Widerhall

Er musste sich zwingen wegzusehen, doch er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr wenden. Sie sah ihr so ähnlich, jener Frau, die er sich immer erträumt hatte, die er geträumt hatte, fast war es, als würde ein Traum wahr, mehr noch: als hätte er diese Frau selbst erschaffen. Nur, warum erwiderte sie seine Blicke nicht, spürte sie denn nicht dieses Band zwischen ihnen – ein Band, das vielleicht schon immer da war?

Der Wirt löschte bereits das Licht der kleinen Küche hinter dem Tresen. Der Mann an dem Tisch im verschwiegenen Winkel der kleinen Stube war der letzte Gast, er hatte den ganzen Abend bloß an einem Glas Wasser genuckelt und winkte nun dem Wirt für die Rechnung. Der machte nur eine abfällige Handbewegung. „Geht aufs Haus. Gute Nacht, wir schließen jetzt.“
Der Mann erhob sich postwendend, nickte dem Wirt etwas schuldbewusst zu und verließ das Lokal, ohne die Frau noch einmal gesehen zu haben. Draußen biss die kalte Luft sofort zu, ließ ihn augenblicklich frösteln. Mit zitternden Händen knöpfte er seinen Mantel zu. Was hatte ihn eigentlich hierher, an diesen einsamen Ort am Waldrand, verschlagen. Er konnte sich immer noch nicht erinnern, betrachtete nachdenklich die an beiden Knien zerrissene Hose und die Schmutzflecken auf seinem Mantel. Obwohl er damit sofort auffiel, hatte ihn im Wirtshaus niemand angesprochen. Auch nicht, als ihm unwillkürlich eine Träne über die Wange gelaufen war. Aber bis auf ein verhuschtes, älteres Paar, das nach dem Essen gleich wieder gegangen war, hatte sich kein weiterer Gast mehr hierher verirrt. Der Wirt hatte ein paarmal verstohlen zu ihm hergesehen, das hatte der Mann wohl bemerkt, sich aber nichts anmerken lassen. Wo war die Frau geblieben?

Das Geräusch einer zugeschlagenen Tür schreckte ihn auf. Im Haus war es dunkel geworden, nur die Außenbeleuchtung ließ einen Lichtkegel in den Hof fallen. Dort hinein trat jetzt die Frau. Diese Frau. Wie eine Schauspielerin im Scheinwerferlicht der Bühne stand sie da, schaute ihn einfach nur an, ohne besondere Regung, gleichgültig. Er starrte auf sie, war wie gelähmt. Sie öffnete ihren Mund: „Nachts sind alle Katzen grau, so sagt man. Alles ist grau. Gleich geht das Licht aus.“
„Und wo ist dann noch Licht? Wo sind wir hier?“, fragte der Mann und starrte die Frau unverwandt an.
„Die Menschen nehmen manchmal seltsame Wege, mal gehen sie sie bewusst, mal schubst sie der Weg einfach irgendwohin. Meistens merkt es keiner. Ziele sind auch nur Zufälle.“ Sie setzte sich in Bewegung, ging auf den schmalen Waldweg zu, auf das dunkle Loch zwischen hohen Bäumen.
„Wohin gehen Sie? Führt der Weg denn irgendwohin? Darf ich Sie begleiten?“ Der Mann zögerte noch, folgte ihr dann aber, holte sie ein und ging an ihrer Seite. Die Frau schien das selbstverständlich zu finden, ihr Schritt war gleichmäßig, gelassen, selbstbewusst.
„Die Welt ist aus dem Gleichgewicht.“, fuhr sie mit monotoner Stimme fort. „Noch merken wir nichts davon, aber es gibt zu viele Fragen und zu wenige Antworten. Fragen, die nicht beantwortet werden, erzeugen Echos, immer wieder, immer mehr. Solange sie auf keine Antworten treffen, werden sie immer lauter, immer schwerer. Bis die Welt kippt.“

Das letzte Wort brachte ihn aus dem Tritt, er stolperte, konnte sich gerade noch auffangen. Die Frau beachtete ihn nicht. Unverwandt setzte sie ihren Weg fort – und ihren Monolog: „Seelen sind empfindlich, nicht nur die der Toten, auch die von uns Lebenden. Sie sind wie Äolsharfen, durch die der Wind fährt. Nur dass es die Echos sind, die sie schwingen lassen. Die Seelen sind schwach, sie können sich nicht wehren, haben keine eigene Stimme und so verstärken sie nur den ewigen Strom des Widerhalls, die Kakophonie der untergehenden Welt.“
Der Mann erschrak. Was war mit dieser Frau? Sie wurde ihm unheimlich, je länger sie sprach. Sie war nicht mehr die Frau aus seinen Träumen, wirkte jetzt nicht mehr vertraut. Sie war eine Fremde. Was tat er hier mit ihr, wie kam er hierher? Und warum war es hier im Wald so still, so grabesstill?
„Wenn die Welt untergeht, wird sie dafür sorgen, dass niemand ihr dabei zusieht. Kein Lebewesen wird mehr sein, wenn auch sie stirbt. Kein Zeuge. Die Zeit wird einfach aufhören, wird mit dem Raum zusammenfallen. Alles wird eins, alles wird nichts.“

Hilflos ging der Mann weiter neben der Frau her, die wie im Fieberwahn weiterredete. Ihr Gesicht verriet keine Regung, ihre Arme hingen schlaff am Körper, während sie wie an einer Schnur gezogen weiterging. Den laubbedeckten Weg entlang, immer tiefer in den Wald hinein. Dann fiel ein dünner Lichtstrahl auf ihren Mund. Sie öffnete ihn, weiter und immer weiter, ihr Gesicht verzerrte sich. Der Lichtstrahl wurde stärker, schien in ihren Mund zu stoßen wie ein Schwert. Der Mann nahm instinktiv Abstand von der Frau. Ihr ganzer Körper fing an zu leuchten, eine giftgrüne Aura erfasste ihren Leib, strahlte immer heller, drohte langsam auch den Mann zu erfassen. Hastig rannte er ein Stück in den Wald, als ihn die Frau ein weiteres Mal überraschte. Sie schrie, ihre Stimme war so laut, dass er sich die Ohren zuhalten musste, ihr Schreien hielt an, begann zu pulsieren, es war, als ob es von immer mehr Echos überlagert wurde. Das Spektrum verbreiterte sich, geriet immer tiefer und zugleich immer höher. Der Mann hielt es nicht mehr aus, sein Körper bebte, er warf sich in das nasse Laub, wälzte sich unter Schmerzen, dann nahm er allen Mut zusammen, sprang auf und trat die Flucht nach vorne an.

Als er auf den Weg zurückfand, kam es ihm so vor, als ob dieser plötzlich unter ihm wegkippte, immer schneller wurde sein Lauf. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er jetzt nicht mehr anhalten können, ohne zu fallen und sich zu verletzten. Die Schreie der Frau verfolgten ihn immer noch, doch allmählich wurden sie schwächer. Ebenso wie das Licht, in dessen Nähe er keineswegs geraten wollte. Auch der Weg schien sich zu beruhigen, so empfand er es. Als ob er lebte, dachte er, wie eine Schlange, auf deren Rücken er lief, während sie sich selbst schlängelnd vorwärts bewegte und jetzt langsamer wurde. Die Erkenntnis kam mit ungeahnter Wucht. Kaum dass er den Gedanken richtig fasste, erschien vor ihm der überdimensionale Kopf einer Schlange. Mit weit aufgerissenem Schlund schnappte sie nach ihm. Er stürzte, fiel ins Bodenlose, ihm wurde schwarz vor Augen.

Als er erwachte, lag er keine hundert Meter von einem Wirtshaus entfernt. Sein Körper schlotterte – vor Angst, vielleicht auch wegen der klammen Herbstkälte. Wie lange hatte er hier gelegen? Vorsichtig stand er auf, spürte in sich hinein. Weh tat ihm nichts, aber seine Hose war an den Knien aufgerissen und sein Wollmantel war mit Schmutzflecken übersät. Er musste unbedingt ins Warme, erst einmal in Sicherheit, sich dann sortieren. Während er auf das Wirtshaus zulief und seinen Mantel notdürftig abklopfte, dachte er angestrengt nach. Wie, zum Teufel, war er hierher gekommen? Alle Erinnerung war weg, er wusste nicht, was zuvor geschehen war, wusste nicht einmal, wer er war. Mit zitternden Händen umklammerte er den Türgriff und schob die schwere Holztür auf. Ein Schwall abgestandener, nach kaltem Rauch, Essen und Alkohol riechender Luft schlug ihm entgegen. Völlig entkräftet wankte er auf einen einsamen Tisch in der Ecke zu und ließ sich erleichtert auf dem Stuhl nieder.

Der Mann brauchte einen Moment, dann zog er seinen Mantel aus und legte ihn über den Stuhl neben sich. Verstohlen blickte er sich um. Die Wirtsstube war klein, hatte nur sechs Tische. Außer ihm saß nur noch ein älteres Paar in dem Lokal, beide sahen abwechselnd immer wieder verstohlen zu ihm herüber. Er ließ es geschehen, wendete seinen Blick ab. An der Wand tickte eine alte Uhr – die Zeiger standen auf sechs Minuten nach Sechs. Der Abend eines Tages, an den er sich nur für Minuten erinnern konnte, der wirre Moment in einem Leben, das er vergessen hatte. Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu, er kämpfte mit den Tränen, als er im Augenwinkel die Schürze des Wirts wahrnahm und aufblickte. Der weißhaarige Mann mit dem teigigen Gesicht und der Knollennase schaute ihn stumm an. Seine Augen wirkten teilnahmslos, aber irgendwie auch gefährlich. Wie die eines Hais. Mit zitternder Stimme bestellte er ein Glas Wasser. Der Wirt brummte und brachte es ihm ein paar Sekunden später. Der Mann nahm einen großen Schluck und fühlte sich sofort besser. Ob er was essen sollte? Hunger verspürte er nicht. Er tastete seine Hosentaschen ab, dann untersuchte er die Taschen seines Mantels – nichts. Doch, da war was! Er griff noch einmal in seine linke vordere Hosentasche und holte ein paar Münzen hervor. Na also, immerhin sechs Euro, damit konnte er sein Getränk bezahlen, sogar ein zweites nehmen. Aber vielleicht war es besser, noch etwas übrig zu behalten. Wer weiß, wozu er es noch gebrauchen konnte, so hilflos wie er sich fühlte.

Während er noch haderte und weiter angestrengt darüber nachdachte, wer er war und was ihm widerfahren sein mochte, regte sich etwas in der Küche. Er konnte einen Teil von ihr einsehen, weil die Tür hinter dem Tresen offen stand. Dann erblickte er sie! Ein Moment wie Magie. Kannte er diese Frau? Es schien ihm so. Sie war mit der Zubereitung des Essens beschäftigt und hatte offenbar keinen Blick für ihn. Aber gesehen hatte sie ihn, oder nicht? Sollten sie sich kennen, würde sie sicher auf ihn zukommen, ihn grüßen, irgendwas tun. Doch sie schien ihn zu ignorieren. Einmal blickte sie in den Gastraum, beiläufig, ohne Ziel, um sich doch gleich wieder dem Kochen zuzuwenden. Kein Erkennen. Der Mann dagegen konnte sich nicht sattsehen. Spürte sie es denn nicht, ihn nicht? Er war sich jetzt sicher, diese Frau zu kennen. Wie sie sich bewegte, das Essen servierte, die Küche putzte. Kein Zweifel, er kannte diese Frau. Er hatte sie geträumt, ja, geträumt. Sie war seine Traumfrau. Sie war…

In der Küche erlosch das Licht.

©Martin Bensen