein leichter Wind bauschte das Handtuch vor dem offenen kleinen Fenster nach innen. Wie befürchtet hatte ich im Grunde nur wachgelegen, trotz ausgiebigen Weingenusses und einer Schlaftablette. In den wenigen leichten Schlummerphasen träumte ich wirr, einmal hörte ich einen Schuss und schreckte mit heftigem Herzklopfen hoch.  Ich wohnte noch nicht lange in diesem wabenartigen Backofen-Zimmer, gerade einmal acht Quadratmeter groß und ausgestattet mit dem Nötigsten, das Bad auf dem Flur musste ich mir mit vier anderen Bewohnern teilen. Wohnen konnte man das auch nicht nennen – hier war ich eigentlich nur zum Schlafen. Zu weit weg vom Zentrum Roms lag der gerade erst fertiggestellte, aber schon berühmt-berüchtigte Wohnkomplex Corviale, immerhin musste ich nicht viel Miete zahlen und so trieb ich mich lieber in der Stadt herum als in der betonierten Ödnis hier draußen – oder ich fuhr an freien Tagen gleich Richtung Meer, was von der Entfernung her keinen großen Unterschied machte.

Nein, ich liebte mein Leben in Rom. Ich war frei, brauchte nicht viel und jeden Tag lernte ich interessante Menschen kennen, konnte ich mich gar nicht satt sehen an den schönen, selbst-bewussten, stolzen Mädchen in ihren Sommerkleidern. Überhaupt war hier viel mehr Sommer als zuhause. Auch dieser feine Zug Roms trug zur Leichtigkeit meines damaligen Lebens bei. Bis zu dem Tag, als ich diese über die Maßen außer-gewöhnliche Frau kennenlernte – und ihren Auftrag annahm, sie zu malen.

Jetzt musste ich mich fast beeilen, ich wollte noch etwas vom Tag haben, vielleicht tatsächlich noch einen Abstecher ans Meer machen, bevor ich den schweren Gang antrat. Andererseits würde ich mit solchen Gedanken den Strand von Ostia wohl nicht genießen können, würde mich also doch in der Stadt herumtreiben, die Zeit mit unnützen Dingen totschlagen, vielleicht ja mal wieder eine Vorlesung besuchen, um mich irgendwie abzulenken und die Zeit totzuschlagen. Warum nur war ich in einer so seltsamen Stimmung, es fühlte sich an wie Abschied.

Als ich unter der zweckmäßig engen Dusche stand, fiel es mir wieder ein: In der Nacht war mir eine Frau erschienen. Nicht wie ein Geist, eher wie ein Bild – ein Bild, das mir bekannt vorkam, genauer gesagt ein Ölgemälde, expressionistisch – es würde mir sicher gleich einfallen… Aber im Grunde wollte ich nicht weiter darüber nachdenken, denn die Frau hatte mir Angst gemacht. Sie erschien mir nackt, ein blasser, makelloser Körper, der sich nach hinten räkelt, zart und gefährlich zugleich, der rechte Arm erhoben, angewinkelt, darauf ihr Kopf leicht seitlich in den Nacken geworfen, das Gesicht verführerisch und doch auf geheimnisvolle Art  leidend, rote, volle Lippen, die Augen geschlossen, große, schattige Lider, jederzeit bereit, sich zu öffnen für einen Blick, der traurig, leidvoll, vielleicht aber auch lasziv und gefährlich sein würde, ein verführerischer Sog in die ewige Nacht, einem Trauerschleier gleich fiel ihr langes, pechschwarzes Haar nach hinten, zu den Spitzen hin gelockt wie lebendige Tentakeln, schließlich der rote Stoff auf ihrem Kopfhaar: ein nachlässig getragenes, gerafftes Kopftuch, wie ein Heiligenschein, nein, eine flammende Dornenkrone, ein blutrotes Band, Jesus am Kreuz – ein Schuss –

Das Wasser wurde plötzlich eiskalt, schnell drehte ich die beiden Hähne zu. Ich musste den Boiler komplett geleert haben, meine Mitbewohner würden fluchen. Zum Glück war ich noch ganz allein unterwegs an diesem Morgen. Unwillkürlich hatte sich mein Glied versteift, was machte diese Frau nur mit mir? Routine, Junge, beeil dich, rasier dich und dann schau, was du anziehst. Für eine halbe Stunde schaffte ich es, die Gedanken an die Frau, an meinen Termin, komplett zu verdrängen. Ich ließ den Radiowecker leise laufen, mich mit der einzigartigen Sprache berieseln, die so gut zu diesem gesegneten Land, zu dieser sonnigen Stadt passte. Von Ferne hörte ich den Flughafen, die donnernden Turbinen – oder war das schon wieder ein Gewitter? Sicherheitshalber würde ich noch meinen kleinen Schirm einpacken, den mir ein fliegender Händler während eines Platzregens geschenkt hatte. Ich legte die besten Sachen heraus von dem wenigen, das ich hatte: Eine helle Stoffhose, ein lässlich weißes Leinenhemd, an Schuhen hatte ich sowieso nur zwei Paar Slipper, schwarz und braun. Ich entschied mich für die schwarzen, vielleicht schaffte ich es ja auch noch zu einem Schuhputzer…

Etwas hatte mich geweckt. Eine Stimme. Ich sah auf die Zeiger meines Weckers. Halb vier. Von irgendwoher schrie eine Frau. Das war ich schon gewohnt, unter meinen Nachbarn gab es etliche, meist illegal eingeschleuste Prostituierte, immer wieder hatten sie hässlichen Besuch – den hässlichsten und brutalsten von ihren Zuhältern, wenn man nach den nächtlichen Schreien ging. Aber halt, es war ja gar nicht Nacht, draußen schien eine grelle Sonne! Fluchend stieg ich in meine bereitgelegten Sachen, richtete mich hastig vor dem kleinen Spiegel an der Schranktür, griff nach meiner Tasche und zog los. Als die Tür ins Schloss fiel, merkte ich, dass mein Schlüsselbund nicht in der Hosentasche war, auch der Geldbeutel fehlte. Zu spät, ich würde schwarzfahren müssen. Mein leerer Magen meldete sich, ich hatte am Abend gar nichts mehr gegessen, nur getrunken. Doch Durst hatte ich jetzt auch. Es half nichts, ich musste mich beeilen. Und trotzdem würde ich wohl zu spät kommen.

Schwitzend schaffte ich es gerade noch in den bereits anfahrenden Bus. Warum nur hatte ich das Gefühl, dass es um mein Leben ging?

 

Kapitel 5

 Munch! Edvard Munch! Madonna! Das Bild in meinem Traum. Ich musste laut gedacht haben, sämtliche Fahrgäste sahen mich erschrocken an, selbst der Busfahrer fixierte mich im Rückspiegel. Dabei deklamierten Italiener doch alle naselang „Madonna“. Allerdings musste etwas an mir und meinem Verhalten sein, das die Menschen beunruhigte, ich blickte in lauter besorgte, ängstliche Gesichter. Ein bulliger Mann stellte sich zu mir, sah mich durchdringend an und deutete auf meine schwere, ausgebeulte Tasche. Jetzt begriff ich.

„No, no, si tratta di un malinteso!“

Ein Missverständnis! Ich gestikulierte, dann riss ich an den Riemen der Tasche, doch der Bullige packte im selben Moment meinen Arm. Der Busfahrer hatte die Szene verfolgt und brachte das Fahrzeug mit quietschenden Bremsen zum Stehen. Die hinteren Türen öffneten sich, draußen standen schon zwei Polizisten, der Bullige schob mich hinaus, die beiden Uniformierten packten mich und warfen mich bäuchlings auf den Boden. Mit dem Knie in meinem Kreuz band mir einer der Männer die Hände auf dem Rücken zusammen.

„Attenzione!“, kam es von dem anderen Polizisten, doch der Bullige öffnete seelenruhig meine Tasche. Als er den Inhalt erblickte, schnaubte er, ließ die Riemen verächtlich los.

„Ach ne, wieder einer dieser Zecken! Künstlerpack…“

„Können Sie sich ausweisen?“, fragte der eine Polizist. Ich verneinte, nannte meinen Namen und meine Adresse, die Wohnung, in der mein Geldbeutel mit den Papieren jetzt unerreichbar lag. Als ich aber sagte, dass ich Deutscher sei und in Rom studierte, nahm der andere Polizist ein Messer vom Koppel und durchschnitt die Fessel, ein schäbiges Stück Wäscheleine aus orange-farbenem Plastik. Wortlos gingen die Männer zu ihrem Auto, der Bullige spuckte aus, stieg hinten ein und fuhr mit den Polizisten davon. Noch etwas benommen rappelte ich mich auf. Der Bus war natürlich längst weitergefahren. Bis der nächste kam, vergingen wieder kostbare Minuten. Na toll, dachte ich. Zur nächsten Haltestelle war es noch ein ziemliches Stück – und das mit der schweren Tasche… Wie spät mochte es sein?

Gerade als ich einen Passanten fragen wollte, hielt eine dunkle Limousine neben mir, ein Volvo mit abgedunkelten Scheiben. Der Motor brummte weiter, als sich die Fahrertür öffnete. Ein als Chauffeur gekleideter älterer Mann mit hoch-stehendem vollem Haar und einem altmodischen Musketier-Bart stieg aus, öffnete den Kofferraum und griff nach meiner Tasche, die immer noch am Gehwegrand lag. Nachdem er sie mit leichter Hand verstaut hatte, öffnete er wortlos und ohne mich anzusehen die hintere Tür. Fragend deutete ich auf das Auto und dann auf mich, war ich wirklich gemeint?

„Si, si, Signore, die Donna erwartet sie pünktlich. Steigen Sie bitte ein, wir haben keine Zeit.“

Mit weichen Knien folgte ich seiner Aufforderung und setzte mich auf den kühlen Ledersitz. Als sich die Tür schloss, saß ich beinahe im Dunkeln. Wieder diese merkwürdige Angst, Kontrollverlust. Wie konnte die Donna denn wissen…? Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Umgebung und jetzt sah ich auch, warum es im Inneren des Wagens so dunkel war. Nach vorne hin verbarg eine blickdichte Glasscheibe Fahrer und Ziel vor meinen Augen.

Mühelos glitt der Volvo über die schlechten Straßen dieser Gegend. Der Fahrer schien sich bestens auszukennen, keine Ampel und kein Stau hielt den Wagen auf, schließlich aber stoppte er. Ich hörte, wie sich ein schweres Metalltor öffnete, schon rollten wir in den Innenhof eines alten Palazzos. Mit seinen rötlich-braunen Backsteinwänden und den weißen Fenster- und Tür-rahmen, dem groben, ebenfalls rötlich-braunen, in planvollem Muster angeordneten Ziegelboden sowie dem reich verzierten steinernen Brunnen wirkte das Anwesen eher venezianisch als römisch. Eine Treppe mit weißen Trittsteinen führte im rechten Winkel hinauf zum Haupteingang der eigentlichen, nach vorne hin von weißen Marmorsäulen getragenen Wohnetage. Unter der Treppenschräge passten sich drei unterschiedlich hohe Bögen im Renaissance-Stil ein, in deren Schatten ein kleiner Gang mit zwei groben Holzbänken zu erkennen war. Von Pflanzen oder Tieren keine Spur. Hier also wohnte die Donna – oder sollte ich sagen: hier versteckte sie sich? Als das Tor donnernd ins Schloss fiel, musste ich unwillkürlich an ein Fallbeil denken.

„So düstere Gedanken, Edoardo?“ Oben, auf dem großzügigen Treppenabsatz stand sie, beide Hände auf der weißen Balustrade. Die Donna trug ein cremefarbenes Kleid mit tiefem Ausschnitt, die langen schwarzen Haare fielen in dicken Strähnen beinahe unbändig nach vorne. Ihr Anblick verschlug mir den Atem. Ich sah mich um, doch der Fahrer war bereits verschwunden.

„Meinen Sie mich, Signora?“, fragte ich unsicher zurück.

„Na, wen denn sonst? Mein Name ist Dany, erinnerst du dich? Wenn wir zusammen arbeiten wollen, müssen wir uns vertrauen. Wer mich malt, muss mir nahe sein. Ein Freund werden. Ich weiß, wir kennen uns nicht. Und doch ist es, als würden wir.“

„Aber mein Name ist nicht Edoardo, Signora… Dany…“

„Können wir das drinnen klären?“ Mit einer ungeduldigen Geste richtete sich die Donna auf und verschwand im Gebäude. Da ich meine Tasche nirgendwo erblickte, durfte ich annehmen, dass der Fahrer sie bereits hineingetragen hatte. Also stieg ich die Stufen des Palazzos hoch und begab mich, so fühlte ich es, in mein Schicksal.

 

Kapitel 6

 Wie merkwürdig still es hier war. Ich hätte schwören können, mitten im ewig lauten Rom zu sein. So lange waren wir nicht gefahren. In meinem, jetzt leider unerreichbaren, Geldbeutel steckte die Visitenkarte der Donna mit der Adresse. Ich hatte sie mir nicht eigens eingeprägt, erinnerte mich aber, von einem Ort im engeren Stadtgebiet Roms gelesen zu haben. Oder spielte mir mein Gedächtnis einen Streich? Kein Motorenlärm, keine Stimmen, nicht das kleinste Rascheln drang an meine Ohren, als ich die Treppe zur Wohnung der Donna hochstieg.

„Es hat lange gedauert, sehr lange sogar…“

Die Stimme kam aus dem Dunkel des erstaunlich kühlen Raumes, den ich soeben betrat, meine Augen brauchten einen Moment. Wenig später erkannte ich die ersten Umrisse: einen kargen Raum mit nichts als einem langen, schweren Eichentisch und je zwei matt leuchtenden Lampen an den grob verputzten, dunkelrot getünchten Wänden. Von draußen fiel kaum Licht herein. Die Donna reichte mir einen altmodischen Kelch aus aufwändig verziertem Glas, der erstaunlich schwer war und eine fast schwarze Flüssigkeit enthielt.

„Mein guter alter Freund und Diener Agostino, du hast ihn bereits auf der Fahrt kennengelernt, hat lange gesucht, bis er diesen Palazzo gefunden hat. Da, wo ich herkomme, liebt man es kühl und zurückgezogen. Umso erstaunlicher, dass es diesen Flecken mitten in Rom gibt, noch dazu zu einem solchen Spottpreis. Der Vorbesitzer konnte das Anwesen gar nicht schnell genug verkaufen, hat allen Ernstes behauptet, hier würde es spuken.“

Ich musste lächeln. Woanders hätte man daraus eine touristische Attraktion gemacht, dachte ich, aber so war Rom nicht. Der Vatikan als spiritueller Ort musste reichen.

„Jetzt heiße ich dich erstmal willkommen in meinem bescheidenen Domizil!“

Die Donna prostete mir mit einem süffisanten Lächeln zu, ließ ihr Glas aber gleich wieder sinken. Ich schnupperte an meinem und war augenblicklich beseelt von den wilden Aromen. Der Geruch feuchter Wiesen, von torfig-süßem Seewasser, der Duft unzähliger Blüten und Kräuter – all die längst vergessen geglaubten Ein-drücke drangen wieder in meine Seele, wie oft hatte ich versucht, diese einzigartige Stimmung, die Landschaft meiner Jugend auf Leinwand zu bannen. Ich konnte nicht anders, ich musste von dem Wein kosten.

„So ist es recht.“

Die Donna war näher gekommen, ihre schwarzen Augen blickten direkt in meine, als sie sanft meine rechte Hand umfing und ihr mit einer geschickten Bewegung das Glas entwand.

„Fürs erste nicht zu viel, Edoardo, du musst dich daran gewöhnen. Deine Seele ist momentan noch nicht darauf eingestellt. Keine Angst, sie wird es, denn sie ist stark, das weiß ich. Und jetzt komm!“

Die Donna nahm erneut meine Hand und zog mich sanft zur Tür am anderen Ende des Tisches.

„Es wird dir an nichts fehlen, mein Lieber, wir werden es uns in meinem Kaminzimmer bequem machen, Agostino hat eine Kleinigkeit zubereitet, und dann erzählst du mir alles von dir.“

Wir betraten einen etwas kleineren, gemütlich eingerichteten Raum. Zwei große, aber stilvolle Sessel standen wie einander zugetan auf einem schweren Perserteppich gegenüber einem großen Kamin, in dem man gut und gerne einen Ochsen grillen konnte. Nicht aber über den drei, vier Holzscheiten, die offenbar nur der Stimmung wegen darin brannten. Der Feuerschein tauchte den ebenfalls recht spärlich beleuchteten Raum in ein mild flackerndes Licht. Erst jetzt erkannte ich die Bilder an den Wänden, allesamt mir unbekannte Werke in mittlerer Größe – außer… Ich erschrak, als ich das großformatige, eichenholzumrahmte Bild an der hohen Wand über dem Kamin erblickte.

„Ich hätte dich vorwarnen sollen, mein Lieber, aber der Wein hat dich vielleicht schon ein wenig darauf vorbereitet. Ja, das Gemälde ist von dir! Ein echter Edoardo, dein Frühwerk. Ich habe es von einem Bekannten in München erstanden.“

„Aber wie konnten Sie…“

Ich rang um Fassung, mir war plötzlich eiskalt geworden, ich begann zu zittern.

„Noch einmal, ich heiße Dany, und du sollst dich bei mir wohlfühlen. Du musst keine Angst haben.“ Die Donna legte eine Hand auf meine krampfhaft vor dem Körper verschränkten Arme.

„Dieses Bild habe ich entdeckt, als ich bei einem Bekannten in München war. Bei ihm hing es ebenfalls über dem Kamin. Vom ersten Augenblick an hat es mich fasziniert, mehr noch: Es hat meine Seele erfasst und sie nicht mehr losgelassen. Vor mir stand die Landschaft meiner Heimat, meiner Jugend.“

„Ihrer Jugend?“ Ich schnappte nach Luft. Die Donna sah mich prüfend an, tätschelte mir beruhigend den Arm und nickte.

„Meinem Bekannten blieb die Wirkung deines Bildes nicht verborgen und als ich ihn fragte, ob er es hergeben würde, lehnte er zunächst ab. Ich merkte jedoch schnell, dass es ihm darum ging, den Preis nach oben zu treiben. Wenn ich ihn dir nennen würde, würdest du noch blasser werden als jetzt schon.“

Damit ließ sie mich los und deutete auf den Sessel links von uns. Noch etwas benommen und ohne den Blick von meinem Bild abzuwenden, setzte ich mich. Die Donna tat es mir gleich.

„Greif bitte zu und nimm auch von dem Wasser, es kommt aus dem alten Brunnen im Innenhof, von tief unten, aus den reinen Schichten der Erde – und es ist köstlich.“

Sie nahm ihr Glas und trank einen Schluck. Das Wasser schmeckte tatsächlich hervorragend und erfrischte mich augenblicklich. Auf dem runden Glastisch vor uns standen kleine Keramikteller mit verschiedenen Antipasti. Ich spürte, wie mir der Magen knurrte und griff nach einem Teller mit gegrilltem Gemüse. Die Donna quittierte das mit einem zufriedenen Lächeln und schenkte uns einen kühlen Weißwein aus einer bunt verzierten Karaffe ein. Ich trank und aß beinahe gierig, während die Donna nur an ihrem Weinglas nippte und das Essen nicht anrührte.

Weil ich immer aufs neue mein Bild betrachten musste und langsam auch die Erinnerung zurück-kam an jene Sommernacht, in der ein gelber Mond mitten über dem tiefblauen See aufging, mit seinem Schein das glitzernde Wasser wie ein bizarres Schwert durchschnitt, die Wiese mit dem niedrigen Ginster voll kleiner ebenso gelber Blüten mal giftgrün, mal dunkelblau bis fast schwarz erscheinen ließ und verschieden große Findlinge wie blanke, beinahe fleischfarbene Schädel aus dem schlammig-schwarzen Ufersaum ragten – weil ich also immer wieder dieses Bild ansehen musste, hatte ich bald alle Teller geleert, was ich ebenso verdutzt wie beschämt realisierte, und was meine Gastgeberin, die mich keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, mit einem herzhaften Lachen quittierte. Mein Gott, war diese Frau schön! Ich hatte zwar einen ordentlichen Schwips, aber diese Donna war über jeden Rausch erhaben. Madonna!

 

Kapitel 7

Der Alkohol löste meine Zunge. Doch anders als sonst bei übermäßigem Weingenuss war mein Verstand erstaunlich frisch und klar. Gefangen zwischen zwei magischen Anblicken, meinem Bild über dem Kamin und der schönen Frau neben mir, begann ich von mir zu erzählen. Dabei hatte die Donna gar nicht danach gefragt. Musste sie auch nicht. Sie brauchte mich nur ansehen und es war, als ob ich sie genau verstand – als ob wir nur über unsere Gedanken kommunizierten. Konnte das sein? Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich wirklich geredet habe oder nur gedacht.

Die Donna verfolgte jedes meiner Worte aufmerksam, ließ mich keinen Moment aus den Augen. Nur als ich mir wieder von ihrem köstlichen Wein einschenken wollte, gebot sie mir Einhalt. Ihr strenger Blick ging mir durch und durch. Doch die Donna lächelte bald wieder, bedeutete mir, mit meiner Erzählung fortzufahren. Nie zuvor hatte ich mich einem Menschen so aufrichtig und so vollständig anvertraut. Was geschah hier nur mit mir? Was war mit dieser Frau? Ich hatte plötzlich das Gefühl, als wäre sie mir von Anbeginn meines Lebens vertraut, dann wiederum ergriff mich eine leise Furcht vor ihr, vor ihrer spürbaren, beinahe lauernden Macht. Und doch konnte ich nicht aufhören, von mir zu erzählen, von meinen Träumen, meiner tiefen Sehnsucht nach dem reinen Gefühl, dem vollkommenem Aufgehen – in was?

Selbst meine geheimste Phantasie war ich bereit preiszugeben, den erotischen Traum meiner Kindheit, in dem ich mich vollständig nackt und schutzlos auf einer feuchten Wiese liegend fand. Wasser leckte an mir, ich lag nah am Ufer eines Sees. Und ich war nicht allein: Unweit von mir stand eine nackte Frau bis zum Bauch im seichten Wasser, umhüllt von Nebel, der dicht auf der Wasseroberfläche um ihren makellosen Körper waberte, ihn streichelte. Als die Frau ihre Arme hob und in meine Richtung reckte, zogen Schwaden von Nebel zu mir herüber, berührten mich sanft an meinen empfindlichsten Stellen, wickelten sich wie zarte Bänder um meine Hüfte. Während ich erwachte, erschütterte mich der erste Orgasmus meines Lebens, ein ungeheures Glücksgefühl, ein Beben zwischen Körper und Seele, sinnlich und überirdisch zugleich. Fortan versuchte ich diesem Ausnahmezustand auf jede erdenkliche Weise nachzuspüren, übte mich in frühreifen Stimulationen, um nur ein ums andere Mal zu scheitern und einsam zu verzweifeln.

Weil ich mich niemandem anvertrauen konnte, steigerte ich mich in eine wahre Psychose hinein, glaubte fest, ein kranker Junge zu sein, ein absonderlicher Mensch. So trug ich mein Geheimnis wie eine schwere Bürde durchs Leben, bis mich eines Tages mein pubertierender Cousin bei einer Übernachtung in meinem Zimmer erlöste, als er mir zeigte, wie man sich selbstbefriedigte. Ich gab mich schamhaft, ließ ihm dankbar seine Illusion, mir in diesen Dingen überlegen zu sein und freute mich unendlich, dass sich meine vermeintliche Abartigkeit als harmlose und völlig normale Entwicklung entpuppte. Doch selbst als mein heimliches Treiben zu immer heftigeren Ergüssen führte und später meine Liebesspiele mit Frauen mir ungleich schönere Empfindungen bescherten, blieb ich unersättlich, träumte ich dem einen Glückszustand hinterher. Denn nie wieder empfand ich einen Höhepunkt so vollkommen wie in diesem einen Kindheitstraum.

Als ich geendet hatte, war ich wie gelähmt vor Erschöpfung. Ein leichter Kopfschmerz pochte gegen meine Schläfen. Offensichtlich blieb auch dieser gute Wein nicht ohne Nebenwirkungen. Die Donna sah mich noch lange schweigend an, wandte sich schließlich meinem Bild zu.

„Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?“, fragte sie mit einer undurchdringlichen Miene. Selbst in einsamen und traurigen Momenten, von denen es bisher in meinem Leben zum Glück nicht viele gab, dachte ich darüber kaum nach. Ich ahnte, dass man sich in solchen Gedanken verlieren konnte. Ich war zu jung, zu lebenslustig, um mich damit zu beschäftigen. Der Tod war ein Thema für alte Menschen, mir selbst schien er unendlich weit weg zu sein. Was also sollte ich mit dieser Frage anfangen?

„Dein Bild hier zeugt von einer empfindsamen Seele, du weißt womöglich gar nicht um deinen Schatz. Nur wenige haben ihn. Ein Glück, dass ich ihn – dass ich dich – wiedergefunden habe…“

Wiedergefunden? Schon wieder so eine Andeutung. War diese Frau vielleicht verrückt, hatte sie einen lieben Menschen verloren, war sie einsam? Offenbar war sie ebenso vermögend wie schön, hatte nicht nur Geld, sondern auch Charisma. Von allem genug, um sich Menschen gefügig zu machen. Vielleicht wollte sie von mir weitaus mehr als ihr „Auftrag“ für das Porträt vermuten ließ, vielleicht kaufte sie sich Männer für einsame Stunden. Ich verwarf den Gedanken gleich wieder. Diese Frau, das spürte ich, hatte ein Geheimnis, das weitaus größer war als alles, was ich mir in meiner kleinen Gedankenwelt zusammen-reimte.

Die Donna erhob sich, streckte mir ihre Hand entgegen.

„Es ist soweit. Jetzt, lieber Edoardo, wirst du auch mich kennenlernen. Fang an, mich zu malen. Ich verspreche dir, es wird ein unvergessliches Erlebnis werden. Das, was du mit mir vollbringst, wird alle deine bisherigen Werke in den Schatten stellen. Komm!“

 

Kapitel 8

Was nun folgte, fällt mir schwer zu beschreiben. Zum einen, weil ich mich nicht an alles genau erinnere und womöglich falsch rekonstruiere, wofür ich meine Leser um Verzeihung bitte. Zum anderen, weil mich die Geschichte auch nach all den Jahren noch so sehr mitnimmt, dass ich mich immer wieder zu größtmöglicher Sachlichkeit ermahnen muss, was mir mehr oder weniger gelungen sein mag – für letzteres möchte ich mich vorsorglich ebenfalls entschuldigen.

Es war schon der Moment, als die Donna meine Hand umfasste. Pures Begehren durchströmte meine Adern, augenblicklich wurde mir heiß. Während sie mich zur nächsten Tür zog, schaute sie mich neckisch an, dabei wanderte ihr Blick an mir herunter und ließ ihren sinnlichen Mund lächeln.

„Wir werden uns für alles genügend Zeit nehmen, liebster Edoardo! Es wird uns an nichts fehlen.“ Sie öffnete die Tür und wir betraten einen größeren, von unzähligen Kerzen hell erleuchteten Raum in dezentem Rosa. Alle Möbel waren cremeweiß, doch außer einem Schminktisch mit großem Spiegel, einer Vase mit rosafarbenen Blumen und einem Ledersessel auf der einen Seite befand sich weiter nicht mehr darin als ein großes ovales Bett, bedeckt mit Lammfellen und zahl-reichen weißen, rosa- und goldfarbenen Kissen auf der anderen. In einem Kamin an der seit-lichen Wand brannte ein dezentes Feuer. Etwas weiter an derselben Wand stand eine Tür offen, hinter der ich ein hell erleuchtetes Badezimmer erkennen konnte.

„Im Bad findest du alles, um dich frisch zu machen. Auch einen Bademantel. Ich lasse deine Sachen inzwischen reinigen. Agostino hat mir erzählt, was dir widerfahren ist.“

„So, hat er das?“, fragte ich bitter. Ich hatte mich wieder etwas gefangen und spürte Unmut in mir aufsteigen.

„Ich habe ihn gar nicht mehr gesehen, diesen Agostino. Apropos: Wo sind eigentlich meine Malutensilien?“

„Kein Grund, unhöflich zu werden, Edoardo, es ist alles in bester Ordnung. Schau, hier sind deine Sachen.“

Erst jetzt sah ich meine ramponierte Tasche, sie befand sich auf einer Kofferablage, wie ich sie aus Hotels kannte, unterhalb des großen Fensters, das von außen vollständig verdunkelt war. Wie spät mochte es sein? Sicher war es schon Nacht. Mit einem Mal fühlte ich mich schlecht, eine tiefe Einsamkeit erfasste mich, ich begann zu zittern.

„Was ist mit dir, Edoardo?“

Die Donna schien sich ernstlich Sorgen zu machen.

„Wenn du nicht willst, können wir das Ganze jetzt und hier abbrechen. Wir vergessen das alles und es ist, als wären wir uns nie begegnet. Ein Wort von dir – “

„Nein!“

Ich konnte es kaum glauben: Meine Stimme war so laut und schneidend, dass die Donna erschrocken zusammenfuhr.

„Ich kann. Und ich will… “, kam es leiser aus mir und ich machte Anstalten, ins Bad zu gehen. Ich wollte diese Frau nicht enttäuschen. Das hatte sie nicht verdient. Was hatte ich mich denn zu beklagen? Nun gut, sie war der seltsamste Mensch, dem ich je zuvor begegnet war, der schönste auch, und sie war unheimlich. Aber sie war höflich, hatte mich auf keine Weise bedrängt oder zu etwas gezwungen. Ich konnte jederzeit gehen oder etwa nicht? Doch warum sollte ich, es ging mir gut bei ihr, so gut wie selten in meinem Leben. Und irgendwie war ich auch gespannt, wie es weiter-gehen würde – mit uns…

Trotzdem schloss ich die Badezimmertür ab. Die warme Dusche tat mir gut, ich ließ den weichen Wasserstrahl überall hin und fast bereute ich es, abgeschlossen zu haben, wünschte ich mir die Donna nun doch bei mir. Kaum hatte ich diesen Gedanken realisiert, drang ihre Stimme in meinen Kopf, ein zartes Nein – wieso Nein? Ich sah an mir herunter, erkannte, dass ich beinahe automatisch angefangen hatte, mich zu stimulieren. Sofort ließ ich los, verschämt. Ich drehte die Hähne auf „kalt“, hielt es aber nicht lange aus. Das Handtuch duftete nach wilden Kräutern mit einem Hauch von feuchter Erde. Schon wieder erschien vor meinem inneren Auge die Landschaft meiner Jugend. Wie oft hatte ich diesen einen See gemalt, zu allen Tages- und Nachtzeiten, zu jeder Jahreszeit. Verrückt! Eines dieser Bilder besaß nun die Donna.

Wahrscheinlich hatte sie sogar noch mehr. Seit heute war ich mir jedenfalls sicher, dass der Schauplatz meines erotischen Kindheitstraums genau dieser Ort war, die Wiese vor dem See. Dabei hatte ich die Stelle erst Jahre später für mich entdeckt. Vielleicht nicht ohne Zufall. Und vielleicht zog es mich deshalb immer wieder dorthin – voller Sehnsucht und bereit für etwas, das ich bis heute nicht wieder erleben durfte: die vollkommene Glückseligkeit. Womöglich sah die Donna genau das in meinem Bild, meine nach Erfüllung suchende Seele…

Während ich den Bademantel anzog – er passte mir genau – kam mir ein berauschender Gedanke: Wenn die Donna die Frau aus meinem Traum war – und daran zweifelte ich jetzt kaum noch – würde ich bei ihr womöglich die Erfüllung finden, nach der ich mich seit damals so sehr sehnte? Je länger ich darüber nachdachte, desto zwingender erschien mir der Zusammenhang. Und desto unmöglicher wurde es, das Bad zu verlassen, ohne mich, nun ja, zu exponieren. Ich musste unwillkürlich lachen und wartete noch einen Moment.

Als ich schließlich das Bad verließ, war ich mir sicher: Das alles war kein Zufall. Ich war Teil eines großen Plans und hatte offenbar eine zentrale Rolle darin. Die Frage war nur, ob es ein göttlicher oder ein teuflischer Plan war. Und wenn schon, ich konnte und wollte nicht mehr zurück. Ich wollte die Donna. Um jeden Preis.

 

Kapitel 9

Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber das nicht: In der kurzen Zeit meines Aufenthalts im Bad hatte sich das Zimmer verändert. Als ob ich eine Zeitreise gemacht hätte. Ich starrte auf das Bett, das jetzt nicht mehr jene moderne Ellipse war, die ich vorhin noch gesehen hatte. Vor mir erstreckte sich ein großes Himmelbett, dessen weiße Schleier vom Knoten an der Decke bis zum Boden reichten. Flackerndes Licht umgab die gesamte Silhouette des Bettes, im Hintergrund mussten mehrere Dutzend Kerzen brennen. Ich blickte mich um. Der Schminktisch sah antiker aus als vorhin, eine Waschschüssel stand seitlich auf einem Tischchen. Die war vorhin auch noch nicht da gewesen, da war ich mir sicher. Ich war versucht, ins Bad zurückzugehen, um nachzusehen, ob es sich ebenfalls verwandelt hatte. Doch dann sah ich verblüfft, dass es die Tür nicht mehr gab. Auch der Kamin war verschwunden und einem altmodischen Ofen gewichen. Jetzt bemerkte ich einen Schatten hinter dem Schleier, der sich nun öffnete. Die Donna!

Auch sie war wie verwandelt. Langes üppiges Haar ergoss sich über einen Gutteil ihres Oberkörpers. Als sie den Vorhang weiter öffnete und dem Bett entstieg, sah ich, dass sie vollkommen nackt war. Nackt und schön! Makellos schön. Die Donna blieb vor dem Schleier stehen, warf ihr Haar nach hinten, hob den rechten Arm, winkelte ihn hinter dem Kopf an und schlang ihre Hand in den Vorhangstoff, der linke Arm zeigte spiegelbildlich nach unten, die Hand an ihrem Po – beide Arme bildeten so eine schlangengleiche Ellipse, die halb in dem Schleier hinter der Frau verschwand. Auf diese Weise drückte sich ihr Körper mit zwei perfekt geformten Brüsten nach vorne. Ihren Kopf, auf dem ihr Haar ganz oben feuerrot schimmerte, hatte die Donna frivol nach hinten geworfen, so sah sie mich an, wortlos, sinnlich und bezaubernd schön.

Wie hypnotisiert starrte ich die Szene vor mir an. Schon wieder dieses Bild! Warum tat sie das? Sie posierte wie die Frau in meinem nächtlichen Traum, bevor ich mich zu der Donna begeben hatte und wegen meiner überraschenden Erkenntnis im Bus Ärger bekam. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Das hier war die „Madonna“ von Edvard Munch. Täuschend echt. Aber nicht als Bild, sondern als Mensch aus Fleisch und Blut! Hatte ich bisher nur eine Vermutung, schien sie jetzt Gewissheit zu werden. Unfertige Gedanken rasten mir durch den Kopf, überschlugen sich, mir wurde schwindelig. War die Donna die Madonna von Munch? Anders gefragt: War sie die Frau, die dem norwegischen Maler damals Modell stand? Sie musste lange tot sein, genauso wie Munch selbst.

Wie konnte das hier also sein? War ich etwa, was der veränderte Raum schon nahelegte, in die Vergangenheit gereist? War diese Frau eine Wiedergängerin oder nur eine Verrückte, die sich in eine abgedrehte Rolle hineinsteigerte? Ich rief mich innerlich zur Vernunft. Der ganze spirituelle Kram war noch nie meine Sache gewesen. Zugegeben, die Ereignisse waren hochgradig verwirrend, aber für das alles gab es bestimmt eine natürliche, eine vernünftige Erklärung.

„Edoardo!“

Die Stimme der Donna hatte sich verändert, sie klang tiefer, wirkte auf eine mir angenehme Art „verrucht“. Überhaupt nahm mich diese Frau noch mehr gefangen als sie es zuvor schon getan hatte. Sie hatte eine geradezu magnetische Wirkung auf mich, die ganze Szenerie wirkte so anziehend, so magisch, so… sakral.

„Edoardo! Lass uns bitte keine Zeit mehr verlieren. Du musst endlich anfangen zu malen!“

Ihre Stimme war herrisch geworden, hatte einen ungeduldigen und zugleich flehenden Unterton. Erst jetzt sah ich neben mir meine Staffelei, darauf hochkant eine große Leinwand, auf einem Tisch daneben Palette, Pinsel, Farben. Alles war fachmännisch gerichtet worden. Ein großer, viel-armiger Leuchter mit brennenden Kerzen stand so, dass ich genügend Licht hatte, um zu arbeiten. Selbst an einen Hocker und ein kleines Podest hatte man hier gedacht. Warum war mir das alles vorhin nicht aufgefallen? Ich erblickte ein Stück Kohle auf dem Tisch, wie aufmerksam! Diener Agostino war offensichtlich ein guter Mann.

„Edoardo, bitte! Du musst ab jetzt ganz bei dir sein, es gibt nur noch ein Ziel für dich. Für uns. Ich verspreche dir, es wird wunderschön. Wir werden endlich für immer zusammen sein.“

Noch immer verharrte die Donna in ihrer Pose, spielte neckisch mit dem federleichten Vorhang hinter ihr und sah mich aus großen, abgrundtief schwarzen Augen an. Ihre tiefroten, vollen Lippen hatten einen feuchten Glanz, sie waren so sinnlich, dass ich meinen Blick nicht abwenden konnte. Alles in mir verlangte danach, diese Lippen zu küssen.

„Später, Edoardo. Später… “

Wie in Trance nahm ich das Stück Kohle. Dann ging alles wie von selbst. Schon nach wenigen Strichen war das Bildnis der Donna angelegt. Alles war bereits darin, grob zwar, aber es musste nur noch entfaltet und mit Leben gefüllt werden. Mit Leben? Ich spürte meinen Gefühlen nach. Seltsam! Zum ersten Mal seit ich malte, kam es mir so vor, als ob ich nicht nur ein Kunstwerk schüfe, sondern weit mehr. Was hier entstand, war kein Bildnis, das war ein Akt. Aber hier geschah ein Schöpfungsakt von viel größerer Dimension: hier entstand Leben! Noch hatte ich nur eine Ahnung, doch ich war überwältigt von ihr, von der großartigen Perspektive. Endlich würde ich meine Erfüllung finden und die Vollkommenheit erreichen, nach der ich so lange gesucht hatte.

Die Farben! Jetzt die Farben! Es würde ein Fest werden. Ich zitterte vor Erregung.

„Ja, Edoardo, ja!“ Auch die Donna schien jetzt erregt zu sein, begann sich zu bewegen, rhythmisch, ihre Arme schlängelten gleichmäßig hinter ihrem Körper auf und ab, langsam, beschwörend, ihre Hüften wiegten sich im Takt dazu – die Choreographie einer Bauchtänzerin, geschmeidig, sinnlich, lüstern. Wie Salomé, dachte ich. Oder hörte ich es sie sagen? Ich konnte nicht mehr klar denken, meine Erregung machte mich langsam aber sicher verrückt. Dany, was machst du mit mir? Meine Gefühle brausten auf wie ein Gewittersturm nach großer Hitze, verdrängten den letzten klaren Gedanken. Während die Donna tanzte, ihren Körper schlängelte, ihre Lippen leicht öffnete, mischte ich hektisch Farben, trug sie wie ein Verrückter auf die Leinwand auf, jeder Handgriff saß, jeder Strich war auf faszinierende Weise perfekt.

Es war, als entstünde das Bild ganz von selbst. Anders konnte es auch nicht sein, denn mein gieriger Blick war die ganze Zeit auf diese unfassbar schöne Frau gerichtet. So von Sinnen war ich, dass ich erst gar nicht bemerkte, wie ich mit jedem Pinselstrich kraftloser wurde. Das vertraute Gefühl von damals am See. Doch jetzt verspürte ich zusätzlich einen leichten Sog, er wurde rasch stärker, nahm in dem Maße zu wie das Bild seiner Vollendung entgegenstrebte. Um die Donna herum hatte sich eine Aura gebildet, sie pulsierte in einer Farbe, die ich noch nie gesehen hatte, begann zu wirbeln. Der Sog wurde stärker, zog meinen Körper sanft, aber immer mächtiger in ihre Richtung, schälte meinen nackten Leib aus dem Bademantel wie eine reife Frucht aus ihrer Schale.

„Komm Edoardo! Komm ganz zu mir!“

Das Wirbeln hatte jäh geendet, war vollkommener Stille gewichen. In diesem Moment spürte ich wieder die feuchte Wiese unter meinem nackten Körper, das überirdisch schöne Gefühl in meinem Unterleib keimte auf, plötzlich war ich wieder das träumende Kind, ich roch den See, sah die Nebelschwaden über dem Wasser, bemerkte erregt die Fesseln, leichter Stoff schlang sich klebrig wie feine Spinnweben um meine Hüfte, um Arme und Beine, zogen mich ins Innere des Himmelbetts. Da lag die Donna! Ihr makelloser Körper wirkte größer, glänzte verführerisch im Licht der Kerzen.

„Komm! Komm zu mir!“

Die schönste Frau der Welt war bereit, mich aufzunehmen. Ich spürte ihre Hände auf meinem Po, sie zogen mich hinein, ihre Lippen öffneten sich, ich wollte sie endlich küssen, doch ihr Mund öffnete sich immer weiter, ich verlor meinen Halt, begann zu versinken und während mich ihre Lippen feucht und warm umschlossen, mich weiter einsaugten, explodierten meine Sinne zu einem Rausch noch nie verspürter Wonne. Wehrlos vor Glück gab ich mich hin, ließ mich lustvoll zitternd mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele, verschlingen.

Doch noch während ich mich vollends verlor, hörte ich in weiter Ferne einen Schuss.

 

Kapitel 10

 Ein Schrei weckte mich. Direkt neben mir verhallte ein lauter Knall, erlosch ein roter Blitz, alles versank wieder in tiefe Nacht. Das nächste, was ich wahrnahm, war, dass mich jemand packte und umdrehte, gefolgt von einem lauten Seufzer.

„Daalu Chineke! Daalu! Du lebst!“

Jemand strich mir über mein Haar.

„Ein Glück, du lebst! Ich dachte, du wärst tot.“ Der, von dem die Stimme kam, schlug mir nun mehrmals leicht auf die Wange.

„Komm, mein Freund, wach auf!“

Verschwommen nahm ich wahr, dass sich jemand über mich beugte. Ich blinzelte angestrengt und langsam wurde das Bild klarer. Farouk!

Was war passiert? War ich auf dem Künstler-markt zusammengebrochen? Farouk hob meinen Kopf etwas an, ich spürte Wasser an meinen Lippen, öffnete sie, ließ mehr hinein, trank gierig und verschluckte mich. Farouk setzte die Wasserflasche ab.

„Ruhig, mein Freund, nicht so hastig. Warte noch einen Moment, ruh dich kurz aus.“

Farouk hatte recht, ich war so müde, dass mir die Augen immer wieder zufielen, mein Körper fühlte sich an, als wäre er aus Blei. Farouk goss etwas Wasser über meine Stirn und mein Haar. Ich erschrak und öffnete mühsam wieder die Augen. Über mir war immer noch das sorgenvolle Gesicht Farouks. Mein Freund Farouk war hier…

„Was… Was ist passiert? Bin ich ohnmächtig geworden?“

„Das kannst du laut sagen, mein Freund.“, sagte Farouk. „Du warst es schon, als ich dich fand. Ich dachte, du wärst tot, Mann!“

Mein Gehirn kam wieder in Gang, doch so sehr ich mich bemühte, ich konnte mich nicht erinnern, was passiert war. Da war diese Frau, sie hatte mich an meinem Stand besucht. Mehr fiel mir nicht ein.

„Farouk, was ist denn passiert? Wo bin ich?“

„Warte, mein Freund. Hier: Ich lege dir das unter den Kopf. Bleib bitte ruhig liegen. Ich muss Hilfe holen. Kann ich dich alleine lassen?“ Farouk war bereits im Begriff aufzustehen.

„Ja, ja, geh nur. Ich bin ja wach. Und schwer verletzt bin ich offensichtlich auch nicht.“

„Rühr dich nicht vom Fleck!“

Farouk gab mir einen freundschaftlichen Boxhieb gegen die Schulter und weg war er.

Verdammter Afrikaner! Ich konnte schon wieder lächeln. Ihr Buschläufer seid einfach immer schneller. Auf jeden Fall zu schnell für mich. Farouk grinste jedes Mal, wenn ich solche Scherze mit ihm machte, er fühlte sich sogar geschmeichelt. Ein paarmal hatte mein Freund an mir seine Geschicklichkeit beim Hütchenspiel getestet. Und obwohl er, wie er sagte, schon so langsam wie eine Schnecke war, machte ich keinen Stich.

Langsam kamen die Lebensgeister zurück. Ich konnte mich vorsichtig aufsetzen. Mein Kopf hatte auf einem zusammengeknüllten, schmutzig-grauen Ballen Stoff gelegen. Offenbar stammte er von einem Vorhang. Ich lehnte mich gegen die Wand und sah mich neugierig um. Wo, um Himmels willen, war ich hier? Ich befand mich in einem ziemlich dunklen, recht großen Raum. Er war vollkommen heruntergekommen, überall waren Löcher in den Wänden, die ramponierten Fußbodenfliesen übersät von verbrannten Holz-stücken und Zigarettenkippen. Außer nach kaltem Rauch roch es auch modrig. Vermutlich hatte dieser Raum schon Obdachlosen als Unterkunft gedient. Bestimmt gab es hier Ratten.

Kaum hatte ich daran gedacht, sah ich auch schon eine vorbeihuschen. Angeekelt folgte ich ihrer Richtung und erkannte eine Tür. Vorsichtig versuchte ich aufzustehen, sank aber gleich wieder wie ein Stein zurück. Was hatte mir nur derartig die Kraft geraubt? Beim dritten Versuch gelang es mir, mich hinzuknien, wackelig zwar, aber als ich mich dabei gegen die Wand lehnte, kam ich endlich auf die Beine. Meine Neugier war stärker als die Versuchung, liegen zu bleiben und die Augen zu schließen. Noch immer war ich hundemüde.

Langsam, Schritt für Schritt, und immer an der Wand entlang erreichte ich kurzatmig die Stirnseite des Raumes, an der sich ein Ausgang befand. Eine Tür gab es nicht mehr. Nach kurzem Zögern verließ ich den kahlen Raum und gelangte in ein weiteres, kleineres Zimmer. Es kam mir bekannt vor, obwohl auch dieser Raum vollkommen leer war und nur wenig Licht herein fiel. Jetzt bemerkte ich auch das schmale, hohe Fenster – oder vielmehr dessen Öffnung. Sie war nur noch von einem Fensterladen verschlossen, der so brüchig war, dass ich nur wenig Kraft brauchte, um ihn auszuschlagen. Gleißendes Sonnenlicht blendete meine Augen, ließ mich rückwärts taumeln, fast wäre ich der Länge nach hingefallen. Ich wandte meinen Blick vom Fenster ab und brauchte eine Weile, um wieder etwas zu erkennen. Auf die Wand vor mir fiel helles Tageslicht. Der Anblick ließ mich erstarren.

Über einer verfallenen Kaminöffnung hing ein Bild. Selbst durch die dicke Staubschicht erkannte ich es mühelos: Das hier war mein Bild! Ich bekam weiche Knie, sank langsam zu Boden. Auf einen Schlag kamen alle Erinnerungen zurück, überwältigten mich mit einer Flut von Eindrücken, Bildern, Worten und Gerüchen. Mit einem Mal wusste ich wieder, was passiert war. Doch die Schockwellen tief aus meinem Gedächtnis raubten mir erneut das Bewusstsein.

„Hey Mann, was machst du denn, mein Freund?“ Farouk war zurück, hinter ihm betraten zwei Sanitäter mit Trage den Raum. Bereitwillig ließ ich mich medizinisch versorgen und abtransportieren. Mein Freund begleitete mich im Rettungswagen. Die Infusion und was immer ich sonst noch bekommen hatte wirkten schnell, bald war ich hellwach, so wach, dass ich ungeduldig wurde und Farouk erzählte, an was ich mich erinnerte. Und obwohl der Rettungswagen schaukelte wie ein Schiff in Seenot, hörte mir mein Freund gebannt zu, sein Ohr nah an meinem Mund wie ein Seelsorger. Ich wollte nicht, dass der Sanitäter, der etwas abseits vor seinen Geräten saß und gelangweilt nach draußen starrte, etwas mitbekam. Je mehr mein treuer Afrikaner hörte, desto größer wurden seine Augen.

Das Ende verschwieg ich meinem Freund, gab vor, mich nicht mehr erinnern zu können, Farouk bemerkte meine aufgewühlte Stimmungslage nicht oder er schob sie auf die Medikamente. Jedenfalls sprang er dankbar ein, berichtete reumütig, wie er sich an meine Fersen geheftet hatte, mich schließlich aufgespürt und bewusstlos in dem verfallenen Palazzo aufgefunden hatte. Ich forderte ihn auf, leiser zu sprechen, was ihm nur mit Mühe gelang. Er schien erleichtert, endlich erzählen zu können.

„Mein lieber Freund, bitte verzeih mir. Ich gebe es nur ungern zu, aber ich war eifersüchtig auf dich. Du warst so ein Glückspilz und ich war so neidisch. Ich weiß auch nicht warum, aber ich konnte nicht einfach da sitzen, deinen leeren Stand neben mir, und mir immer wieder vorstellen, wie du zu dieser… dieser unglaublichen Frau gehst. Mich hielt es nicht auf der Piazza. Die Adresse hatte ich ja gesehen, also lief ich durch halb Rom. Nicht nur einmal nannte ich mich einen Esel und drehte um. Doch die Eifersucht war stärker, vielleicht war es auch die Sehnsucht, das Verlangen, diese Frau wiederzusehen.“

„Du hast dich in sie verliebt?“ Ich war ehrlich erstaunt – und verärgert.

„Du etwa nicht?“ Farouk wirkte empört.

„Eine solche Frau nicht zu lieben, geht doch gar nicht. Es ist eine Schande. Der ganze Künstler-markt sprach am nächsten Tag noch von der Donna.“

„Nenn sie nicht so!“, brauste ich auf und biss mir gleich auf die Zunge. Farouk erschrak.

„Bitte verzeih! Ich wollte dich nicht anfahren.“, gab ich mich gleich wieder versöhnlich. Doch Farouk sah mich misstrauisch an. Ich bedeutete ihm, wieder näher zu kommen, um leiser sprechen zu können. Der Sanitäter hatte kurz hergesehen, drehte den Kopf aber schon wieder zu den rückwärtigen Fenstern.

„Du bist mein Freund und ich möchte, dass das auch so bleibt. Ja, sie war eine besondere Frau, ein ganz besonderer Mensch, fast überirdisch. Bitte sieh es mir nach, aber ich habe sie auf eine Weise erlebt, die ich noch nicht begreifen kann. Und ich habe sie verloren. Wenn ich darüber reden kann, wirst du der Erste sein, der den Rest der Geschichte hört. Auch wenn ich mir über vieles noch klar werden muss, eines weiß ich: Ich werde diese Frau nie wiedersehen! Auch du, mein Freund, wirst sie nie wieder sehen. Hier in Rom nicht und auch nicht anderswo.“

Ich atmete geräuschvoll aus. Wer weiß das schon, dachte ich, und mein Herz verkrampfte.

Wohin war die Donna verschwunden? Wie konnte es sein, dass ich in dieser Ruine lag? Hatte ich womöglich doch eine Zeitreise gemacht? Der Gedanke widerstrebte mir. Aber für einen Traum waren die Folgen – und die Erinnerungen – zu handfest. Wahrscheinlich war ich einfach nur verschleppt worden…

Als könnte Farouk meine Gedanken lesen, bestürmte er mich mit Fragen, die ich ihm allesamt nicht beantworten konnte – und wollte. Er schaute finster, ganz offensichtlich glaubte er mir nicht. Er tat mir leid, doch ich wusste ja selber nicht, was passiert war, wo die Frau hin war und warum ich in dem verlassenen Gebäude lag, das jenem ähnelte, in dem mich die Donna empfangen hatte. Und dann war da ja der Raum mit meinem Bild, der Vorhangstoff, der mir als provisorische Kopfstütze diente… Es war zum Verzweifeln, zumal für einen logisch denkenden Menschen wie mich. Der Rettungswagen hielt an und die Türen gingen auf. Unser Gespräch war beendet – ebenso unsere Freundschaft.

Epilog

 Viele Jahre hatte ich gebraucht, das Erlebte zu verarbeiten – um genau zu sein: ein halbes Jahrhundert. Ich musste erst alt und hinfällig werden, um diese Geschichte in allen Einzelheiten und für die Nachwelt erzählen zu können. Inzwischen geht das 21. Jahrhundert schon auf seine Mitte zu. Viele Entwicklungen begreife ich nicht mehr, sehe nur die unheilvollen Folgen. Unser Leben ist alles andere als sicherer geworden, konsumgieriger Egoismus und ängstliche Teilnahmslosigkeit haben jede soziale Ethik verdrängt und die Technik, die dem Menschen eigentlich dienen sollte, richtet sich mehr denn je gegen ihn selbst. Dabei hat jeder von uns noch einen Schlüssel zur Glückseligkeit, doch die meisten haben ihn verlegt: die Liebe.

Meinen Freund Farouk habe ich nie wieder gesehen. Als ich einen Tag später aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schlich ich mich spätabends zu meiner Piazza, wo sich zu diesem Zeitpunkt sicher kein Künstlerkollege mehr aufhielt. Im Schutz der Dunkelheit nahm ich die letzten persönlichen Dinge aus meinem Stand und entsorgte den Rest. Ich hinterließ keine Nachricht. Natürlich würde Farouk enttäuscht sein. Ich hatte ihn nicht nur um den Lohn seiner Rettungsaktion gebracht. Ich habe ihn auch mit all seinen berechtigten Fragen alleine gelassen. Aber ich konnte nicht anders, denn ich kam doch selber nicht damit zurecht. Obwohl ich lebte, überlebte, war mein Leben nicht mehr das, was es vorher war. Ich hatte keine Träume mehr, keinen Mut und keine Liebe. Die Donna hatte mir wohl doch alles genommen.

Wie oft dachte ich in den Jahren, nach meiner überstürzten Flucht aus Rom und meiner Rückkehr nach München, ich hätte sie gesehen – mal an einer Straßenecke, mal im Theater oder in den Pinakotheken. Bis heute träume ich von ihr, trauernd, nicht mehr lüstern. Die Bilder verblassten mit der Zeit, genauso wie meine erotischen Gefühle, denen ich seit damals nie wieder nachgejagt war.

Gemalt habe ich seither auch nicht mehr, der Verbleib meiner Werke war mir egal. Ich nahm an, dass das Bild meines Lebens, das lebendige Bildnis der Donna, „meiner Madonna“, verschollen war – wenn es überhaupt je existiert hatte. Mithilfe meiner alten Beziehungen bekam ich einen Job in einem privaten Kunstmuseum, brachte es sogar zum Direktor, was mir wieder Reisen quer durch Europa ermöglichte. Nur in Oslo bestürmten mich noch einmal die Erinnerungen. Ich ließ es zu, mehr noch: In den Museen konfrontierte ich mich bewusst mit den Bildern Munchs, erkannte sogar einiges darin, besonders in seinen Naturbildern, die mir von meiner eigenen Malerei vertraut waren. Frappierend ist sogar die Ähnlichkeit meiner Bilder vom See mit der „Sommernacht am Meeresstrand“. War ich womöglich doch eine Wiedergeburt dieses großen Malers? Und hatte diese mysteriöse Frau genau das erkannt, weil sie eine Wiedergängerin ihrer selbst war, der Freundin Munchs? Da ich auch nach meiner unglaublichen Geschichte nicht anfälliger geworden war für Fantastereien, neigte ich eher zu der Ansicht, dass ich Munchs Naturgemälde schon in frühen Jahren unbewusst zum Vorbild genommen hatte, wo auch immer ich darauf gestoßen war. Die Donna mochte zufällig auch eine Vorliebe für den Maler haben, wenn auch vielleicht bewusster als ich.

Gleichwohl ließen mir die Parallelen keine Ruhe und so durchstöberte ich die Archive, ließ mir ganze Zeitungsausschnitte und Aufsätze übersetzen, um wenigstens die Ereignisse rund um Munchs „Madonna“, eine Frau namens Dagny Juel, zu verstehen, die es kurz vor der Jahrhundertwende sogar nach Berlin gezogen hatte, wo sie offenbar zur Muse der skandinavischen Studenten wurde, unter ihnen eben Edvard Munch und August Strindberg. War August etwa Agostino, der Diener der Donna? Zu meiner Überraschung sah dieser dem echten Strindberg auf den Schwarzweiß-Fotos ähnlich. Auch von Munch und Dagny gab es Fotografien, doch keine zeigte die Frau so, wie Edvard Munch sie gemalt hatte. Dagny – Dany, eine weitere Ähnlichkeit, zugegeben. Und sie nannte mich Edoardo…

Doch wer auch immer die Donna war: Warum gab sie ausgerechnet mir die Aufgabe, sie an diesem magischen Ort – der Ewigen Stadt – zu neuem, ewigen Leben zu erwecken? Nicht allein durch meine künstlerischen Schaffenskraft, sondern, mehr noch, um den Preis meines eigenen Lebens? Selbst wenn alles nur ein Traum gewesen war und das subjektiv Erlebte physikalisch unmöglich, kam es einer Metamorphose in der Natur sehr nahe: Während die Donna neu geboren wurde – als was oder wer auch immer – vollzog sich mit mir parallel das Gegenteil einer Geburt. Nein, kein Sterben, aber mein Leben für das Leben der Frau, genommen von der Frau selbst – und aufgehoben in ihr. Hätte ich an eine Seele nicht nur als Künstlermotiv geglaubt, so hätte ich angenommen, dass sich unsere Seelen vereinigt hätten.

Was war schief gegangen? Warum kam es nicht so weit? Ich hatte diesen Schuss gehört, erstmals in meiner Studentenbude, im Auslauf meines seltsamen Traumes. In Oslo las ich, wie das Leben Dagnys mit nicht einmal 34 Jahren endete. In einem Hotel in Tiflis, erschossen von ihrem eifersüchtigen Krakauer Liebhaber, im Jahre 1901. Hatte sich gut 80 Jahre später die Geschichte wiederholt? Oder war es gar der treue Diener Agostino? Wäre er wirklich der wieder-geborene Dichter Strindberg gewesen, hätte er allen Grund gehabt, auf mich, den vermeintlichen Munch, eifersüchtig zu sein. Oder war es am Ende sogar mein Freund Farouk? War er der neue eifersüchtige Liebhaber, der das Schicksal der Angebeteten erneut besiegelte? War er da, wo immer ich gewesen war, wusste er womöglich doch alles? Und blieb er deswegen bis heute verschwunden? Andererseits hatte ich selber nicht mehr ernsthaft nach ihm gesucht…

Ach, was wusste ich schon? Und was nützte das ganze Grübeln? Je mehr ich las, je mehr ich darüber nachdachte und das alles mit meiner Geschichte abzugleichen versuchte, desto mehr verstrickte ich mich in Widersprüche, verlor ich mich nur allzu bereitwillig in unzulässigen Ergänzungen, offenkundigen Mutmaßungen und mutmaßlichen Halbwahrheiten. Auf meiner Rückreise nach München war ich endlich bereit, meine ganze Geschichte nur noch als Traum, wenn auch als einen besonders intensiven zu betrachten, eine Neuauflage meines Kindheitstraums. Phantasien einer jungen, ungestümen und nach dem höchsten Grad der Libido drängenden Künstlerseele in der Sturm- und Drang-Phase seines Lebens. Immerhin war ich mir in einem Punkt inzwischen sehr sicher: Mit den realen Personen der Zeitgeschichte hatte meine Lebensgeschichte nichts zu tun. Umgekehrt wird ein Schuh draus: Wie gerne hätte ich in der Zeit Munchs, Strindbergs und ihrer Muse Dagny Juel gelebt und gemalt…

Die weiteren Entwicklungen in meinem Leben halfen mir, mich mit dieser doch sehr vernünftigen Erklärung zu arrangieren. Ich lernte eine Frau kennen, die zu mir passte. Für Kinder war es zu spät, aber nicht für ein behagliches Leben zu zweit. Wir zogen an den Starnberger See, wo wir das Haus meiner inzwischen verstorbenen Eltern renovierten, und genossen ein zurückgezogenes und auskömmliches Leben an einem schönen Flecken Erde. Nun ist es auch damit vorbei: Meine Frau ist vor wenigen Wochen gestorben und auch ich spüre, wie mein Lebensmut schwindet. Wer weiß, vielleicht werde ich mich bald wie ein alter Indianer zum Sterben an meinen See begeben. Vielleicht wird Nebel über dem Wasser stehen. Und vielleicht zieht er mich dann hinein – zieht sie, die namenlose Schöne, mich hinein. Nimmt mich zu sich.

Dann, meine Liebe, du Liebe meines Lebens, werde ich endlich bereit sein.